Entscheidungsstichwort (Thema)
Anwendungsbereich des § 174 AO 1977 - Voraussetzung für eine Änderung nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977
Leitsatz (amtlich)
Ein Steuerbescheid ist nicht wegen rechtsfehlerhafter Berücksichtigung eines Sachverhalts in entsprechender Anwendung des § 174 Abs.1 AO 1977 zu ändern, wenn die entsprechende ebenfalls rechtsfehlerhafte Berücksichtigung des Sachverhalts in dem Steuerbescheid eines anderen Steuerpflichtigen berichtigt wurde.
Orientierungssatz
1. Der Anwendungsbereich der Korrekturregelungen des § 174 Abs. 1 bis 3 AO 1977 ist auf Mehrfacherfassungen von Sachverhalten beschränkt, die sich wechselseitig denkgesetzlich ausschließen. Die Regelungen des § 174 Abs. 4 und 5 AO 1977 stellen jedoch gegenüber § 174 Abs. 1 bis 3 AO 1977 eigenständige Änderungsnormen dar, die anders als die Tatbestände der Absätze 1 bis 3 nicht auf die Fälle der alternativen Erfassung bestimmter Sachverhalte beschränkt sind (vgl. BFH-Rechtsprechung).
2. Das Merkmal in § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 "Ereignis mit steuerlicher Wirkung für die Vergangenheit" setzt voraus, daß sich der ursprüngliche --der Besteuerung zugrunde gelegte-- Sachverhalt tatsächlicher oder rechtlicher Art mit Wirkung für die Vergangenheit geändert hat; eine andere rechtliche Beurteilung des im übrigen unverändert bleibenden Sachverhalts genügt insoweit nicht (vgl. BFH-Urteil vom 26.10.1988 II R 55/86).
Normenkette
AO 1977 § 174 Abs. 1-5, § 175 Abs. 1 Nr. 2
Tatbestand
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute und werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Die Klägerin ist Eigentümerin eines land- und forstwirtschaftlichen Betriebs, den sie bis zum 31.Dezember 1981 selbst bewirtschaftete und in der Folgezeit an ihren Sohn B eisern verpachtete.
Aufgrund einer Außenprüfung für die Jahre 1982 bis 1984 stellte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) fest, daß der Gewinn der Klägerin aus Land- und Forstwirtschaft im Wirtschaftsjahr 1981/82 um 50 000 DM niedriger als bisher der Besteuerung zugrunde zu legen sei. Die Klägerin habe für die stehende Ernte, für Heu- und Strohvorräte, Gülledüngwert und Futter aus eigenem Anbau eine Sachwertforderung zu Unrecht in ihrer Bilanz ausgewiesen, weil sie das Vorratsvermögen bis zur Verpachtung nicht bewertet habe.
Die festgestellte Minderung des Gewinns berücksichtigte das FA anteilig in Höhe von 25 000 DM im Einkommensteuerbescheid 1982. Eine Änderung des Einkommensteuerbescheids 1981 unterblieb wegen der eingetretenen Festsetzungsverjährung.
Bei B erhöhte das FA den Gewinn aus Land- und Forstwirtschaft im Rumpfwirtschaftsjahr vom 1.Januar bis 30.Juni 1982 um 50 000 DM, indem es in Höhe der bei der Klägerin zu Unrecht ausgewiesenen Sachwertforderung eine Sachwertverbindlichkeit aufgrund der eisernen Pachtung gewinnerhöhend auflöste.
Den Antrag der Kläger, den Einkommensteuerbescheid 1981 im Hinblick auf diese gewinnerhöhende Ausbuchung der Verbindlichkeit zu ändern, lehnte das FA ab. Der Einspruch der Kläger hatte keinen Erfolg. Ihre Klage wies das Finanzgericht (FG) als unbegründet ab.
Mit ihrer auf Beschwerde durch den erkennenden Senat zugelassenen Revision rügen die Kläger Verletzung des § 174 Abs.1 der Abgabenordnung (AO 1977).
Sie beantragen, das angefochtene Urteil aufzuheben und das FA zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1981 zu ändern und der Veranlagung einen um 25 000 DM geminderten Gewinn aus Land- und Forstwirtschaft zugrunde zu legen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Zu Recht hat das FG einen Anspruch der Kläger auf Änderung des Einkommensteuerbescheids 1981 verneint.
Nach § 172 Abs.1 AO 1977 kann ein Steuerbescheid, der --wie hier-- weder vorläufig noch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen ist und nicht Zölle oder Verbrauchssteuern, sondern andere Steuern betrifft, nur aufgehoben oder geändert werden, soweit dies gesetzlich zugelassen ist; die §§ 130, 131 AO 1977 gelten nicht (§ 172 Abs.1 Nr.2 d AO 1977).
1. Eine Vorschrift, die die begehrte Änderung zulassen würde, ist nicht gegeben.
a) Eine Änderung nach Maßgabe der §§ 172 Abs.1 Nr.2 a bis c und 173 Abs.1 AO 1977 scheidet schon wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist für die Einkommensteuer 1981 aus (§ 169 Abs.1 und Abs.2 Nr.2 AO 1977).
b) Für eine Änderung nach § 175 Abs.1 Nr.2 AO 1977 fehlt es an einem Ereignis mit steuerlicher Wirkung für die Vergangenheit. Dieses Merkmal setzt voraus, daß sich der ursprüngliche --der Besteuerung zugrunde gelegte-- Sachverhalt tatsächlicher oder rechtlicher Art mit Wirkung für die Vergangenheit geändert hat; eine andere rechtliche Beurteilung des im übrigen unverändert bleibenden Sachverhalts --wie hier-- genügt insoweit nicht (vgl. Bundesfinanzhof --BFH--, Urteil vom 26.Oktober 1988 II R 55/86, BFHE 154, 493, BStBl II 1989, 75; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 175 AO 1977 Tz.17).
c) Schließlich sind auch die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 174 AO 1977 nicht gegeben.
aa) Eine Änderung aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts in einem anderen Steuerbescheid (§ 174 Abs.4 und 5 AO 1977) scheidet schon deshalb aus, weil der andere --gegenüber B ergangene-- Bescheid weder nach Maßgabe des § 174 Abs.4 AO 1977 aufgrund eines Rechtsbehelfs oder auf sonstigen Antrag des B noch zu dessen Gunsten geändert wurde. Denn die aufgrund einer Außenprüfung erfolgte --gewinnerhöhende-- Ausbuchung der Sachwertverbindlichkeit bei B führte bei ihm zu einer höheren Steuerfestsetzung.
bb) Entgegen der Auffassung der Kläger kommt auch eine Änderung nach § 174 Abs.1 und 2 AO 1977 nicht in Betracht. Der Tatbestand dieser Vorschrift erfordert, daß ein bestimmter Sachverhalt mehrfach zuungunsten (Abs.1) oder mehrfach zugunsten (Abs.2) eines oder mehrerer Steuerpflichtiger berücksichtigt worden ist, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen.
Sieht man die steuerliche Behandlung der Sachwertverbindlichkeit bei B einerseits und der korrespondierenden Sachwertforderung bei der Klägerin andererseits in Anlehnung an die Rechtsprechung zum Begriff des Sachverhalts in § 174 Abs.4 und 5 AO 1977 (vgl. BFH-Urteil vom 24.November 1987 IX R 158/83, BFHE 152, 203, BStBl II 1988, 404, sowie Beschlüsse vom 20.April 1989 V B 153/88, BFHE 156, 389, BStBl II 1989, 539, und vom 2.August 1990 III B 52/89, BFH/NV 1991, 16 m.w.N.) als einen (solchen) bestimmten Sachverhalt an (vgl. dazu Brüning, Die widerstreitende Steuerfestsetzung, S.26 ff.; Günther, Die Information über Steuer und Wirtschaft --Inf-- 1986, 217, 218; Meyer, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 1985, 73; Schuhmann, Deutsche Steuer-Zeitung/Ausgabe A --DStZ/A-- 1979, 70; Weber-Grellet, Die steuerliche Betriebsprüfung --StBp-- 1982, 29, 30; v. Wedelstädt, Der Betrieb --DB-- 1981, 1254; DB 1988, 2228, 2230, sowie DB 1990, 1483, und Woerner/Grube, Die Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten, 8.Aufl., S.116), so fehlt es für die Anwendbarkeit der Vorschrift gleichwohl an dem Merkmal "obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen".
Dieses Merkmal kann schon nach dem Wortlaut der Vorschrift nur gegeben sein, wenn die "mehreren" Berücksichtigungen des streitigen Sachverhalts zueinander in einem wechselseitigen Ausschließlichkeitsverhältnis stehen, das eine Berücksichtigung --also jeweils die weitere Berücksichtigung desselben Sachverhalts bei einem anderen Steuerpflichtigen, bei einer anderen Steuerart oder in einem anderen Veranlagungszeitraum-- denkgesetzlich ausschließt (vgl. BFH-Urteil vom 13.Dezember 1984 V R 47/80, BFHE 143, 9, BStBl II 1985, 282; Brüning, a.a.O., S.45; Weber-Grellet, StBp 1982, 30; ebenso BTDrucks VI/1982 S.153).
Daran fehlt es hier. Denn der streitige Sachverhalt --die rechtsfehlerhaft in der Gewinnermittlung erfaßte Sachwertforderung für die stehende Ernte, Heu- und Strohvorräte, Gülledüngwert und Futter aus eigenem Anbau-- ist zwar sowohl bei B als auch bei der Klägerin erfaßt worden; diese Mehrfacherfassung war jedoch nicht i.S. des § 174 Abs.1 und 2 AO 1977 denkgesetzlich ausgeschlossen, sondern im Gegenteil bilanzrechtlich folgerichtig und geboten, wenn man die Richtigkeit der entsprechenden Bilanzansätze bei der Klägerin (Buchung einer Sachwertforderung) unterstellt; war der Bilanzansatz jedoch --wie hier-- bei beiden Steuerpflichtigen rechtsfehlerhaft, dann war der Sachverhalt ebenfalls nicht i.S. des § 174 Abs.1 oder 2 AO 1977 nur einmal, sondern überhaupt nicht zu berücksichtigen.
2. Da auch andere gesetzliche Änderungsnormen nicht in Betracht kommen, könnten die Kläger die begehrte Änderung des Bescheids nur beanspruchen, wenn § 174 AO 1977 auf den hier gegebenen sog. Fall einer doppelt fehlerhaften Berücksichtigung eines Sachverhalts (vgl. Weber-Grellet, StBp 1982, 29) analog anwendbar wäre. Eine Analogie setzt indessen eine Lücke im Gesetz i.S. einer planwidrigen Unvollständigkeit voraus (BFH-Urteil vom 24.Januar 1974 IV R 76/70, BFHE 111, 329, BStBl II 1974, 295; Tipke/Lang, Steuerrecht, 13.Aufl., S.103), die der Regelung des § 174 AO 1977 nicht zu entnehmen ist.
Die in § 174 Abs.1 bis 3 AO 1977 einerseits und in § 174 Abs.4 und 5 AO 1977 andererseits verfolgten --unterschiedlichen-- Ziele des Gesetzgebers lassen keine Wertung des Gesetzes erkennen, nach der insbesondere das verfassungsrechtliche Gebot der Gleichbehandlung eine Anwendbarkeit der Vorschrift im Wege der Gesetzes- oder Rechtsanalogie auf den hier vorliegenden Fall einer doppelt fehlerhaften Steuerfestsetzung gebieten würden (gegen eine Anwendung des § 174 AO 1977 auf derartige Fälle auch Brüning, a.a.o., S.32; Meyer, DStR 1985, 73; Woerner/ Grube, a.a.O., S.110; Schwarz/Frotscher, Abgabenordnung, § 174 Rn.2 c; Weber-Grellet, StBp 1982, 29, 32).
a) Mit den Regelungen in Abs.1 bis 3 der Vorschrift will der Gesetzgeber sowohl nach dem Gesetzeswortlaut als auch nach dem Inhalt der Gesetzesbegründung (BTDrucks VI/1982, S.153 ff.) lediglich sicherstellen, daß ein bestimmter steuerlich relevanter Sachverhalt, der --nur-- einmal (bei einem Steuerpflichtigen, bei einer Steuerart oder in einem Veranlagungszeitraum) zu erfassen ist, mindestens einmal (§ 174 Abs.3 AO 1977), aber auch nicht mehr als einmal (§ 174 Abs.1 und 2 AO 1977) berücksichtigt wird.
Danach ist der Anwendungsbereich dieser Korrekturregelungen ausdrücklich --wie ausgeführt-- auf Mehrfacherfassungen von Sachverhalten beschränkt, die sich --anders als hier (s. oben unter 1 c, bb)-- wechselseitig denkgesetzlich ausschließen. Fehlt es wie hier an einer solchen denkgesetzlichen Ausschließlichkeit, kann schon deshalb nicht angenommen werden, die doppelt fehlerhafte Erfassung von Sachverhalten sei mit den in § 174 Abs.1 bis 3 AO 1977 geregelten Tatbeständen rechtsähnlich und müsse deshalb im Wege analoger Anwendung der Vorschrift denselben Rechtsfolgen unterworfen werden.
Das Fehlen dieses für den Anwendungsbereich des § 174 Abs.1 bis 3 AO 1977 erforderlichen denkgesetzlichen Ausschlusses anderweitiger Erfassung des Sachverhalts schließt des weiteren aus, die in § 174 Abs.1 bis 3 AO 1977 getroffenen Regelungen als Ausdruck eines allgemeinen Korrespondenzprinzips anzusehen, kraft dessen mehrere Steuerpflichtige eine korrespondierende steuerliche Behandlung eines sie gemeinsam betreffenden Sachverhalts beanspruchen könnten.
Abgesehen davon, daß das Einkommensteuerrecht ein solches allgemeines Korrespondenzprinzip nicht enthält (vgl. Tipke/ Lang, a.a.O., S.13, und Brüning, a.a.O., S.32), könnte ein solches --partielles-- Korrespondenzprinzip im übrigen allenfalls in § 174 Abs.4 und 5 AO 1977 gesehen werden (BFH-Beschluß vom 6.Dezember 1979 IV B 56/79, BFHE 130, 1, BStBl II 1980, 314, sowie BFH-Urteile in BFHE 152, 203, BStBl II 1988, 404, und in BFHE 156, 389, BStBl II 1989, 539; kritisch dazu Brüning, a.a.O., S.32).
Diese Regelungen stellen jedoch gegenüber § 174 Abs.1 bis 3 AO 1977 eigenständige Änderungsnormen dar, die anders als die Tatbestände der Absätze 1 bis 3 nicht auf die Fälle der alternativen Erfassung bestimmter Sachverhalte beschränkt sind (vgl. BFH-Entscheidung in BFH/NV 1991, 16 m.w.N.). Sie sind deshalb für die Beurteilung, ob den Regelungen in § 174 Abs.1 bis 3 AO 1977 ein Gebot korrespondierender steuerlicher Behandlung bestimmter --doppelt fehlerhaft berücksichtigter-- Sachverhalte zu entnehmen ist, ohne Bedeutung.
b) Schließlich kommt auch eine analoge Anwendung des § 174 Abs.4 und Abs.5 AO 1977 nicht in Betracht.
Gegenstand dieser Regelung ist nämlich ausdrücklich die Möglichkeit einer Änderung von Steuerbescheiden durch das FA, wenn ein anderer --aufgrund irriger Beurteilung des Sachverhalts ergangener-- Steuerbescheid zugunsten des betroffenen Steuerpflichtigen geändert wurde; der hier vorliegende, gleichsam gegenteilige Fall einer Änderung des anderen Steuerbescheids zuungunsten des --anderen-- Steuerpflichtigen ist ausdrücklich nicht zum Gegenstand der Regelung gemacht worden.
Vielmehr hat der Gesetzgeber die Anwendung der Vorschrift an die Voraussetzung einer Änderung des anderen Steuerbescheids "zugunsten" des betroffenen Steuerpflichtigen geknüpft. Damit ist der Zweck der Regelung ersichtlich auf die Durchsetzung des materiellen Steueranspruchs durch das FA gegenüber dem jeweils in Betracht kommenden Steuerpflichtigen gerichtet. Sowohl vor dem Hintergrund dieser besonderen --fiskalischen-- Zweckbestimmung der Vorschrift als auch im Hinblick auf den ausdrücklichen, auf eine Änderung "zugunsten" des Steuerpflichtigen abstellenden Wortlaut der Regelung kann somit eine Rechtsähnlichkeit der Fälle doppelt fehlerhafter Erfassung von Sachverhalten zu den in § 174 AO 1977 geregelten Änderungstatbeständen nicht angenommen werden.
Die Revision war daher als unbegründet zurückzuweisen (§ 126 Abs.2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Fundstellen
Haufe-Index 63958 |
BFH/NV 1992, 9 |
BStBl II 1992, 126 |
BFHE 165, 449 |
BFHE 1992, 449 |
BB 1992, 698 |
BB 1992, 698-699 (LT) |
DB 1992, 359-360 (LT) |
DStZ 1992, 156 (KT) |
HFR 1992, 217 (LT) |
StE 1992, 8 (K) |