Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Wiedereinsetzung bei möglichem Organisationsmangel (Postausgangskontrolle) und eigenem Verschulden des Prozessbevollmächtigten (Verletzung der Kontrollpflichten)
Normenkette
FGO § 56 Abs. 1, 2 S. 2, § 155; ZPO § 85 Abs. 2
Tatbestand
I. Das Finanzgericht (FG) hat die Klage, mit der sich die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) gegen die ihr gegenüber vom Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt ―FA―) für 1992 und 1993 erlassenen Schätzungsbescheide ―zur Feststellung von Einkünften und zur Umsatzsteuer― gewandt hatte, als unbegründet abgewiesen, ohne die Revision zuzulassen. In der dem Urteil angefügten Rechtsmittelbelehrung erstreckt sich die Unterrichtung über die Revisionsfrist auch auf den Fall der Revisionszulassung durch den Bundesfinanzhof (BFH).
Auf die Beschwerde der Klägerin wurde die Revision durch Beschluss vom 18. Mai 1999 zugelassen. Diese Entscheidung wurde dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 28. Mai 1999 zugestellt.
Am 29. Juli 1999 ging beim FG der Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten vom gleichen Tage ein, mit dem dieser namens der Klägerin Revision einlegte und außerdem Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragte.
Zur Begründung seines Wiedereinsetzungsantrags trägt der Prozessbevollmächtigte im Wesentlichen Folgendes vor:
Nach Büroanweisung werde sämtliche Eingangspost mit dem Eingangsstempel der Kanzlei versehen und datiert. Sodann würden die Fristen in den "allgemeinen Fristenkalender" sowie in den "zweiten Terminkalender" eingetragen. Anschließend würden die Schriftstücke ihm, dem Prozessbevollmächtigten, vorgelegt "zusammen mit dem Fristeneintrag und kontrolliert, … zum Posteingang gegeben". Eine Woche vor Ablauf der Fristen würden diese "an einem besonderen Ort im Zimmer der Sekretärin und in deren Blickfeld" für ihn vorgelegt.
Mit der Überwachung der versäumten Frist sie die im dritten Ausbildungsjahr als Auszubildende in der Kanzlei beschäftigte Rechtsanwaltsfachangestellte Frau S betraut gewesen. Diese habe die Fristbearbeitung zunächst, seit März 1998, zusammen mit einer ausgebildeten Arbeitskraft und sodann, wegen deren Ausscheiden, allein erledigt. Bei Eingang des Zulassungsbeschlusses am 28. Mai 1999 habe Frau S, "die auch ihre schriftliche Prüfung bereits hinter sich hatte, Allgemeine Hochschulreife in Form des Abiturs beim Wirtschaftsgymnasium … hat und als Klassenbeste mit Notendurchschnitt zwei ihre Rechtanwaltsfachangestelltenausbildung abgeschlossen hat", als Frist unzutreffenderweise den 11. Juni 1999 eingetragen. "Die Vorlage zur Fristenkontrolle", so heißt es im Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten vom 29. Juli 1999 wörtlich weiter, "erfolgte nach meiner Urlaubsrückkehr am 07.06.1999. Zu diesem Zeitpunkt lag die Akte auch bereits bei den für den Fristablauf dieser 23. Kalenderwoche bereitgelegten Fristsachen. Die Kontrolle erfolgt in der Regel, und nach Erinnerung des Unterzeichners auch in diesem Falle, dadurch, dass im Raum der Sekretärin und in deren Beisein die Fristen durchgesprochen werden. Am 07.06.1999 sind etliche Fristen durchgesprochen worden, weil während des Urlaubs des Unterzeichners in der 22. Kalenderwoche etliche Fristsachen eingegangen waren.
Der Unterzeichner hatte festgestellt, dass die Frist falsch eingetragen war, nämlich zu kurz. Die Frist wurde daher eigenhändig vom Unterzeichner im Fristenkalender wieder durchgestrichen und der Sekretärin die Anweisung erteilt, die Frist erneut zu korrigieren und einzutragen. Weiter wurde die Weisung erteilt, im Falle der Unsicherheit sofort die Akte wieder vorzulegen."
Als dann der Prozessbevollmächtigte am 15. Juli 1999 vom FG die telefonische Anfrage erhalten habe, ob denn die Revision möglicherweise unmittelbar beim BFH eingereicht worden sei, habe er sich an den Vorgang erinnert. Man habe die Akte herausgesucht. Sie habe sich beim Unterzeichner befunden - "zusammen mit einer dicken Erbschaftsakte, in der bisher noch keine Prozessfristen liefen und nahezu täglich Telefonate … gewechselt wurden. Da es sich bei der finanzgerichtlichen Angelegenheit um eine dünnere Akte handelte, hatte der Unterzeichner diese unter der umfangreichen dicken darüber liegenden Erbschaftsakte … nicht bemerkt".
Nach entsprechendem Sachvortrag beantragt die Klägerin, das angefochtene Urteil aufzuheben und die angefochtenen Bescheide entsprechend dem Klagebegehren abzuändern.
Das FA beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Die Revisionsfrist sei versäumt worden. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand komme nicht in Betracht.
Entscheidungsgründe
II. Das Rechtsmittel ist unzulässig und daher nach den §§ 124 Abs. 1, 126 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) durch Beschluss zu verwerfen.
1. Die unstreitig am 29. Juli 1999 beim FG eingegangene Revision ist verspätet eingelegt worden. Denn die einmonatige Revisionsfrist (§ 120 Abs. 1 Satz 1 FGO) war (infolge der Zustellung des Beschlusses der Revisionszulassung am 28. Mai 1999) am 28. Juni 1999 abgelaufen. Die Rechtsmittelbelehrung des FG-Urteils ist ordnungsgemäß auch hinsichtlich des Falls der Zulassung durch den BFH, so dass eine Fristverlängerung nach § 55 Abs. 2 i.V.m. § 55 Abs. 1 Satz 2 FGO ausscheidet (vgl. auch BFH-Beschluss vom 25. Februar 1999 X R 102/98, BFH/NV 1999, 1221, m.w.N.).
2. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt nicht in Betracht. Sie ist gemäß § 56 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 FGO auf Antrag demjenigen zu gewähren, der ohne Verschulden gehindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten; der Antrag ist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen und zu begründen. Hierbei muss sich der Rechtsuchende das Verschulden seines Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen (§ 155 FGO i.V.m. § 85 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung ―ZPO―).
a) Die Begründung des Wiedereinsetzungsantrags erfordert innerhalb der Zweiwochenfrist eine substantiierte, in sich schlüssige Darstellung aller entscheidungserheblichen Tatsachen (ständige Rechtsprechung, s. z.B. BFH-Beschlüsse in BFH/NV 1999, 1221, und vom 23. Juni 1999 IV B 150/98, BFH/NV 1999, 1614; Gräber, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., 1997, § 56 Rz. 49 f., m.w.N.). Schon daran fehlt es hier. Die Ausführungen im Schriftsatz vom 29. Juli 1999 genügen diesen Anforderungen nicht, insbesondere deshalb, weil sie nicht den Schluss zulassen, dass ein Organisationsmangel in der Kanzlei als Ursache der Fristversäumnis ausscheidet (s. dazu die Senatsentscheidungen vom 7. Dezember 1988 X R 80/87, BFHE 155, 275, BStBl II 1989, 266; vom 13. November 1998 X R 31/97, BFH/NV 1999, 941, 942, und in BFH/NV 1999, 1221, 1222). Unvollständig ist das Vorbringen vor allem insofern, als es keine konkreten Angaben zu der für eine einwandfreie Büroorganisation unerlässlichen Postausgangskontrolle enthält (BFH-Entscheidungen in BFHE 155, 275, BStBl II 1989, 266; vom 14. Oktober 1998 X R 87/97, BFH/NV 1999, 621, und in BFH/NV 1999, 941, 942; Gräber, a.a.O., § 56 Rz. 25, 28, jeweils m.w.N.), insbesondere zur Führung eines Postausgangsbuchs sowie zur Gewährleistung seiner Übereinstimmung mit dem Fristenkontrollbuch bzw. einer vergleichbaren Einrichtung - mit der Konsequenz, dass dort Fristen prinzipiell erst gelöscht werden, wenn das fristwahrende Schriftstück zumindest "postfertig" vorliegt (Senat in BFHE 155, 275, BStBl II 1989, 266, und in BFH/NV 1999, 941, 942). Auch lässt sich dem Vorbringen des Prozessbevollmächtigten nicht mit Bestimmtheit entnehmen, dass die Einhaltung der laufenden Fristen durch tägliche Einsichtnahme in das Fristenkontrollbuch bzw. den Fristenkalender gesichert war (speziell zu diesem Erfordernis: BFH-Beschluss vom 10. Dezember 1997 X B 148/97, BFH/NV 1998, 719, m.w.N.). Ungeklärt jedenfalls bleibt infolgedessen, warum das ―wem auch immer zuzurechnende― Verlegen der Akte allein zur Fristversäumnis geführt haben soll.
Eine weitere, u.U. dem Prozessbevollmächtigten persönlich anzulastende Ursache für die Fristversäumnis kann nach den dargestellten Umständen außerdem darin zu sehen sein, dass dieser sich, obwohl es schon zu einem Fristberechnungsfehler in dieser Sache gekommen war, offenbar darauf beschränkte, die unzutreffende Frist im Fristenkalender ("eigenhändig") durchzustreichen, und die Korrektur im Übrigen ―möglicherweise einschließlich der Bestimmung der "richtigen" Frist― einer Sekretärin überließ, da die abschließende Weisung des Prozessbevollmächtigten in diesem Zusammenhang dahin lautete, "im Falle der Unsicherheit sofort die Akte wieder vorzulegen". Daher könnte der Prozessbevollmächtigte selbst die für diesen Fall nach dem ersten Versehen gebotene besondere Sorgfalt nicht hinreichend beachtet haben (vgl. zu den besonderen eigenen Kontrollpflichten des Prozessbevollmächtigten in ungewöhnlichen und zweifelhaften Fällen: BFH in BFH/NV 1999, 941, 942).
Eine Erörterung der Qualifikation von Frau S erübrigt sich ebenso wie die Gewichtung der Tatsache, dass die Prozessakte verlegt war, weil beide Umstände schon nach der vom Prozessbevollmächtigten selbst gegebenen Darstellung keine ausreichende Erklärung für die Fristversäumnis bieten.
b) Da nach dem Wiedereinsetzungsvorbringen weder ein Organisationsmangel noch ein eigenes Verschulden des Prozessbevollmächtigten ausgeschlossen und diese Lücke nach Ablauf der Begründungsfrist nicht mehr geschlossen werden kann, was bei der Gesamtwürdigung des Wiedereinsetzungsantrags zu Lasten der Klägerin zu berücksichtigen ist (Senatsbeschlüsse in BFH/NV 1999, 941, 942 und in BFH/NV 1999, 1221, 1222), kommt es auch auf die fehlende Glaubhaftmachung durch präsente Beweismittel der entscheidungserheblichen Tatsachen nicht an.
Fundstellen