Entscheidungsstichwort (Thema)
Bezeichnung der Divergenz; Rüge der Versagung des rechtlichen Gehörs (Überraschungsentscheidung des FG)
Leitsatz (NV)
- Für eine ordnungsgemäße Divergenzrüge darf sich der vom FG beurteilte Sachverhalt nicht in einer so bedeutenden und wesentlichen Weise von demjenigen der Divergenzentscheidung unterscheiden, dass der Sachverhalt des FG nicht als durch die Divergenzentscheidung "mitentschieden" angesehen werden kann.
- Das Recht auf Gehör erfordert keine umfassende Erörterung aller Rechtsprobleme durch das FG, vor allem wenn dies auf eine Vorwegnahme des Urteils überhaupt hinausliefe.
Normenkette
FGO § 115 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 S. 3
Gründe
Das Urteil des Finanzgerichts (FG) wurde der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) am 13. Oktober 2000 zugestellt. Die Zulässigkeit und Begründetheit der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision beurteilt sich daher noch nach § 115 der Finanzgerichtsordnung in der bis 31. Dezember 2000 geltenden Fassung (FGO a.F.).
Die Beschwerde ist jedenfalls unbegründet.
1. Die gerügte Abweichung des angefochtenen Urteils von der Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 6. März 1980 IV R 160/77 (BFHE 130, 214, BStBl II 1980, 418) ist nicht gegeben.
Eine Abweichung i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO a.F. liegt nur vor, wenn das FG in einer Rechtsfrage eine andere Auffassung als der BFH vertreten hat. Eine abweichende Beurteilung von Tatsachen oder Unterschiede in der Sachverhaltswürdigung genügen nicht. Das FG muss seiner Entscheidung vielmehr eine rechtliche Erwägung (Rechtssatz) zugrunde gelegt haben, die mit einem ebenfalls tragenden Rechtssatz einer Entscheidung des BFH nicht übereinstimmt (ständige Rechtsprechung, s. Senatsbeschluss vom 27. April 1999 III B 43/98, BFH/NV 1999, 1477, m.w.N.). Zudem müssen die Divergenzentscheidung des BFH und das Urteil des FG zu gleichen, vergleichbaren oder gleichgelagerten Sachverhalten ergangen sein (BFH-Beschlüsse vom 9. Dezember 1997 I B 99/97, BFH/NV 1998, 685, und vom 11. Dezember 1992 III B 28/91, BFH/NV 1993, 610, ständige Rechtsprechung). Kernfrage des Streitfalles ist, ob für eine im Zuge der Erweiterung einer Betriebsstätte im ehemaligen Zonenrandgebiet vorgenommene Ersatzinvestition auf den Altbestand ―hier die ersatzweise Anschaffung eines Sattelzuges― nach § 1 Abs. 1 des Investitionszulagengesetzes 1986 (InvZulG 1986) eine Zulage gewährt werden kann. Mit dieser Kernfrage bzw. mit einem vergleichbaren Sachverhalt hat sich der BFH in dem vom Kläger zur Begründung der Divergenz herangezogenen Urteil in BFHE 130, 214, BStBl II 1980, 418 nicht befasst. Diese Entscheidung ist vielmehr zu der Frage ergangen, ob die Finanzbehörden das ihnen nach § 3 des Zonenrandförderungsgesetzes (ZRFG) eingeräumte Ermessen überschreiten, wenn sie die Gewährung von Sonderabschreibungen von Voraussetzungen abhängig machen, die im Gesetz selbst nicht genannt sind. In diesem Zusammenhang hat der BFH festgestellt, dass ein Ermessensfehler nicht gegeben sei, wenn die Begünstigung ersatzweise angeschaffter Kraftfahrzeuge abgelehnt werde.
Im Streitfall kommt hinzu, dass die Divergenzentscheidung vom FG allenfalls zur Unterstützung seiner bereits anderweitig (mit dem Wortlaut, dem Normenzusammenhang sowie dem Sinn und Zweck des Gesetzes) begründeten Auffassung herangezogen wurde. Das Urteil des FG könnte daher nicht auf dieser Abweichung, sollte sie überhaupt gegeben sein, beruhen (s. hierzu z.B. den BFH-Beschluss vom 1. Oktober 1997 X B 89/96, BFH/NV 1998, 473, sowie Ruban in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 115 Anm. 21, m.w.N.).
2. Ohne Erfolg beruft sich die Klägerin auch auf eine Verletzung ihres Rechts auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes ―GG―, § 96 Abs. 2 FGO).
Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend, nachdem von ihrem Prozessbevollmächtigten unter Bezugnahme auf das vom FG in den Prozess eingeführten Urteils des FG München vom 4. Dezember 1988 XI 417/82 nochmals der kapazitätserweiternde Charakter der Investitionsmaßnahme substantiiert und mit einem Beweisantrag verbunden dargelegt worden sei, habe das FG in der mündlichen Verhandlung das vorgenannte Urteil zwar erneut angesprochen, ohne jedoch zugleich auf die Möglichkeit einer zu ihren Lasten wirkenden Abweichung von der dort vertretenen Auffassung hinzuweisen. Es handle sich insoweit um ein Überraschungsurteil.
Diese Rüge greift nicht durch. Ein Verstoß gegen das Verbot der Überraschungsentscheidung kommt in Betracht, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht (vgl. § 155 FGO i.V.m. § 278 Abs. 3 der Zivilprozeßordnung) und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der auch ein kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte (Beschluss des BFH vom 19. Juli 1996 VIII B 37/95, BFH/NV 1997, 124). Ein Verfahrensbeteiligter darf auch nicht mit einer Tatsachenwürdigung überrascht werden, die von keiner Seite als möglich vorausgesehen werden konnte (BFH in BFH/NV 1997, 124, m.w.N.). Jedoch ist das Gericht unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs nicht verpflichtet, seine Rechtsauffassung und seine tatsächlichen Schlussfolgerungen vorab zu erörtern, zumal sich diese regelmäßig erst nach der mündlichen Verhandlung aufgrund der abschließenden Beratung ergeben werden (vgl. Gräber/Koch, a.a.O., § 93 Anm. 3).
Die Klägerin hatte im Verlauf des finanzgerichtlichen Verfahrens ausreichend Gelegenheit, zu der Frage der Förderungswürdigkeit von kapazitätserweiternden Ersatzinvestitionen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht Stellung zu nehmen. Die Klägerin trägt selbst vor, dass die damit einhergehenden Rechtsfragen in den vorbereitenden Schriftsätzen und in der mündlichen Verhandlung erörtert worden seien. Einer Erörterung, die auf eine Vorwegnahme des Urteils überhaupt hinausläuft, bedarf es nicht (BFH-Beschluss in BFH/NV 1997, 124, 125).
Im Übrigen ergeht die Entscheidung ohne Angabe weiterer Gründe.
Fundstellen
Haufe-Index 649578 |
BFH/NV 2002, 36 |