Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsirrtümliche Nichtabgabe von Steuererklärungen aufgrund von Verlusten
Leitsatz (amtlich)
Gibt ein Steuerpflichtiger keine Steuererklärung ab, weil er annimmt, der Begriff "Gewinn" setze Einnahmen voraus, so kann dieser Rechtsirrtum grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 ausschließen.
Normenkette
AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger), ein freiberuflich tätiger Architekt, meldete für das Streitjahr 1992 eine gewerbliche Tätigkeit im Zuständigkeitsbereich des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt ―FA―) an. Am 25. Oktober 1993 erinnerte ihn das FA an die Abgabe einer Erklärung zur gesonderten Feststellung der Einkünfte nach § 181 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung (AO 1977), § 60 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung (EStDV). Unter Verwendung des auf der Rückseite der Erinnerung abgedruckten formularmäßigen Antwortschreibens teilte der Kläger dem FA mit, er habe die angeforderte Steuererklärung nicht abgegeben, weil er im Streitjahr "keine Einnahmen" erzielt habe. Daraufhin stellte das FA mit Bescheid vom 22. November 1993 die Einkünfte aus Gewerbebetrieb für das Streitjahr auf 0 DM fest.
Am 28. Juli 1994 reichte der nunmehr steuerlich beratene Kläger eine Erklärung zur gesonderten Feststellung der Besteuerungsgrundlagen für das Streitjahr ein, in der er einen Verlust aus Gewerbebetrieb in Höhe von 229 469 DM erklärte, und beantragte einen Änderungsbescheid nach § 173 AO 1977. Er sei seinerzeit irrtümlich davon ausgegangen, dass er eine Erklärung über "Einkünfte" solange nicht abzugeben habe, als er keine Einnahmen erzielt habe. Das FA lehnte eine Änderung des gesonderten Gewinnfeststellungsbescheides ab.
Die Klage hatte keinen Erfolg. Eine Änderung des bestandskräftigen Gewinnfeststellungsbescheides nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 sei nicht möglich, weil der Kläger seiner Pflicht zur Abgabe der Steuererklärung nicht nachgekommen sei. Für die Frage, ob er grob fahrlässig gehandelt habe, komme es auf die Motive des Klägers, die ihn zum Verschweigen der Betriebsausgaben veranlasst hätten, nicht an.
Mit seiner Revision rügt der Kläger Versagung rechtlichen Gehörs, Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 und Divergenz zum Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 10. August 1988 IX R 219/84 (BFHE 154, 481, BStBl II 1989, 131) sowie zum BFH-Beschluss vom 7. Mai 1986 VI R 172/82 (BFHE 146, 496, BStBl II 1986, 707) und beantragt sinngemäß, das Urteil des Finanzgerichts (FG) und den ablehnenden Bescheid des FA aufzuheben und das FA zu verpflichten, den Bescheid über die gesonderte Feststellung des Gewinns aus Gewerbebetrieb für 1992 dahin gehend zu ändern, dass ein Verlust in Höhe von 229 469 DM festgestellt wird.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision des Klägers ist begründet. Das Urteil des FG ist aufzuheben. Die Sache ist an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―).
A. Die Rüge, das FG habe den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt, weil es seine Entscheidung auf nicht erörterte Entscheidungen anderer Finanzgerichte gestützt habe, ist unbegründet.
Eine Überraschungsentscheidung und damit ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), § 96 Abs. 2 FGO sowie die richterliche Hinweispflicht (§ 76 Abs. 2 FGO) liegt vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der ein prozesskundiger Beteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht rechnen musste. Das FG ist aber nicht zu einem Rechtsgespräch über die den Beteiligten bekannten Rechtsfragen oder zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteil vom 23. Februar 2000 VIII R 80/98, BFH/NV 2000, 978, m.w.N.). Es muss daher auch nicht auf Rechtsprechung oder Literatur hinweisen, die seiner Meinung nach seine Rechtsauffassung stützen.
B. Der Auffassung des FG, die Änderung eines bestandskräftigen Bescheids sei stets ausgeschlossen, wenn der Steuerpflichtige keine Steuererklärung abgegeben habe, ist in dieser Allgemeinheit nicht zu folgen. Entschuldbare Rechtsirrtümer, die den Steuerpflichtigen von der Abgabe der Steuererklärung abgehalten haben, können ein grob fahrlässiges Verhalten i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 ausschließen.
Steuerbescheide sind nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.
1. Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 AO 1977 ist, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteil vom 8. Dezember 1998 IX R 14/97, BFH/NV 1999, 743). Als nachträglich bekannt gewordene Tatsachen kommen danach im Streitfall in Betracht sowohl die dem Kläger im Streitjahr 1992 entstandenen Aufwendungen (vgl. z.B. BFH-Urteil in BFHE 154, 481, BStBl II 1989, 131) als auch der insgesamt aus seiner gewerblichen Betätigung resultierende Verlust (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 1. Oktober 1993 III R 58/92, BFHE 172, 397, BStBl II 1994, 346; vom 24. April 1991 XI R 28/89, BFHE 164, 192, BStBl II 1991, 606).
2. Grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden einer Tatsache setzt Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit voraus. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und nicht entschuldbarer Weise verletzt (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH in BFHE 172, 397, BStBl II 1994, 346; BFH-Urteil vom 2. August 1994 VIII R 65/93, BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264). Subjektiv entschuldbare Rechtsirrtümer, die zu einem nachträglichen Bekanntwerden von Tatsachen i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 geführt haben, schließen danach eine grobe Fahrlässigkeit aus. Dies hat der BFH im Zusammenhang mit unvollständigen Angaben des Steuerpflichtigen in der Steuererklärung schon wiederholt entschieden (vgl. z.B. BFH-Urteile in BFHE 154, 481, BStBl II 1989, 131; vom 21. Juli 1989 III R 303/84, BFHE 157, 488, BStBl II 1989, 960; vom 18. Mai 1988 X R 57/82, BFHE 153, 304, BStBl II 1988, 713, bestätigt in BFHE 172, 397, BStBl II 1994, 346). Nach Sinn und Zweck des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 macht es keinen Unterschied, ob in einer Steuererklärung aufgrund des (entschuldbaren) Rechtsirrtums keine Angaben zu bestimmten Einkünften gemacht werden oder ob aufgrund des Irrtums eine nach § 180 Abs. 1 Nr. 2 b AO 1977 ausnahmsweise notwendige Erklärung zur gesonderten Feststellung dieser Einkünfte nicht abgegeben wird. Im Übrigen hat der BFH nur entschieden, dass ein grobes Verschulden vorliegen kann, wenn ein Steuerpflichtiger seine Erklärungspflichten verletzt (vgl. z.B. BFH-Urteile in BFHE 172, 397, BStBl II 1994, 346; vom 28. März 1985 IV R 159/82, BFHE 144, 521, BStBl II 1986, 120; vom 9. März 1990 VI R 19/85, BFH/NV 1990, 619; in BFH/NV 1999, 743).
3. Nach diesen Rechtsgrundsätzen kann die Entscheidung des FG keinen Bestand haben.
Die Antwort des Klägers auf die Erinnerung des FA zur Abgabe der Feststellungserklärung lässt einen Rechtsirrtum erkennen. Das FG muss nunmehr im 2. Rechtsgang feststellen, ob dieser Rechtsirrtum subjektiv entschuldbar war.
a) Das FG wird zu prüfen haben, ob dem Kläger Erklärungsvordrucke und/oder Erläuterungen hierzu übersandt wurden. Für den Fall, dass der Kläger Vordrucke für die Erklärung zur gesonderten Feststellung von Besteuerungsgrundlagen erhalten haben sollte, weist der Senat auf Folgendes hin:
Entgegen der Auffassung des FA hat ein Steuerpflichtiger nicht von vornherein grob fahrlässig i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 gehandelt, wenn er unter dem im Erklärungsvordruck verwendeten Begriff "Gewinn" (vgl. Anlage GSE) nur einen positiven Gewinn verstanden hat. Ein Verlust ist nach allgemeinem Sprachgebrauch und auch im Sinne handelsrechtlicher Bilanzierungsvorschriften (vgl. § 249 Abs. 1 des Handelsgesetzbuchs ―HGB―; "Gewinn- und Verlustrechnung", § 275 Abs. 1 HGB) kein "Gewinn". Insoweit kann nichts anderes gelten als in dem bereits vom BFH entschiedenen Fall, in dem der Steuerpflichtige mangels Einnahmen meinte, keine "Einkünfte" erzielt zu haben (BFH in BFHE 154, 481, BStBl II 1989, 131). Die Annahme des FA, an die steuerlichen Kenntnisse eines "Unternehmers" seien ausnahmslos höhere Anforderungen zu stellen als bei einem "Berufsjuristen" (BFH in BFHE 154, 481, BStBl II 1989, 131), steht mit der Entscheidung des BFH-Urteils vom 22. Mai 1992 VI R 17/91 (BFHE 168, 221, BStBl II 1993, 80) nicht in Einklang.
b) Unbeachtlich ist der Einwand des FA, der Kläger hätte sich nicht darauf beschränken dürfen, die Erinnerung an die Abgabe der Gewinnfeststellungserklärung an das FA zurückzusenden. Auf der Rückseite der Erinnerung ist formularmäßig eine "Antwort" abgedruckt, die der Kläger ―aus seiner Sicht ordnungsgemäß― ausgefüllt hat.
c) Es besteht auch keine allgemeine Rechtspflicht, vor dem Ausfüllen der Steuererklärungen fachkundigen Rat einzuholen (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 173 AO 1977 Tz. 79; Rüsken in Klein, Abgabenordnung, 7. Aufl., § 173 Rdnr. 114). Nach nunmehr ständiger Rechtsprechung des BFH begründen allein mangelnde steuerrechtliche Kenntnisse eines Steuerpflichtigen ohne einschlägige Ausbildung kein grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 (BFH in BFHE 168, 221, BStBl II 1993, 80; in BFHE 157, 488, BStBl II 1989, 960; in BFHE 154, 481, BStBl II 1989, 131; in BFHE 172, 397, BStBl II 1994, 346). Dieser Rechtsprechung liefe es zuwider, bei einem steuerlichen Laien ausnahmslos die Einholung fachkundigen Rats zu fordern. In dem vom FA zur Stützung seiner gegenteiligen Meinung herangezogenen BFH-Urteil in BFHE 172, 397, BStBl II 1994, 346 lag das schuldhafte Verhalten des Steuerpflichtigen darin, den Rat fachunkundiger Personen eingeholt zu haben.
Der Steuerpflichtige muss aber den sich bei dem Ausfüllen von Steuererklärungen aufdrängenden Zweifelsfragen nachgehen und die den Steuererklärungsformularen beigefügten Erläuterungen mit der von ihm zu erwartenden Sorgfalt lesen (vgl. z.B. BFH-Urteile in BFHE 172, 397, BStBl II 1994, 346; vom 9. August 1991 III R 24/87, BFHE 165, 454, BStBl II 1992, 65; vom 11. Mai 1990 VI R 76/86, BFH/NV 1991, 281). Allerdings müssen auch die Erläuterungen für einen steuerlichen Laien ausreichend verständlich, klar und eindeutig sein (BFH in BFHE 168, 221, BStBl II 1993, 80).
d) Allein die Tatsache, dass der Kläger den Feststellungsbescheid des FA (geschätzte Einkünfte 0 DM) nicht angefochten hat, muss kein grobes Verschulden begründen.
Lässt ein Steuerpflichtiger einen Bescheid bestandskräftig werden, liegt nach ständiger Rechtsprechung des BFH ein für § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 relevantes grob fahrlässiges Verhalten vor, wenn sich ihm innerhalb der Einspruchsfrist die Notwendigkeit weiterer Angaben hätte aufdrängen müssen (vgl. z.B. BFH in BFH/NV 1990, 619; BFH-Beschluss vom 29. März 1988 X B 118/87, BFH/NV 1989, 567; BFH-Urteil in BFH/NV 1991, 281). Ficht ein Steuerpflichtiger hingegen einen Schätzungsbescheid aus demselben entschuldbaren Rechtsirrtum nicht an, der ihn bereits zur Nichtabgabe der Steuererklärung veranlasst hat, schließt allein die Nichtanfechtung eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 nicht aus.
Fundstellen
Haufe-Index 571261 |
BFH/NV 2001, 950 |
BStBl II 2001, 379 |
BFHE 194, 9 |
BFHE 2002, 9 |
BB 2001, 1028 |
DStR 2001, 849 |
DStRE 2001, 610 |
HFR 2001, 745 |
StE 2001, 283 |