Entscheidungsstichwort (Thema)
Neues, altes Verjährungsrecht; Abgrenzung der Steuerschuldverhältnisse
Leitsatz (NV)
1. Die Abgrenzungsregel, daß für vor dem 31. 12. 1976 entstandene Steueransprüche allein das alte Verjährungsrecht maßgeblich ist, gilt auch gegenüber Spezialvorschriften des neuen Abgabenrechts, die - wie § 174 Abs. 3 S. 2 AO 1977 - mit (den an und für sich in solchen Fällen anwendbaren) Korrekturvorschriften des neuen Abgabenrechts verknüpft sind.
2. Die Steuerschuldverhältnisse verschiedener Steuerrechtssubjekte sind auch im Verjährungsrecht deutlich auseinanderzuhalten. Darum kommt es, soweit das Gesetz nicht ausnahmsweise (ausdrücklich) etwas anderes vorsieht, für Beginn, Verlauf und Ende der Verjährung eines (Umsatz-)Steueranspruchs nicht auf Ereignisse aus der Sphäre eines anderen (z. B. der Organtochter) an.
Normenkette
EGAO Art. 97 §§ 9-10; AO §§ 144, 145 Abs. 2 Nr. 1, § 146a Abs. 3; AO 1977 § 174
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine Steuerberatungsgesellschaft, an der Steuerberater X (im folgenden X), in den Jahren 1971 bis 1974 zu 100 % beteiligt war.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) behandelte die Klägerin zunächst als selbständige Unternehmerin und zog sie, auch in den Streitjahren, entsprechend zur Umsatzsteuer heran.
In den Jahren 1977 und 1978 wurden gleichzeitig sowohl bei der Klägerin als auch bei X Außenprüfungen durchgeführt. In deren Verlauf kam der Prüfer zu dem Ergebnis, im Prüfungszeitraum, der die Streitjahre 1971 bis 1973 mitumfaßte, habe zwischen X als Organträger und der Klägerin als Organgesellschaft Organschaft vorgelegen.
Dem folgte das FA und hob mit Bescheid vom 4. September 1978 u. a. die der Klägerin gegenüber erlassenen Umsatzsteuerbescheide für 1971 bis 1973 ersatzlos auf. Das seinerzeit für X zuständige Finanzamt änderte die gegenüber diesem getroffenen Umsatzsteuerfestsetzungen entsprechend mit Sammelbescheid vom 7. Dezember 1978.
X, der sich schon in den Schlußbesprechungen gegen die Annahme einer Organschaft gewandt hatte, vertrat diesen Standpunkt auch weiter und hatte mit seinem gegen den Sammelbescheid eingelegten Einspruch Erfolg: Das nunmehr auch hierfür zuständig gewordene FA änderte den angefochtenen Sammelbescheid und setzte X`s Umsatzsteuerschuld für die Streitjahre entsprechend herab.
Am gleichen Tag, mit Bescheiden vom 27. März 1981, erließ das FA auch gegenüber der Klägerin wieder Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre, in denen es die Steuerschuld wie folgt festsetzte: . . .
Zur Begründung teilte das FA der Klägerin folgendes mit:
,,Dieser Bescheid berichtigt gemäß § 174 Abs. 3 AO den Aufhebungsbescheid vom 4. 9. 1978. Die Berichtigung erfolgt wegen der Aufgabe des Organschaftsverhältnisses."
Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) stützte sein klageabweisendes Urteil darauf, daß die Voraussetzungen des § 174 Abs. 3 der Abgabenordnung (AO 1977) erfüllt seien und Verjährung den angefochtenen Änderungsbescheiden nicht entgegenstehe: X habe seine Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre im Jahre 1973 bzw. 1974 abgegeben und am 20. Dezember 1978, also noch vor Eintritt der Regelverjährung mit Ablauf der Jahre 1978 bzw. 1979, wegen des hier streitigen Sachverhalts Einspruch gegen die ihn betreffenden Änderungen eingelegt; die hierdurch nach § 146 a Abs. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) ausgelöste Ablaufhemmung habe auch noch bei Erlaß der gegen die Klägerin gerichteten Änderungsbescheide angedauert, weil die gegen X gerichteten Änderungsbescheide zu diesem Zeitpunkt noch nicht unanfechtbar gewesen seien.
Mit der zugelassenen Revision rügt die Klägerin Verletzung materiellen Rechts: Sie ist der Meinung, ihr gegenüber sei vor Erlaß der angefochtenen Bescheide Verjährung eingetreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Die Vorinstanz hat die Verjährungsvorschriften nicht rechtsfehlerfrei angewendet und infolgedessen den entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt, so daß der Senat nicht abschließend entscheiden kann (§ 118 Abs. 2 FGO).
1. Zutreffend ist das FG davon ausgegangen, daß sich im Streitfall die Korrekturbefugnis grundsätzlich nach neuem, die Verjährung dagegen nach altem Recht richtet (Art. 97 §§ 9 und 10 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung - EGAO 1977 -). Es hat jedoch nicht beachtet, daß es hier um vor dem 31. Dezember 1976 entstandene und möglicherweise (nach der AO) verjährte Ansprüche geht, so daß die Regelungsbereiche der einschlägigen Übergangsvorschriften genauer voneinander abgegrenzt werden müssen (vgl. dazu Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 30. September 1980 VIII R 58/80, BFHE 132, 1, BStBl II 1981, 245; vom 16. Mai 1990 X R 72/87, BFHE 161, 451, 454 f., BStBl II 1990, 1044, 1046, und vom 13. November 1991 I R 58/90, BFHE 166, 530, BStBl II 1992, 517).
2. Zwar kann gemäß § 174 Abs. 3 Satz 1 AO 1977, wenn ein bestimmter Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt wurde, daß er in einem anderen Bescheid zu berücksichtigen sei, und sich diese Annahme als unrichtig herausstellt, die Steuerfestsetzung, bei der die Berücksichtigung des Sachverhalts unterblieben ist, insoweit nachgeholt, aufgehoben oder geändert werden. Doch ist diese Korrekturmöglichkeit zeitlich begrenzt: Sie ist jedenfalls nur bis zum Ablauf der für die andere (hier das Steuerschuldverhältnis des X betreffenden) Steuerfestsetzung geltenden Verjährungsfrist eröffnet (§ 174 Abs. 3 Satz 2 AO 1977). Ob sich eine weitere zeitliche Schranke aus der Verjährung des Steuerschuldverhältnisses ergibt, dem die Nachholung, Änderung oder Aufhebung gilt (hier demjenigen der Klägerin), ist streitig (vgl. einerseits Kühn / Kutter / Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., 1990, § 174 AO 1977 Anm. 4, und andererseits Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., 1965/1991, § 174 AO 1977 Tz. 14, nebst den dortigen Nachw.). Die Frage braucht hier nicht entschieden zu werden, weil für den Streitfall gemäß Art. 97 § 10 EGAO 1977 nicht die §§ 169 ff. AO 1977, einschließlich der in § 174 AO 1977 enthaltenen Spezialvorschriften, sondern die §§ 143 ff. AO in der bis zum 31. Dezember 1976 geltenden Fassung maßgeblich sind, die eine dem § 174 Abs. 3 Satz 2 AO 1977 vergleichbare Regelung nicht kannten. Daher kommt es hier allein darauf an, ob die mit den angefochtenen Bescheiden geltend gemachten Umsatzsteueransprüche bei Erlaß dieser Steuerverwaltungsakte schon verjährt waren.
3. Ob die Umsatzsteueransprüche gegenüber der Klägerin für die Streitjahre einer (korrigierenden) Festsetzung wegen Vollendung der Verjährung (§ 148 AO) entzogen waren (BFH-Urteile vom 6. Februar 1958 Vz 175/55, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Reichsabgabenordnung, § 94, Rechtsspruch 10, und vom 14. März 1962 VII 63/61, StRK, Reichsabgabenordnung, § 94, Rechtsspruch 31; Tipke / Kruse, Reichsabgabenordnung, 8. Aufl., 1965/1976, § 94 AO Tz. 18; vgl. auch BFH vom 10. Mai 1974 III 284/64, BFHE 112, 449, BStBl II 1974, 620, und vom 11. Dezember 1984 VIII R 263/82, BFHE 143, 1, BStBl II 1985, 278), läßt sich anhand der vom FG festgestellten Tatsachen nicht beurteilen. Das FG hat unberücksichtigt gelassen, daß die Verjährung für jeden Steueranspruch (für jedes Steuerschuldverhältnis) gesondert zu prüfen ist. Darum sind für die im Streitfall entscheidungserhebliche Frage, wann die Umsatzsteueransprüche 1971 bis 1973 gegenüber der Klägerin verjährt sind, nicht Ereignisse von Bedeutung, die allein das Steuerschuldverhältnis des X betreffen:
- So kommt es für den Beginn der fünfjährigen Verjährungsfrist des § 144 AO gemäß § 145 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht darauf an, wann die Umsatzsteuererklärungen des X, sondern darauf, wann diejenigen für die Klägerin abgegeben wurden. Diese Daten hat zwar nunmehr die Klägerin im Rahmen der Revisionsbegründung genannt. Sie sind aber nicht in der Tatsacheninstanz festgestellt worden (§ 118 Abs. 2 FGO).
- Was die mögliche Ablaufhemmung nach § 146 a Abs. 3 AO angeht, so ist weder aus dem Urteil noch aus den Akten ersichtlich, wann genau der Aufhebungsbescheid vom 4. September 1978 unanfechtbar wurde, bzw., wenn hierzu für die Streitjahre mehrere Bescheide ergangen sind, wann dieses Ereignis bei ihnen eingetreten ist. Auch für die Außenprüfung und deren Auswertung durch Steuerbescheide sind die Steuerverhältnisse des X einerseits und der Klägerin andererseits - in subjektiver wie objektiver Hinsicht - streng auseinanderzuhalten (vgl. BFH-Urteile vom 22. Oktober 1986 I R 107/82, BFHE 148, 507, 512, BStBl II 1987, 293, 295, und vom 15. Dezember 1989 VI R 151/86, BFHE 159, 296, BStBl II 1990, 526, 528).
Die fehlenden Tatsachenfeststellungen werden nunmehr im zweiten Rechtsgang nachzuholen sein.
Fundstellen
Haufe-Index 418403 |
BFH/NV 1992, 717 |