Entscheidungsstichwort (Thema)
Verstoß gegen die Hinweispflicht nach § 89 Satz 1 AO 1977
Leitsatz (NV)
1. Bei einem eindeutigen Verstoß der Finanzbehörde gegen ihre Pflicht gemäß § 89 Satz 1 AO 1977 kann ein Erlaß wegen sachlicher Unbilligkeit in Betracht kommen.
2. Eine Hinweispflicht besteht, wenn sich die Stellung eines Antrags nach dem der Finanzbehörde ersichtlichen Sachverhalt aufdrängt.
3. Auch bei einer Vertretung durch einen Angehörigen der steuerberatenden Berufe darf die Behörde nicht untätig bleiben, wenn sie beobachtet, daß ein Antrag offensichtlich nur versehentlich unterbleibt.
Normenkette
AO 1977 § 89 S. 1, § 227 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist Alleinerbin nach ihrem 1972 gestorbenen Ehemann (Erblasser). Dieser war bis zu seinem Tod mit einem Anteil von 70 % als Komplementär an einer KG beteiligt; die Kommanditanteile von je 15 % hielten die Klägerin und ein Neffe des Erblassers. Am 13. Dezember 1972 übertrug die Klägerin den Anteil von 70 % auf den Neffen. Als Entgelt erhielt sie aus dem Vermögen der KG Grundstücke, Bankguthaben und eine Veräußerungsrente.
Anläßlich einer bei der KG durchgeführten Außenprüfung wurde festgestellt, daß die Klägerin bei der Veräußerung des geerbten Anteils einen Veräußerungsgewinn erzielt hatte. Diesen Veräußerungsgewinn berücksichtigte der Beklagte und Revisonsbeklagte (das Finanzamt - FA -) in einem geänderten Einkommensteuerbescheid 1972 vom 30. Oktober 1979. Die Klägerin legte gegen diesen Bescheid Einspruch ein mit der Begründung, der Veräußerungsgewinn unterliege dem ermäßigten Steuersatz. Der Einspruch wurde am 14. Dezember 1979 zurückgenommen. Über die Frage des ermäßigten Steuersatzes führt die KG einen Rechtsstreit.
Mit Schreiben vom 2. November 1982 beantragte die Klägerin unter Hinweis auf § 16 Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes 1971 (EStG) den Erlaß eines Teilbetrages der Einkommensteuer 1972 in Höhe von 124 710 DM aus sachlichen Billigkeitsgründen. Erst die Außenprüfung bei der KG habe ergeben, daß ein Veräußerungsgewinn anzunehmen sei und daß somit die entrichtete Erbschaftsteuer gemäß § 16 Abs. 5 EStG auf die Einkommensteuer 1972 hätte angerechnet werden können. Das FA hätte eine entsprechende Antragstellung im Rahmen seiner Fürsorgepflicht anregen müssen, zumal der damalige Sachbearbeiter beim FA für die Bearbeitung der betrieblichen und persönlichen Steuern zuständig gewesen sei. Da dies pflichtwidrig nicht geschehen sei, sei das FA verpflichtet, aus Billigkeitsgründen Einkommensteuer in Höhe der gemäß § 16 Abs. 5 EStG richtigerweise anzurechnenden Erbschaftsteuer zu erlassen.
Das FA lehnte den Erlaßantrag mit Bescheid vom 30. März 1983 ab. Die Beschwerde blieb erfolglos. Die Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion (OFD) vom 29. Juni 1983 führt u. a. aus, das FA könne und müsse im allgemeinen davon ausgehen, daß der Steuerpflichtige - zumal bei fachkundiger Beratung durch Angehörige der steuerberatenden Berufe - auf die Wahrnehmung der ihm günstigen steuerlichen Möglichkeiten selber achte. Die Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen des § 16 Abs. 5 EStG setze eine genaue und detaillierte Kenntnis der Besteuerungsgrundlagen bei der Erbschaftsteuer voraus, die in der Regel beim Einkommensteuer-FA nicht gegeben sein werde und von diesem auch nicht verlangt werden könne. Werde in einem solchen Fall von dem Steuerpflichtigen, der die Verhältnisse selbst am besten kenne, kein Antrag gestellt, könne dem FA keine Verletzung der Aufklärungs- und Fürsorgepflicht vorgeworfen werden.
Die Klage, mit der die Klägerin den Erlaß von (nur noch) 26 204 DM begehrte, hatte keinen Erfolg.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin Verletzung materiellen Rechts.
Sie beantragt, das Urteil des Finanzgerichts (FG) und die Beschwerdeentscheidung aufzuheben und das FA ,,zu verurteilen, einen Betrag in Höhe von 26 204 DM Einkommensteuer 1972 zu erlassen".
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Der Vorsitzende des erkennenden Senats wies die Klägerin darauf hin, daß die Revisionsbegründungsfrist am 2. Mai 1985 abgelaufen und mit Eingang der Revisionsbegründung am 3. Mai 1985 versäumt worden sei. Daraufhin beantragte der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin wegen Versäumung dieser Frist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er brachte vor, eine Angestellte seines Büros habe die Revisionsbegründungsschrift am 29. April 1985 gegen 18 Uhr in einen Briefkasten vor dem Postamt am M-Platz in Berlin eingeworfen; der Briefkasten werde ausweislich der Beschilderung auch um 18.45 Uhr geleert. Dies wurde durch eidesstattliche Versicherung der Angestellten glaubhaft gemacht. Da die regelmäßige Postlaufzeit nach München nicht mehr als einen Tag betrage, habe mit einem Eingang beim Bundesfinanzhof (BFH) am 30. April 1985 gerechnet werden können.
Der Vorsitzende des erkennenden Senats hat beim Postamt 11 in Berlin und beim Postamt 80 in München amtliche Auskünfte eingeholt.
Entscheidungsgründe
I. Die Revision ist zulässig.
Die bis zum 2. Mai 1985 laufende Frist zur Begründung der Revision ist versäumt, weil die Revisionsbegründung erst am 3. Mai 1985 beim BFH eingegangen ist (§ 120 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Nach § 56 Abs. 1 FGO ist jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zu gewähren, weil sie ohne Verschulden nicht eingehalten worden ist.
Durch die eidesstattliche Versicherung einer Angestellten des Prozeßbevollmächtigten wurde glaubhaft gemacht, daß die Postsendung mit der Revisionsbegründungsschrift am 29. April 1985 (Montag) gegen 18 Uhr in Berlin in einen Briefkasten eingeworfen wurde, der ausweislich der Beschilderung auch um 18.45 Uhr geleert wird. Diese Angaben bestätigt der auf dem Briefumschlag angebrachte Poststempel ,,29. 4. 85 - 21". Auf Anfrage durch den Vorsitzenden des Senats hat das - aus dem Poststempel ersichtliche - Postamt 11 in Berlin mitgeteilt, ,,die betreffende Sendung hätte - regulären Betriebsablauf und richtige Behandlung der Sendung vorausgesetzt - am Dienstag, dem 30. 04. 85, beim Bestimmungspostamt zur Aushändigung an den Empfänger vorliegen müssen". Eine weitere Anfrage des Vorsitzenden des erkennenden Senats beim Postamt 80 in München ergab, daß die fehlerhafte Adresse des BFH auf dem Briefumschlag der Revisionsbegründungsschrift (Ismaninger Straße 80 statt richtig Ismaninger Straße 109) zu keiner Verzögerung bei der Zustellung geführt hat.
Mithin hat der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin das seinerseits Notwendige getan, um einen fristgerechten Eingang der Revisionsbegründung beim BFH zu erreichen.
II. Die Revision ist zum Teil begründet.
1. a) Gemäß § 227 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden. Die Entscheidung über einen Antrag auf Erlaß von Steuern aus Billigkeitsgründen nach § 227 Abs. 1 AO 1977 ist eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörde. Eine solche Entscheidung unterliegt nach dem Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70 (BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603) einer richterlichen Nachprüfung. Dies beruht darauf, daß der Begriff ,,unbillig" in den Ermessensbereich hineinragt und der Maßstab der Billigkeit zugleich Inhalt und Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens bestimmt (vgl. BFH-Urteile vom 26. Oktober 1972 I R 125/70, BFHE 108, 146, BStBl II 1973, 271; vom 15. Februar 1973 V R 152/69, BFHE 108, 571, BStBl II 1973, 466).
b) Nach § 102 FGO dürfen die FG eine Ermessensentscheidung nur auf Ermessensüberschreitung, Ermessensfehlgebrauch und in Ausnahmefällen auf die Verletzung des Grundsatzes der Ermessensreduzierung hin überprüfen (vgl. dazu Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 102 FGO Anm. 1). Der BFH hat als Revisionsgericht zu prüfen, ob dem FG bei seiner Rechtsanwendung bezüglich der Ermessensentscheidung Rechtsfehler unterlaufen sind.
c) Eine fehlerfreie Ermessensausübung setzt voraus, daß die Finanzbehörde ihre Entscheidung aufgrund eines einwandfrei und erschöpfend ermittelten Sachverhalts trifft (vgl. BFH-Urteile vom 15. Juni 1983 I R 76/82, BFHE 139, 146, BStBl II 1983, 672; vom 23. Mai 1985 V R 124/79, BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489) und dabei die Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher Art berücksichtigt, die nach Sinn und Zweck der Norm, die das Ermessen einräumt, maßgeblich sind (vgl. BFH-Urteile vom 1. Juli 1981 VII R 84/80, BFHE 134, 79, BStBl II 1981, 740, und in BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489). Diese Voraussetzungen erfüllen die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen nicht.
2. Das FG hat zu Unrecht das Vorliegen eines (Ermessens-)Fehlers bei der Ablehnung des Erlaßantrags verneint.
a) Nach dem Einführungserlaß zur AO 1977 (BStBl I 1976, 576, 594 - zu § 89 Nr. 2 -) kann es bei einem eindeutigen Verstoß der Finanzbehörden gegen die Fürsorgepflicht nach § 89 Satz 1 AO 1977 geboten sein, die zu Unrecht festgesetzte Steuer wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen (vgl. auch Tipke/Kruse, a. a. O., § 89 AO 1977 Anm. 5; Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 89 AO 1977 Anm. 29). Die Nachprüfung des unanfechtbar gewordenen Steuerbescheids folgt in diesem Fall aus dem Grundsatz von Treu und Glauben (vgl. BFH-Urteil vom 10. Juni 1975 VIII R 50/72, BFHE 116, 103, BStBl II 1975, 789); der Bürger soll so gestellt werden, als wäre der Verstoß der Behörde gegen bestehende ,,Fürsorge- und Betreuungspflichten" (BT-Drucks 7/910 S. 49) nicht passiert. Die Erwägungen von FA, OFD und FG reichen nicht aus, um einen solchen Verstoß bejahen oder verneinen zu können.
b) FA, OFD und FG gehen offenbar in erster Linie davon aus, daß die Tatbestandsmäßigkeit des § 89 Satz 1 AO 1977 nicht gegeben ist, weshalb ein Hinweis nicht geboten gewesen sei. Zu der ähnlichen Rechtslage vor dem Inkrafttreten der AO 1977 (§ 204 der Reichsabgabenordnung - AO -) wurde die Auffassung vertreten, das FA habe auf einen unterlassenen Antrag nur dort hinzuweisen, wo der Steuerpflichtige offensichtlich nicht ,,im Bilde" ist und der Antrag ,,gewissermaßen in der Luft liegt" (BFH-Urteil vom 22. Januar 1960 VI 175/59 U, BFHE 70, 474, BStBl III 1960, 178). Eine solche Situation kann gegeben sein, wenn für die Finanzbehörde aus ersichtlichen Gründen (z. B. nach Aktenlage) Anlaß besteht, den Beteiligten auf eine nicht beantragte, aber naheliegende Steuermilderung aufmerksam zu machen (vgl. Söhn, a. a. O., § 89 AO 1977 Anm. 20).
c) Die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen lassen eine Ermittlung und Berücksichtigung des sonach für § 89 Satz 1 AO 1977 erheblichen und im Rahmen des Erlaßantrags zu prüfenden Sachverhalts nicht erkennen.
Die Beschwerdeentscheidung stützt sich auf die allgemein gehaltene Aussage, daß die Erfolgsaussichten eines Antrags nach § 16 Abs. 5 EStG für das mit der Einkommensteuer befaßte FA nur sehr schwer zu beurteilen seien. Die hierfür erforderliche genaue und detaillierte Kenntnis der Besteuerungsgrundlagen der Erbschaftsteuer werde in der Regel nicht beim Einkommensteuer-FA gegeben sein und von diesem auch nicht verlangt werden können.
Diese Erwägungen lassen Ermittlungen zum konkreten Sachverhalt vermissen. Es geht nicht darum, welche Kenntnisse bei einem ,,Einkommensteuerfinanzamt" in der Regel gegeben sein werden, sondern welche im Streitfall gegeben waren. Nicht erforderlich ist auch, daß das FA die Erfolgsaussichten eines ggf. ,,in der Luft liegenden" Antrags abschließend beurteilen kann. Für die Hinweispflicht nach § 89 Satz 1 AO 1977 genügt es, wenn sich die Stellung eines Antrags nach dem der Finanzbehörde ersichtlichen Sachverhalt aufdrängt.
d) Auch das Urteil des FG geht unzutreffend davon aus, daß aus den Akten der Finanzbehörde die Einzelheiten für die Steuerermäßigung nach § 16 Abs. 5 EStG hätten ersichtlich sein müssen. Damit würden die Anforderungen an die Hinweispflicht in § 89 Satz 1 AO 1977 überspannt. Das FG hat in seiner die Auffassung der Finanzbehörde stützenden Zusatzerwägung auf Vermögensteuererklärungen und auf einen Außenprüfungsbericht verwiesen, den auf den Streitfall bezogenen Inhalt der Akten jedoch nicht festgestellt. Die Verwaltungsentscheidungen erwähnen diese Unterlagen nicht. Dieser Sachverhalt kann für die Tatbestandsmäßigkeit des § 89 Satz 1 AO 1977 und damit gleichzeitig für die Ermessensausübung i. S. des § 227 Abs. 1 AO 1977 erheblich sein. Diese Ermessensausübung obliegt aber nicht dem FG, sondern der Finanzbehörde.
3. Soweit die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen die Vertretung der Klägerin durch einen Angehörigen der steuerberatenden Berufe erwähnen, verstehen sie dies offenbar als Anlaß für ein Abweichen von der Sollvorschrift des § 89 Satz 1 AO 1977 (vgl. Söhn, a. a. O., § 89 AO 1977 Anm. 4; Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl., 1974 S. 196).
Es wird die Auffassung vertreten, es sei nicht Aufgabe der Behörde, darüber zu wachen, ob Angehörige der steuerberatenden Berufe ihre Mandanten mit größtmöglicher Effektivität betreuen (Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., 1983, § 89 AO 1977 Anm. 3). In solchen Fällen seien im allgemeinen weniger strenge Anforderungen an die Hinweispflicht zu stellen als gegenüber unerfahrenen, rechtsunkundigen Beteiligten (vgl. Kopp, Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Aufl., 1983, § 25 Anm. 4). Gleichwohl darf die Behörde auch in einem solchen Fall nicht untätig bleiben, wenn sie beobachtet, daß ein Antrag offensichtlich nur versehentlich unterbleibt (vgl. Tipke/Kruse, a. a. O., § 89 AO 1977 Anm. 3; Söhn, a. a. O., § 89 AO 1977 Anm. 20).
4. Das angefochtene Urteil und die Verwaltungsentscheidungen waren aufzuheben. Der Finanzbehörde wird damit die nochmalige Entscheidung über den Erlaßantrag unter Berücksichtigung der dargestellten Gesichtspunkte ermöglicht.
Die Klägerin ist damit nicht mit ihrem Begehren, das FA zu dem Steuererlaß zu verpflichten, durchgedrungen. Diese Frage ist unentschieden und erneut zu prüfen. Der Senat hält deshalb eine Kostenteilung je zur Hälfte für das gesamte Verfahren für angemessen (§ 136 Abs. 1 Satz 1 FGO; BFH-Urteile vom 31. März 1976 I R 51/74, BFHE 118, 537, BStBl II 1976, 499; vom 24. September 1976 I R 41/75, BFHE 120, 212, BStBl II 1977, 127; in BFHE 139, 146, BStBl II 1983, 672).
Fundstellen
Haufe-Index 414321 |
BFH/NV 1986, 506 |