Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorgezogenes Knappschaftsruhegeld - Altersruhegeld - Beginn der Rente - Laufdauer der Rente - Leibrente
Leitsatz (amtlich)
Das vorgezogene Knappschaftsruhegeld (§ 48 Abs.2 RKG) ist als lebenslängliche, nicht als abgekürzte Leibrente zu besteuern.
Orientierungssatz
1. Renten aus den gesetzlichen Sozialversicherungen sind --ggf. abgekürzte-- Leibrenten i.S. des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG. Daraus erschließt sich die Grundannahme des Gesetzgebers, daß ab Beginn der Rente eine Versicherungssumme auf die Lebenszeit des Bezugsberechtigten verzinslich ausgezahlt wird; diese Grundannahme wird nicht dadurch außer Kraft gesetzt, daß die nicht ausschließlich nach dem Versicherungsprinzip, sondern auch nach dem Prinzip der Fürsorge ausgestaltete Versicherungsleistung hinsichtlich ihrer Höhe von bedarfsorientierten Tatbestandsmerkmalen abhängig ist (vgl. BFH-Rechtsprechung).
2. Nach Sozialversicherungsrecht ist der "Versicherungsfall" --im Regelfall-- der Eintritt des versicherten Risikos, der die Leistungspflicht des Versicherungsträgers begründet, mithin der versicherte Bedarfsfall. Alle Ansprüche auf Versicherungsleistungen sind ihrem Rechtsgrund nach auf das bei Eintritt des jeweiligen Versicherungsfalles bestehende Versicherungsverhältnis bezogen (vgl. BSG-Rechtsprechung; Literatur).
3. Das vorzeitige Altersruhegeld für Arbeitslose ist keine Rente wegen unterstellter Berufsunfähigkeit, sondern "seinem Wesen nach" ein echtes Altersruhegeld (vgl. BSG-Urteil vom 28.9.1967 12 RJ 42/66; Literatur).
Normenkette
EStG § 22 Nr. 1 S. 3 Buchst. a Sätze 3-4; EStDV § 55 Abs. 2; RKG § 48 Abs. 2
Tatbestand
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind zusammenveranlagte Eheleute. Der am 1.Juli 1925 geborene Kläger war im Bergbau beschäftigt. Er erhielt nach einer Zechenstillegung bis zum 30.Juni 1985 --der Vollendung seines 60.Lebensjahres-- Knappschaftsausgleichsleistungen nach § 98a des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG); seit dem 1.Juli 1985 bezieht er vorzeitiges Knappschaftsruhegeld nach § 48 Abs.2 RKG. Nach dem Bescheid der Bundesknappschaft vom 25.Juli 1985 liegt der Leistung ein Versicherungsfall vom 30.Juni 1985 zugrunde.
In dem Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr 1986 unterwarf der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) die Knappschaftsrente mit einem Ertragsanteil von 29 v.H. der Steuer. Mit Einspruch und Klage machten die Kläger geltend, der Ertragsanteil betrage 9 v.H.
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen.
Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung materiellen Rechts. Sie tragen vor: Nach dem vorliegenden Sachverhalt sei auch weiterhin zu erwarten, daß der Ehemann kurzfristig eine versicherungspflichtige Tätigkeit aufnehmen werde. Dadurch werde sich sein "Rentengefüge" ändern. Insbesondere könne sich durch weitere Beitragsentrichtung das spätere Altersruhegeld erhöhen. Die neu erworbenen Rentenanwartschaften würden dann zu einer Neuberechnung der Rente zum 65.Lebensjahr führen. Die Rechtslage sei mit der bei einer Hinterbliebenenrente nicht vergleichbar. Das vorgezogene Knappschaftsruhegeld habe andere Anspruchsvoraussetzungen als das Altersruhegeld nach § 48 Abs.5 und 6 RKG. Eine bis an sein Lebensende gesicherte Position erhalte der Versicherte erst mit Vollendung des 65.Lebensjahres. Aus der Formulierung des § 48 Abs.2 RKG ergebe sich, daß das vorgezogene Knappschaftsruhegeld zeitlich beschränkt sei. Selbst wenn die den Rahmen des § 48 Abs.3 RKG übersteigende Tätigkeit wieder wegfalle, lebe der Rentenanspruch nicht automatisch wieder auf.
Die Kläger beantragen, das Urteil des FG aufzuheben und die Einkommensteuer im angefochtenen Bescheid auf 0 DM festzusetzen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Das FG hat zu Recht entschieden, daß das vorgezogene Knappschaftsruhegeld zusammen mit dem ab Vollendung des 65.Lebensjahres gewährten Altersruhegeld eine einzige Leibrente ist, die bis zum Lebensende des Bezugsberechtigten gezahlt wird.
1. Renten aus den gesetzlichen Sozialversicherungen sind --ggf. abgekürzte-- Leibrenten i.S. des § 22 Nr.1 Satz 3 Buchst.a des Einkommensteuergesetzes --EStG-- (ausführlich Urteil des Senats vom 8.März 1989 X R 16/85, BFHE 156, 432, BStBl II 1989, 551 unter 2. a). Die "Einkünfte aus den Erträgen des Rentenrechts" sind abhängig von der "gesamten Dauer des Rentenbezugs", die sich darstellt als die vom "Beginn der Rente" an bemessene "voraussichtliche Laufzeit" (§ 22 Nr.1 Satz 3 Buchst.a Satz 2 EStG). Aus der Einbeziehung der Sozialversicherungsrenten in die Ertragsanteilsbesteuerung erschließt sich die Grundannahme des Gesetzgebers, daß ab Beginn der Rente eine Versicherungssumme auf die Lebenszeit des Bezugsberechtigten verzinslich ausgezahlt wird; diese Grundannahme wird nicht dadurch außer Kraft gesetzt, daß die nicht ausschließlich nach dem Versicherungsprinzip, sondern auch nach dem Prinzip der Fürsorge ausgestaltete Versicherungsleistung hinsichtlich ihrer Höhe von bedarfsorientierten Tatbestandsmerkmalen abhängig ist (Urteil des Senats vom 12.Juli 1989 X R 33/86, BFHE 158, 232, BStBl II 1989, 1012).
2. a) Der "Beginn der Rente" (Kopfleiste der Ertragswerttabelle § 22 Nr.1 Satz 3 Buchst.a EStG) bzw. der "Beginn des Rentenbezugs" (Kopfleiste der Ertragswerttabelle des § 55 Abs.2 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung --EStDV--) ist der Zeitpunkt der Entstehung des Rentenanspruchs (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 6.April 1976 VIII R 184/72, BFHE 118, 467, BStBl II 1976, 452). Dieser ist grundsätzlich auf den Eintritt des sozialrechtlich maßgebenden Versicherungsfalles zu datieren. Nur so kann "für die gesamte Dauer des Rentenbezugs" (§ 22 Nr.1 Satz 3 Buchst.a, Satz 2 EStG) ein einziger "Ertrag des Rentenrechts (Ertragsanteil)" ermittelt werden (Urteil des Senats in BFHE 158, 232, BStBl II 1989, 1012 m.w.N.). Auf den Zeitpunkt der Antragstellung oder der Bewilligung der Rente durch den Versicherungsträger kommt es nicht an.
Nach Sozialversicherungsrecht ist der "Versicherungsfall" nicht der "Leistungsfall" als Inbegriff der Voraussetzungen, an die das Gesetz die Entstehung eines Leistungsanspruchs knüpft, sondern --im Regelfall-- der Eintritt des versicherten Risikos, der die Leistungspflicht des Versicherungsträgers begründet, mithin der versicherte Bedarfsfall (vgl. Urteile des Bundessozialgerichts --BSG-- vom 5.März 1965 11/1 RA 239/61, BSGE 22, 278; vom 29.April 1971 3 RK 3/71, BSGE 32, 270, 272 f.; Bley, Grundbegriffe des Sozialrechts, 1988, Stichwort 169 "Versicherungsfall"). Die in § 44 RKG (§ 1245 der Reichsversicherungsordnung --RVO--; § 22 des Angestelltenversicherungsgesetzes --AVG--) genannten Arten der "Renten für Versicherte" wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit und nach Erreichen der Altersgrenze sowie die Bergmannsrente (§ 45 RKG) und die "Renten an Hinterbliebene" (Überschrift zu §§ 63 ff. RKG, §§ 1263 ff. RVO; §§ 40 ff. AVG) beziehen sich auf die wesentlichen Risiken im Leben eines Versicherten: gesundheitsbedingte Verminderung der Leistungsfähigkeit, Alter und Tod. Alle Ansprüche auf Versicherungsleistungen sind ihrem Rechtsgrund nach auf das bei Eintritt des jeweiligen Versicherungsfalles bestehende Versicherungsverhältnis bezogen (BSG-Urteil vom 28.April 1981 3 RK 12/80, BSGE 51, 287, 288 - Grundsatz der Einheit des Versicherungsfalls; Bley, a.a.O.; 6.Aufl. 1988, S.188 ff.).
b) Nach dem Urteil des BSG in BSGE 22, 278 sind aus dem Begriff des Versicherungsfalles alle Umstände herauszuhalten, "die einen Anspruch nicht - oder weniger - dem Grunde nach bestimmen, sondern seinen Beginn, seine Höhe und Dauer beeinflussen oder sich doch als bloße Modifikationen des Grundanspruchs - Stammrechts - verstehen lassen". Das Urteil des BSG in BSGE 22, 278 kommt damit zu dem Schluß, daß bei allen Renten wegen Berufsunfähigkeit --auch bei der Rente auf Zeit (§ 72 RKG; § 1276 RVO; § 53 AVG)-- maßgeblicher Versicherungsfall der Eintritt der Berufsunfähigkeit ist. Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 22. Januar 1991 X R 97/89 (BFHE 164, 304) entschieden, daß dies auch für die Auslegung des steuerrechtlichen Tatbestandsmerkmals "Beginn der Rente" maßgebend ist.
c) Für die Bestimmung des Versicherungsfalles bei Hinterbliebenenrenten ist es unerheblich, ob die Rente --wie bei der Witwenrente (Senat in BFHE 156, 432, BStBl II 1989, 551)-- bedarfsabhängig schwankt oder --wie bei der Wiederauflebensrente (Urteil des Senats in BFHE 158, 232, BStBl II 1989, 1012)-- zeitweilig fortfällt.
3. Entsprechendes gilt für die hier zu entscheidenden Fragen nach dem für das Altersruhegeld maßgebenden Versicherungsfall und der voraussichtlichen Laufzeit dieser Rente.
a) Im Falle des Altersruhegeldes ist versichertes Risiko das durch Erreichen der Altersgrenze bedingte Ausscheiden aus dem Berufsleben. Das Sozialversicherungsrecht kennt drei verschiedene Arten von Altersgrenzen (vgl. im einzelnen Ruland in von Maydell/Ruland, (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 1988, Kapitel 16 Rdnr.141 ff.):
- Die reguläre Altersgrenze wird erreicht bei Vollendung des 65.Lebensjahres (§ 48 Abs.5 RKG; § 1248 Abs.5 RVO; § 25 Abs.5 AVG).
- Das dem flexiblen Altersruhegeld nach § 25 Abs.1 AVG, § 1248 Abs.1 RVO entsprechende Knappschaftsruhegeld nach § 48 Abs.1 RKG erhält der Versicherte, der das 63.Lebensjahr oder --im Falle der Schwerbehinderung oder der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit-- das 60.Lebensjahr vollendet hat; ferner der Versicherte, der das 60.Lebensjahr vollendet, die Wartezeit nach § 49 Abs.2 RKG erfüllt hat und eine Beschäftigung in einem knappschaftlichen Betrieb nicht mehr ausübt.
- Die vorzeitige Altersgrenze für weibliche Versicherte (§ 48 Abs.3 RKG; § 1248 Abs.3 RVO; § 25 Abs.3 AVG) und langfristig Arbeitslose (§ 48 Abs.2 RKG; § 1248 Abs.2 RVO; § 25 Abs.2 AVG) wird mit Vollendung des 60.Lebensjahres erreicht.
Neben dem flexiblen und dem vorzeitigen Altersruhegeld darf Einkommen aus einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit nur begrenzt erzielt werden (§ 48 Abs.4 RKG; § 1248 Abs.4 RVO; § 25 Abs.4 AVG). Die genannten Renten fallen mit Beginn des Monats fort, in dem die gesetzlichen Höchstgrenzen eines Hinzuverdienstes überschritten werden.
b) § 53 Abs.3 Satz 2 RKG (§ 1253 Abs.2 Satz 2 RVO) spricht von der Umwandlung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit in eine solche wegen Erwerbsunfähigkeit; § 53 Abs.5 RKG (§ 1254 Abs.2 Satz 1 RVO) bestimmt Näheres zur Umwandlung einer Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit in das Altersruhegeld; § 86 RKG (§ 1286 Abs.1 RVO) behandelt den Fall der Rückumwandlung einer höherwertigen in eine geringerwertige Rente. Die genannten Vorschriften beruhen auf der Erwägung, daß die bisherige auf einem bestimmten Versicherungsfall beruhende Rente in eine andere Rente umzuwandeln ist, sobald ein anderer Versicherungsfall eingetreten ist. Wenn demgegenüber das Gesetz zur Umwandlung des vorzeitigen in das allgemeine Altersruhegeld schweigt, hängt dies damit zusammen, daß das vorzeitige Altersruhegeld für Arbeitslose keine Rente wegen unterstellter Berufsunfähigkeit, sondern "seinem Wesen nach" ein echtes Altersruhegeld ist (vgl. BSG-Urteil vom 28.September 1967 12 RJ 42/66, BSGE 27, 167; Kaltenbach/Maier in Koch/Hartmann/von Altrock/Fürst, Das Angestelltenversicherungsgesetz, Kommentar, § 25 Anm.C II.). Ungeachtet des Umstandes, daß diese Rente entfallen kann, wenn der Versicherte eine rentenversicherungspflichtige Tätigkeit oder Beschäftigung aufnimmt, gibt es nach dem Willen des Gesetzgebers nur einen Versicherungsfall des Alters und daher nur ein Altersruhegeld (BSG in BSGE 27, 167, 170; s. ferner BSG-Urteil vom 9.November 1982 11 RA 48/82, Rechtsprechung zum Sozialrecht --SozR-- 2200 § 1248 RVO Nr.39 m.w.N.; Kaltenbach/Maier, a.a.O., § 25 Anm.A; Schimanski/Emmerich/Lueg, Knappschaftsversicherung, § 48 Anm.9). Auch für Leistungen nach dem RKG verneint das BSG eine Umwandlung des vorzeitigen Ruhegeldes in das Knappschaftsgeld wegen Vollendung des 65.Lebensjahres (BSG-Urteil vom 28.April 1965 5 RKn 114/62, SozR § 48 RKG Nr.2). Es besteht ein enger sachlicher Zusammenhang zwischen dem vorzeitigen und dem regulären Altersruhegeld: Die Möglichkeit, vor Vollendung des 65.Lebensjahres aus dem Erwerbsleben auszuscheiden, ist dem Versicherten eingeräumt, weil er sich der allgemeinen Altersgrenze so genähert hat, daß eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit bei Hinzutreten typischer Belastungen (Schwerbehinderung, Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit, langdauernde Arbeitslosigkeit, Doppelbelastung der Frau in Familie und Beruf) oder --im Falle des flexiblen Altersruhegeldes-- schon allein wegen der großen Nähe zur allgemeinen Altersgrenze im Einzelfall unzumutbar sein kann (vgl. BSG-Urteil vom 31.Mai 1989 4 RA 22/88, SozR 2200 § 1248 RVO Nr.48; vgl. allgemein zur Einführung einer flexiblen Altersgrenze Entwurf eines Rentenreformgesetzes, BTDrucks VI/2916, S.37 f.).
c) Mit dem Eintritt des vorgenannten Versicherungsfalles ist das versicherungspflichtige Erwerbsleben des Beziehers von Altersruhegeld in der Regel auf Dauer beendet. Die "voraussichtliche Dauer des Rentenbezugs" im Rechtssinne wird nicht allein dadurch abgekürzt, daß das vorzeitige oder flexible Altersruhegeld bei Aufnahme einer den Rahmen des § 48 Abs.4 RKG übersteigenden Beschäftigung wegfallen kann, oder daß der Rentenbezieher erklärt, ein Fortfall der Rente erscheine möglich.
Fundstellen
Haufe-Index 63990 |
BFH/NV 1991, 62 |
BStBl II 1991, 688 |
BFHE 164, 300 |
BFHE 1992, 300 |
BB 1992, 257 |
BB 1992, 257-258 (LT) |
DB 1991, 2267 (L) |
HFR 1991, 659 (LT) |
StE 1991, 290 (K) |