Leitsatz (amtlich)
Wurde ein Urteil eines FG wegen der Nichtzulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO angefochten und ergeht erst nach dem Eingang der Nichtzulassungsbeschwerde ein Urteil des BFH, aus dem sich eine Abweichung zu dem angefochtenen Urteil des FG ergibt, so ist die Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 3 FGO zuzulassen.
Normenkette
FGO § 115 Abs. 2-3
Tatbestand
Für die Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) reichte die X e. V. am 30. April 1970 bei dem für die Klägerin örtlich unzuständigen Finanzamt A einen auf den Nachnahmen der Klägerin lautenden amtlichen Vordruck für den Lohnsteuer-Jahresausgleich 1969 ein, den die Klägerin nicht unterschrieben hatte. In dem Vordruck war verwiesen auf einen formlosen von der Klägerin unterschriebenen Antrag: "Hiermit beantrage ich unter Bezugnahme auf den § 150 der AO meinen Lohnsteuer-Jahresausgleich 1969. Die Unterlagen werden möglichst nachgereicht." Nach Weiterleitung an das zuständige Finanzamt B (den Beklagten und Beschwerdeführer - FA -) lehnte dieses den Antrag mit der Begründung ab, der Antrag sei unausgefüllt und nicht unterschrieben. Nachdem ein weiterer als Nachtrag gekennzeichneter Antrag der Klägerin auf Lohnsteuer-Jahresausgleich, der am 29. Mai 1970 zunächst wiederum bei dem unzuständigen Finanzamt A eingereicht worden war, beim FA B eingegangen war, teilte dieses der Klägerin mit Verfügung vom 2. Juli 1970 mit, der als Nachantrag bezeichnete Antrag sei erst im Juni 1970, nach Ablauf der gesetzlichen Abgabefrist, eingegangen. Einem Nachantrag müsse grundsätzlich ein Erstantrag vorausgehen. Ein solcher Erstantrag liege jedoch bisher nicht vor. Die Bearbeitung des Antrags werde wegen verspäteten Eingangs abgelehnt. Zur Begründung der Einspruchsentscheidung wurde ausgeführt, die Ablehnung sei erfolgt, weil auf dem zuerst gestellten Antrag nicht zu erkennen gewesen sei, worauf die Klägerin ihren Erstattungsantrag gründe. Anträge, die nur zur Fristwahrung gestellt würden, stellten einen Versuch dar, die gesetzlichen Antragsfristen zu umgehen. Auch gelte der Antrag wegen der fehlenden Unterschrift als nicht gestellt. Der zweite Antrag sei verspätet eingegangen. Sein Inhalt könne infolge Fehlens eines ordnungs- und fristgemäßen Antrages auch nicht als Einspruchsbegründung angesehen werden.
Die Klage hatte Erfolg. Das FG hob den Bescheid über den Lohnsteuer-Jahresausgleich 1969 vom 2. Juli 1970 und die Einspruchsentscheidung auf. Das FG war der Auffassung, daß der Antrag der Klägerin vom 30. April 1970 die erforderlichen Voraussetzungen für einen Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich erfülle und der "Nachtrag" als Begründung des formlos gestellten Antrags anzusehen sei. Das FA habe über den am 12. Juni 1970 eingegangenen Einspruch gegen den ersten ablehnenden Bescheid vom 10. Juni 1970 noch zu entscheiden. Der am 30. April 1970 eingegangene Antrag sei als wirksamer Antrag gemäß § 4 Abs. 1 JAV anzusehen; dem stehe nicht entgegen, daß der Antrag formlos gestellt und die Begründung nicht vor Ablauf der Frist am 30. April 1970 eingereicht worden sei. Ein "Antrag" gemäß § 4 Abs. 1 JAV liege vor, wenn erkennbar sei, wer erstattungsberechtigt sei und daß eine Erstattung im Wege des Lohnsteuer-Jahresausgleichs für ein bestimmtes Jahr begehrt werde. Ein solcher fristgerecht gestellter Antrag könne durch weitere später geltend gemachte Einzelheiten ergänzt werden.
Zur Begründung der fristgerecht eingelegten Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision macht das FA geltend, die Rechtssache sei von grundlegender Bedeutung. Die Frage, welche inhaltlichen Anforderungen an einen fristgemäß gestellten Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich zu stellen seien, sei von erheblicher praktischer Bedeutung. In jedem Jahr würden Institutionen, z. B. Lohnsteuerberatungsvereine, versuchen, zur Wahrung der Ausschlußfrist des § 4 Abs. 5 JAV formlose bzw. blanko gelassene Anträge auf Durchführung des Lohnsteuer-Jahresausgleichs zu stellen. Die eigentlichen Anträge mit den notwendigen Einzelangaben sowie die erforderlichen Unterlagen, insbesondere die Lohnsteuerkarte, würden erst später, nach Ablauf der Ausschlußfrist nachgereicht.
Entscheidungsgründe
Auf die Beschwerde des FA wird die Revision zugelassen.
Das FA hat sich zur Begründung seiner Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache deshalb berufen, weil über die Streitfrage bisher höchstrichterlich noch nicht entschieden worden sei. Nach der Rechtsprechung des BFH kommt eine grundsätzliche Bedeutung nur dann in Betracht, wenn die Streitfrage auch für eine Reihe anderer gleichgelagerter Fälle bedeutungsvoll ist und noch keine abschließende Klärung gefunden hat. Das war hier bei Einlegung der Beschwerde der Fall. Inzwischen hat der Senat im Urteil vom 15. März 1974 VI R 108/71 (BStBl II 1974, 590) allerdings entschieden, daß ein Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich nur dann rechtzeitig gestellt ist, wenn der Arbeitnehmer dem FA innerhalb der Ausschlußfrist des § 4 Abs. 5 JAV nicht nur die erforderlichen Personalangaben gemacht, sondern auch seinen Bruttoarbeitslohn und die einbehaltene Lohnsteuer mitgeteilt hat. Nach den vom FG im Streitfall im Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen hat der Erstattungsantrag der Klägerin diesen Mindestanforderungen nicht entsprochen. Wenn das FG trotzdem von dem Vorliegen eines wirksamen Antrages i. S. des § 4 Abs. 1 JAV ausgegangen ist, obwohl der Antrag formlos gestellt und seine Begründung nicht bis zum 30. April 1970 eingereicht worden war, so weicht das Urteil von dem Urteil des BFH VI R 108/71 ab und beruht auf dieser Abweichung.
Im Beschluß vom 19. Dezember 1973 VI B 105/73 (BFHE 111, 396, BStBl II 1974, 321) hat der Senat ausgeführt, daß eine Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO nach den Verhältnissen im Zeitpunkt der Entscheidung über die Beschwerde zu beurteilen sei. Damals brauchte der Senat nicht darüber zu entscheiden, ob die Revision wegen Divergenz zuzulassen wäre, weil das mit der Beschwerde angefochtene Urteil des FG sachlich mit dem später ergangenen Urteil des BFH im Einklang stand. Die vorliegende Streitsache beruht aber gerade auf der Divergenz zu dem Urteil VI R 108/71 und zwingt zu einer Entscheidung, ob die Nichtzulassungsbeschwerde des FA, die lediglich auf die grundsätzliche Bedeutung i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 und nicht auf eine Divergenz i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO gestützt ist, den BFH berechtigt, die Revision zuzulassen. Nach § 115 Abs. 3 Satz 3 FGO muß in der Beschwerdeschrift ausdrücklich der Beschwerdegrund, der gemäß den in § 115 Abs. 2 FGO zugelassenen Voraussetzungen die Beschwerde rechtfertigen soll, dargelegt werden. Im Fall der Divergenz ist darzulegen, von welcher Entscheidung des BFH das Urteil des FG abweicht, und daß es auf dieser Abweichung beruht. Eine solche Darlegung ist dem Beschwerdeführer aber nur möglich, wenn er innerhalb der Ausschlußfrist von einem Monat nach Zustellung des finanzgerichtlichen Urteils von dem Ergehen eines divergierenden BFH-Urteils Kenntnis hat. Das BVerwG hat im Beschluß vom 24. Mai 1965 III B 10/65 (HFR 1966, 196) die Revision wegen Divergenz gemäß der dem § 115 FGO insoweit entsprechenden Vorschrift des § 132 der VwGO in einem Fall zugelassen, in dem das abweichende Urteil des BVerwG erst nach dem Eingang der Nichtzulassungsbeschwerde ergangen war. Es hat sich für seine Entscheidung insbesondere darauf berufen, daß die Zulassungsgründe der Nr. 1 und Nr. 2 (grundsätzliche Bedeutung und Divergenzrevision) gemeinsam dem Ziel dienen, die Rechtseinheit zu wahren. Der erkennende Senat folgt im Ergebnis der Entscheidung des BVerwG, die sich auch auf das angeführte Schrifttum beruft. Für eine solche Beurteilung hat sich auch Nissen in der Besprechung zu dem Beschluß des Senats VI B 105/73 (Deutsche Steuer-Zeitung, Ausgabe A 1974 S. 208) ausgesprochen.
Der Senat ist der Auffassung, daß eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift des § 115 Abs. 3 Satz 3 FGO eine Darlegung der Abweichung des finanzgerichtlichen Urteils von einem Urteil des BFH innerhalb der Monatsfrist nach Zustellung des FG-Urteils jedenfalls dann nicht erforderlich ist, wenn das BFH-Urteil erst so spät veröffentlicht oder bekanntgeworden ist, daß der Beschwerdeführer sich auf die Divergenz nicht mehr berufen konnte. Offenbar war dieser Gesichtspunkt nicht in das Blickfeld des Gesetzgebers der FGO getreten. Bei der Auslegung der Vorschrift ist einer solchen der Vorzug zu geben, die dem ausgedrückten Sinnzusammenhang des Gesetzeszwecks am besten entspricht (vgl. BFH-Urteil vom 28. April 1970 II 56/65, BFHE 99, 255, BStBl II 1970, 597). Soweit der Wortlaut des Gesetzes Zweifelsfragen aufwirft, muß das Gericht sie nach der Systematik und der Gesetzesgeschichte beantworten (Urteil vom 7. April 1967 VI 294/65, BFHE 89, 130 [134], BStBl III 1967, 559). Wollte der Senat im Streitfall auf der Darlegungspflicht beharren und das divergierende Urteil rechtskräftig werden lassen, könnte dies zu einer Störung des Rechtsfriedens führen. Auf der Hand liegt, daß das Urteil des FG auf der Divergenz beruht.
Fundstellen
Haufe-Index 70663 |
BStBl II 1974, 583 |
BFHE 1974, 342 |