Entscheidungsstichwort (Thema)
Einkommensteuer, Lohnsteuer, Kirchensteuer
Leitsatz (amtlich)
Eine Gewinnverwirklichung kann entfallen, auch wenn bei einer durch behördlichen Eingriff erzwungenen Aufdeckung einer stillen Rücklage in einem Grundstück die Ersatzbeschaffung vor der Aufdeckung liegt.
Normenkette
EStG § 4 Abs. 1, §§ 5, 6/1/1, § 6b
Tatbestand
Die Bgin. betreibt in A. eine Lebensmittelgroßhandlung. Sie besaß früher in der stark zerstörten Innenstadt Betriebsgebäude, die schwer kriegsbeschädigt waren, nämlich
nördlich der X-Gasse zwei Grundstücke mit 210 und 467 qm sowie
südlich der X-Gasse ein Grundstück mit 529 qm. Im Zuge des Wiederaufbaus der Stadt mußte sie Teile dieser Grundstücke entschädigungslos an die Stadt abtreten. Ein Wiederaufbau des Betriebs auf den Restflächen wäre unwirtschaftlich gewesen; zudem drängte die Stadtverwaltung im Interesse der Auflockerung der Innenstadt die Anlieger, ihre Betriebe möglichst an die Ausfallstraßen zu verlegen. Die Bgin. erwarb aus diesen Gründen für den Wiederaufbau ihres Betriebs Gelände an anderer Stelle der Stadt, und zwar im November 1952 2200 qm und im Juli 1953 1223 qm. Von dem bisherigen Besitz verkaufte sie im November 1952 die zwei Grundstücke nördlich der X-Gasse für 31 100 DM; die dabei aufgedeckte stille Reserve von 22 335 DM übertrug sie auf den neu erworbenen Grundbesitz; das Finanzamt war damit einverstanden. Für das Grundstück südlich der X-Gasse fand sich zunächst kein Käufer. Wegen des schlechten Schnitts konnte es nur zusammen mit Nachbarflächen genutzt werden. Die Firma, deren Gelände angrenzte, wollte es zunächst kaufen, konnte aber, weil sie selbst schweren Kriegsschaden gehabt hatte, die Mittel nicht aufbringen. Später trat die Stadt mit dem Plan hervor, das Grundstück in einen öffentlichen Parkplatz einzubeziehen. Sie machte der Bgin. erstmalig im Mai 1954 ein Kaufangebot. Nachdem die erforderlichen Beschlüsse der städtischen Körperschaften ergangen waren, wurde im Juli 1955 der Kaufvertrag abgeschlossen; die Bgin. erhielt als Kaufpreis 21 000 DM. Insgesamt erlöste die Bgin. also aus ihrem bisherigen Besitz ( 31 100 + 21 000=) 52 100 DM; für die neuen Grundstücke wandte sie 80 700 DM auf. Die Mittel hatte sie wie folgt aufgebracht: Bei dem ersten Erwerb belegte sie den Kaufpreis von 62 412 DM mit 30 000 DM in bar, die aus dem Erlös für die Grundstücke nördlich der X-Gasse stammten; der Rest war in Raten zu tilgen. Der zweite Erwerb wurde mit 18 345 DM bar bezahlt. Die Mittel dafür und für die Raten aus dem ersten Kauf stammten aus Bankkrediten. Den im Juli 1955 vereinnahmten Kaufpreis von 21 000 DM benutzte die Bgin. zur Abdeckung dieses Bankkredits. Das Grundstück nördlich der X- Gasse stand in der Bilanz vom 31. Dezember 1954 mit 7625 DM zu Buch; den Unterschied von (21000 ./. 7625 = ) 13 375 DM wies die Bgin. nicht als Gewinn aus, sondern buchte ihn von den Anschaffungskosten des neuen Grundbesitzes ab. Sie berief sich auf das Urteil des Bundesfinanzhofs I 95056 U vom 4. September 1956 (BStBl 1956 III S. 332, Slg. Bd. 63 S. 349) und Abschnitt 35 Abs. 2 EStR 1955. Das Finanzamt setzte den Gewinn als verwirklichten Veräußerungsgewinn im Sinne des Abschnitts 35 Abs. 1 EStR 1955 an.
Das Finanzgericht gab der Berufung statt; es folgte der Auffassung der Bgin. Es begründete seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt: Die Bgin. habe die Betriebsverlagerung nicht aus freien Stücken, sondern unter dem Zwang der Verhältnisse vorgenommen. Wäre die Bgin in der üblichen Reihenfolge verfahren und hätte sie zunächst den gesamten Altbesitz veräußert und dann unmittelbar mit dem Erlös die Ersatzgrundstücke erworben, so hätte sie keinen Gewinn realisiert. Es könne aber nicht anders sein, wenn ein Teil des Altbesitzes erst später veräußert werde. Die zweite Veräußerung dürfe nicht für sich allein betrachtet werden; sie sei zu dem gleichen Zwecke wie die erste Veräußerung geschehen, nämlich um den Erlös zur Anschaffung des neuen Grundbesitzes zu verwenden. Die Bgin. habe mit der Erlös die aus dem Neuerwerb verbliebenen Schulden abgedeckt. Zu einem anderen Ergebnis müßte man kommen, wenn die Bgin. mit der Verzögerung des Verkaufs des zweiten Grundstücks spekulative Absichten verbunden hätte; dann wäre die Gewinnrealisierung zu bejahen. Für eine solche Beurteilung biete aber der Fall keinen Anhalt. Die Bgin. habe das zweite Grundstück nicht früher verkaufen können, weil es nur beschränkt verwertbar gewesen sei; es habe einem Bebauungsverbot unterlegen und sei zum öffentlichen Parkplatz bestimmt gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Rb. des Vorstehers des Finanzamts ist nicht begründet.
Die Entscheidung hängt davon ab, ob die Bgin. durch den zweiten Verkauf im Juli 1955 einen Gewinn verwirklicht hat. Der Begriff Gewinnverwirklichung ist wirtschaftlich auszulegen. Im allgemeinen tritt die Gewinnverwirklichung mit der Veräußerung eines Wirtschaftsguts ein. Wenn aber eine stille Rücklage nicht durch eine vom Kaufmann freiwillig vorgenommene Veräußerung aufgedeckt wird, sondern infolge höherer Gewalt oder infolge eines behördlichen Eingriffs oder zur Vermeidung eines drohenden behördlichen Eingriffs, so verneint die Rechtsprechung eine zur Besteuerung führende Gewinnverwirklichung, sofern innerhalb angemessener Frist ein Ersatzwirtschaftsgut beschafft wird. Es wird auf die Urteile des Senats I 95056 U vom 4. September 1956 (a. a. O.) und I 315/56 U vom 3. September 1957 (BStBl III S. 386, Slg. Bd. 65 S. 402), auf Abschnitt 35 Abs. 2 EStR 1955 sowie die übersicht bei Littmann, Das Einkommensteuerrecht, 6. Aufl., 1959, Anm. 348 ff. zu § 6 EStG verwiesen. In der Regel folgt zwar die Ersatzbeschaffung zeitlich dem Vorgang nach, der zur Aufdeckung der stillen Rücklagen führt. Unter besonderen Umständen kann sie aber auch vorangehen, z. B. wenn ein Unternehmer einen behördlichen Eingriff (Enteignung) als unmittelbar bevorstehend erkennt und bereits vor dem Eingriff ein Ersatzgut beschafft, weil sich eine günstige Gelegenheit bietet. Das Wesentliche ist, ob einwandfrei ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem behördlichen Eingriff und der Ersatzbeschaffung dargetan werden kann. Wenn ein Unternehmer freiwillig oder aus spekulativen Gründen zwischen Gewinnaufdeckung und Ersatzbeschaffung eine unangemessen lange Zeit verstreichen läßt, so ist eine übertragung der stillen Rücklagen ausgeschlossen; der Gewinn ist dann als verwirklicht zu behandeln.
Die Vorentscheidung entspricht im Ergebnis diesen Rechtsgrundsätzen. Das Finanzgericht konnte auf Grund seiner tatsächlichen Feststellungen ohne Rechtsverstoß zu der Auffassung kommen, die Bgin. habe infolge höherer Gewalt und behördlicher Eingriffe zwangsweise ihren bisherigen Grundbesitz verkaufen müssen. Die Zwangsläufigkeit begründet es damit, daß die Bgin. ihre kriegszerstörten Betriebsgebäude an der alten Stelle nicht habe wiederaufbauen können, weil infolge der erzwungenen entschädigungslosen Teilabtretung die Restgrundstücke nicht mehr wirtschaftlich hätten genutzt werden können; überdies habe für das Grundstück südlich der X-Gasse ein Bauverbot bestanden, weil das Grundstück nach der Stadtplanung in einen öffentlichen Parkplatz hätte einbezogen werden sollen. Diese von ihrem Willen unabhängigen Umstände hätten die Bgin. gezwungen, ihren bisherigen Grundbesitz abzustoßen und anderen Grundbesitz für den Aufbau der Betriebsgebäude zu erwerben. Diese Erwägungen sind rechtlich einwandfrei. Das Finanzamt hat ihre Richtigkeit selbst dadurch anerkannt, daß es die bei dem Verkauf der beiden Grundstücke nördlich der X-Gasse im Jahre 1952 aufgedeckten stillen Rücklagen auf den neu erworbenen Grundbesitz übertragen ließ. Die bei dem Verkauf des Grundstücks südlich der X-Gasse im Jahre 1955 aufgedeckte stille Rücklage konnte das Finanzgericht ohne Rechtsirrtum ebenso behandeln. Nach seinen Feststellungen war die Bgin. von vornherein entschlossen, auch das zweite Grundstück abzustoßen; sie brauchte den Erlös zur Finanzierung des Neuerwerbs und hat, als das Grundstück verkauft war, tatsächlich den Erlös zur Abdeckung der Bankschulden verwendet, die sie bei dem Erwerb des neuen Grundbesitzes hatte aufnehmen müssen. Die Verzögerung im Verkauf des zweiten Grundbesitzes beruhte auf Umständen, auf die die Bgin. keinen Einfluß hatte; eine spekulative Absicht schließt das Finanzgericht einwandfrei aus.
Das Finanzamt bezweifelt, ob das neue Grundstück als Ersatzwirtschaftsgut für das Grundstück südlich der X-Gasse gelten könne. Es vergleicht die Flächen des alten und des neuen Besitzes und schließt daraus, daß, weil der neue Grundbesitz flächenmäßig größer sei als der alte, er mindestens kein Ersatzgut für das nachträglich verkaufte Grundstück südlich der X-Gasse sein könne. Dieser Auffassung tritt der Senat nicht bei. Ob ein Ersatzwirtschaftsgut vorliegt, kann nur danach bestimmt werden, ob das neue Wirtschaftsgut im Betrieb im wesentlichen die gleiche Funktion hat wie das alte. Dies hat das Finanzgericht im Streitfall einwandfrei festgestellt. Der alte und der neue Besitz sollten dem Betrieb als Bauland für die Betriebsgebäude dienen. Ob sie flächenmäßig gleich groß sind, spielt demgegenüber keine Rolle.
Fundstellen
Haufe-Index 409504 |
BStBl III 1961, 1 |
BFHE 1961, 1 |
BFHE 72, 1 |
DB 1959, 1331 |