Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrags bei niedrigem Einkommen
Leitsatz (NV)
Ernste Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe des Grundfreibetrags können dann begründet sein, wenn das zu versteuernde Einkommen so niedrig ist, daß dem Steuerpflichtigen nach Entrichtung der Einkommensteuer zur Bestreitung des Lebensunterhalts nur ein Betrag verbleibt, der das sozialhilferechtlich garantierte Jahresexistenzminimum unterschreitet (Bestätigung des Beschlusses in BFHE 164, 570).
Normenkette
GG Art. 1 Nr. 1, Art. 20 Abs. 1; EStG in der für 1989 geltenden Fassung § 32a Abs. 1 S. 2 Nr. 1
Tatbestand
Die Einspruchsführerin, Antragstellerin und Beschwerdegegnerin (Antragstellerin) hatte im Streitjahr (1989) ein zu versteuerndes Einkommen von 6568 DM. Von der Einkommensteuer in Höhe von 392 DM, die sich nach der auf die Antragstellerin anwendbaren Grundtabelle ergab, zog der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt - FA -) die Berlinermäßigung von 118 DM ab und setzte die Einkommensteuer für die Antragstellerin auf 274 DM fest.
Gegen diesen Einkommensteuerbescheid legte die Antragstellerin Einspruch ein und beantragte gleichzeitig beim FA, die Vollziehung des Einkommensteuerbescheids im Hinblick auf die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur ,,Besteuerung geringer Einkommen" auszusetzen.
Diesen Antrag lehnte das FG ab.
Die Antragstellerin beantragte deshalb beim Finanzgericht (FG), die Vollziehung des angefochtenen Einkommensteuerbescheids auszusetzen. Sie machte geltend, für Miete und Heizkosten ca. 200 DM monatlich zahlen zu müssen. Von ihrem niedrigen Einkommen verbliebe ihr deshalb nur ein Betrag, der ,,weit unter dem akzeptierten Normalsatz der Sozialhilfe" liege.
Der Antrag hatte Erfolg. Das FG führte im wesentlichen aus:
Nach der im Aussetzungsverfahren gebotenen summarischen Prüfung bestünden Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts. Denn die Erhebung der festgesetzten Steuer, die das FA rechnerisch zutreffend mit 274 DM ermittelt habe, verstoße gegen das aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) folgende Gebot, das Existenzminimum des Steuerpflichtigen steuerfrei zu lassen. Die Höhe des Existenzminimums ergebe sich - mindestens - aus dem sozialhilferechtlichen Regelsatz und den daneben zu gewährenden Leistungen für Unterkunft und Heizung. Der Regelsatz habe in Berlin im Streitjahr insgesamt 5214 DM (6 x 424 DM und 6 x 445 DM) betragen. Hinzu seien gesondert zu gewährende Leistungen für Unterkunft und Heizung, im Fall der Antragstellerin im Streitjahr in Höhe von 1453,44 DM (12 x 121,12 DM) gekommen. Mithin habe das Existenzminimum im Streitjahr für die Antragstellerin 6667 DM betragen. Dieser Wert liege um 100 DM über ihrem zu versteuernden Einkommen. Fiskalische Überlegungen, die nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) bei Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer anzuwendenden Norm zur Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung führten, stünden - jedenfalls im Streitfall - der beantragten Aussetzung nicht entgegen. Denn das Verbot der Besteuerung des Existenzminimums und das Gebot der Achtung der Menschenwürde wiegen schwerer als haushaltsrechtliche Interessen.
Gegen den Beschluß des FG legte das FA die vom FG zugelassene Beschwerde ein. Zur Begründung macht das FA im wesentlichen geltend:
Es könne dahingestellt bleiben, ob die Auffassung des FG, die Festsetzung des Grundfreibetrags für das Streitjahr sei verfassungswidrig, zutreffe; selbst wenn das FG insoweit Recht habe, käme eine Aussetzung der Vollziehung nicht in Betracht. Denn es fehle an dem erforderlichen berechtigten Interesse der Antragstellerin, das nach ständiger Rechtsprechung des BFH dann vorliegen müsse, wenn sich ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts aus der behaupteten Verfassungswidrigkeit einer Norm ergäben. Ausnahmsweise könnten nämlich nach der Rechtsprechung überwiegende öffentliche Belange es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Bürgers einstweilen zurückzustellen. Eine entsprechende Interessenabwägung verstoße auch nicht grundsätzlich gegen Art. 19 Abs. 4 GG, solange die Aussetzung - bei Vorliegen ernstlicher Zweifel - die Regel, der sofortige Vollzug des Verwaltungsakts dagegen die Ausnahme bleibe. So sei es hier. Denn das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung sei auch im Streitfall höher zu bewerten als das Interesse der Antragstellerin, im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes eine Aussetzung der Vollziehung zu erlangen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist unbegründet.
Im Ergebnis zu Recht ist das FG davon ausgegangen, daß die Grundsätze des Senatsurteils vom 8. Juni 1990 III R 14-16/90 (BFHE 161, 109, BStBl II 1990, 969) in einem Fall der hier vorliegenden Art bei summarischer Prüfung nicht anzuwenden sind. Dort hat der Senat entschieden, daß die Einkommensbesteuerung in den Jahren 1986 bis 1988 verfassungsrechtlich jedenfalls dann nicht zu beanstanden war, wenn bei einem zu versteuernden Einkommen von 72 576 DM eine Einkommensteuer von 16 246 DM zu zahlen war. Wie der Senat inzwischen in seinem Beschluß vom 25. Juli 1991 III B 555/90 (BFHE 164, 570, ebenfalls ergangen in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes) entschieden hat, gelten die Erwägungen aus dem Urteil in BFHE 161, 109, BStBl II 1990, 969 dann nicht, wenn das zu versteuernde Einkommen (im dortigen Streitfall 8717 DM) so niedrig ist, daß dem Steuerpflichtigen nach Entrichtung der Einkommensteuer (dort 867 DM) zur Bestreitung seines Lebensunterhalts nur ein Betrag verbleibt, der das sozialhilferechtlich garantierte Jahresexistenzminimum unterschreitet. Letzteres hat der Senat bei den dort gegebenen Verhältnissen im Anschluß an Lang (Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes in Münsteraner Symposion Bd. II 1985, 71) nach den Regelsätzen der Sozialhilfe zuzüglich eines durchschnittlichen Kleideraufwands, durchschnittlicher Wohnungs- und Heizungskosten sowie durchschnittlicher Beiträge zur Krankenkasse und anderer Vorsorgeaufwendungen bestimmt. Für diesen Fall hat der Senat in dem vorerwähnten Beschluß auch ein berechtigtes Interesse an der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes bejaht, weil ein derartiger Steuerpflichtiger auch nach einer möglichen Tarifänderung als Folge einer die Verfassungswidrigkeit des Grundfreibetrags feststellenden Entscheidung des BVerfG stets von der Einkommensteuer freigestellt bleiben müsse, Fälle dieser Art andererseits aber nicht die Regel seien, so daß auch das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltswirtschaft zurücktreten müsse.
Nach den Grundsätzen des Beschlusses in BFHE 164, 570, an denen der Senat festhält, ist auch im vorliegenden Fall die festgesetzte Steuer von der Vollziehung auszusetzen. Nach den Ermittlungen des FG, von denen der Senat für das vorliegende Aussetzungsverfahren ausgeht, betrug der für die Antragstellerin maßgebende sozialhilferechtliche Regelsatz im Streitjahr 5214 DM. Hinzu kamen - mindestens - gesondert zu gewährende Leistungen für Unterkunft und Heizung, die sich im Falle der Antragstellerin auf 1453,44 DM belaufen hätten. Die Summe beider Beträge liegt bereits höher als das zu versteuernde Einkommen der Antragstellerin, so daß von ihr - unter Beachtung des sozialhilferechtlich gewährleisteten Existenzminimums - keinerlei Steuern vom Einkommen hätten erhoben werden dürfen. Bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen überschlägigen Prüfung sind deshalb unter den hier gegebenen Umständen ernste Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe des Grundfreibetrages für 1989 und damit ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Einkommensteuerbescheids i. S. des § 69 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zu bejahen.
Fundstellen
Haufe-Index 418085 |
BFH/NV 1992, 246 |