Leitsatz (amtlich)
Die beim FA in ordnungsmäßiger Form und fristgerecht "angebrachte" Klage wird durch eine später beim FA angebrachte oder beim FG erhobene Klage nicht nach § 66 Abs. 2 FGO insoweit unzulässig.
Normenkette
FGO § 47 Abs. 2 S. 1, § 66 Abs. 2
Tatbestand
Gegen den Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) war ein später gemäß § 153 Abs. 2 der Strafprozeßordnung eingestelltes Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung anhängig gewesen.
Der Beklagte und Revisionskläger (FA) hatte gegenüber dem Kläger jeweils am 28. September 1973 die Zinsen gemäß §§ 4 a, 6 StSäumG festgesetzt, und zwar wegen Umsatzsteuerhinterziehung 1959 bis 1963 und wegen Einkommensteuerhinterziehung ebenfalls für die Jahre 1959 bis 1963.
Nach erfolglosem Vorverfahren ging beim FA am 11. April 1974 eine von dem Steuerberater des Klägers unterzeichnete Klageschrift ein, die das FA dem FG vorlegte und die dort den Eingangsstempel vom 29. April 1974 erhielt (Az. FG: I 112/74).
Dem FG ging außerdem bereits am 19. April 1974 eine von dem Rechtsanwalt des Klägers verfaßte Klageschrift zu (Az. FG: I 108/74); der Briefumschlag, in dem diese Klage enthalten war, weist den Poststempel "17.4.74 - 21" auf.
In beiden Klageschriften haben sich die Prozeßbevollmächtigten wechselseitig als Vertreter bezeichnet.
Der Kläger bestreitet das Vorliegen einer Steuerhinterziehung.
Das FA war der Auffassung: Das Anbringen der Klage vom 11. April 1974 beim FA habe die Rechtshängigkeit dieser Klage nicht begründen können. Die Rechtshängigkeit sei durch die Klage vom 19. April 1974 eingetreten, auch wenn diese Klage - weil verspätet - unzulässig sei.
Die Kläger meinen, wenn ihr Prozeßbevollmächtigter Rechtsanwalt R ebenfalls Klage erhoben habe, sei dies ein Mehr und könne nicht dazu führen, die Klage vom 11. April 1974 unberücksichtigt zu lassen.
Das FG trennte mit seiner als "Zwischenurteil" überschriebenen Entscheidung vom 26. Februar 1975 das Verfahren wegen Zinsen für hinterzogene Umsatzsteuer ab, befand die vom Steuerberater gefertigte Klage für zulässig und ließ die Revision gemäß § 115 FGO zu.
Die Revision des FA richtet sich dagegen, daß das FG die Klage als zulässig angesehen und sie nicht als unzulässig verworfen hat.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage als unzulässig zu verwerfen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Die Klage ist bei dem örtlich und sachlich zuständigen FG zu erheben (§ 64 Abs. 1 Satz 1 FGO). Durch ihre Erhebung wird die Streitsache rechtshängig (§ 66 Abs. 1 FGO) mit der Folge, daß eine neue Klage während der Rechtshängigkeit unzulässig ist (§ 66 Abs. 2 FGO).
Durch die Anbringung der Klage bei dem FA, welches die angefochtene Einspruchsentscheidung erlassen hat, gilt gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 FGO die Frist für die Erhebung der Klage als gewahrt. Die Rechtshängigkeit der Klage tritt zwar erst mit ihrem Zugang beim FG ein (vgl. Becker-Riewald-Koch, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Bd. III, FGO § 47 Anm. 3; Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 47 Anm. 7; Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 66 Anm. 5; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 6. Aufl., § 66 FGO Anm. 1). Die Anbringung der Klage führt aber für den Kläger in bezug auf die Fristwahrung der Klageerhebung die Wirkungen herbei, die - wie das FG richtig erkannt hat - einträten, wenn der Kläger die Klage unmittelbar beim FG erhoben hätte. § 47 Abs. 2 FGO ist im Interesse der Kläger eingefügt und soll es ihnen erleichtern, Zugang zum Gericht zu erlangen (vgl. § 249 Abs. 3 Satz 1 der Reichsabgabenordnung - AO - in der vor Inkrafttreten der Finanzgerichtsordnung geltenden Fassung; Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, Drucksache IV/1446 S. 51 zu §§ 60 bis 62; Ziemer-Birkholz, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 47 Anm. 8). Es war nicht beabsichtigt, daß einem Kläger aus dieser Erleichterung geringere Rechte erwachsen sollten als bei Erhebung der Klage unmittelbar beim FG.
Ein Schriftstück ist grundsätzlich bei einem Gericht oder einer Behörde erst eingegangen, wenn es - von der Einlegung in das Postabholfach oder einen Nachtbriefkasten abgesehen - dem empfangsbefugten Bediensteten übergeben worden ist (vgl. Beschluß des BGH vom 25. April 1951 II ZB 6/51, BGHZ 2, 31, und Urteil vom 14. Februar 1957 VII ZR 250/56, Neue Juristische Wochenschrift 1957 S. 750, sowie Beschluß vom 26. Oktober 1972 VII ZB 8/72, Versicherungsrecht 1973 S. 87). Der Empfang durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des FG oder den Bediensteten der Eingangsstelle des FA sind unterschiedliche Sachverhalte. Das erfordert, beide Sachverhalte sprachlich unterschiedlich zu bezeichnen, besagt aber noch nichts darüber, ob und inwieweit unterschiedliche Folgerungen an die beiden Sachverhalte zu knüpfen sind.
Mit der Anbringung der Klage beim FA hat der Kläger nach den gesetzlichen Anforderungen alles getan, was von ihm verlangt wird, um die Frist der Klage erhebung zu wahren. Der weitere Ablauf der Zuleitung der Klage zum Gericht vollzieht sich außerhalb seines Machtbereichs. Hat der Kläger einen den zwingenden Anforderungen an eine Klageschrift entsprechenden Schriftsatz bei dem FA "angebracht", das den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen oder bekanntgegeben hat oder das nachträglich für den Steuerfall zuständig geworden ist, so ist der Zeitpunkt der Anbringung des Schriftsatzes maßgebend für die Frage, ob die Klage fristwahrend erhoben worden ist. Das bedeutet aber auch, daß die in ordnungsmäßiger Form und fristgerecht angebrachte Klage durch eine später beim FA angebrachte oder beim FG erhobene Klage nicht nach § 66 Abs. 2 FGO insoweit unzulässig wird.
In diesem Zusammenhang weist der Senat darauf hin, daß zwischen dem Rechtsmittel und dem einzelnen Rechtsmittelschriftsatz zu unterscheiden ist. Steht einer Partei ein Rechtsmittel zu, kann sie wiederholt Rechtsmittelschriftsätze einreichen. Dabei wird sie regelmäßig mit den verschiedenen Rechtsmittelschriften das Ziel verfolgen, das ihr zustehende, zulässige Rechtsmittel zu ergreifen, um die Überprüfung des angefochtenen Urteils zu erreichen. Erfüllt eine der Rechtsmittelschriften die Zulässigkeitsvoraussetzungen, dann haben früher oder später eingereichte Rechtsmittelschriftsätze keine selbständige Bedeutung (vgl. Urteil des Reichsgerichts vom 13. Juli 1921 VI 158/21, RGZ 102, 364 [365]; ebenso BGH-Urteil vom 29. Juni 1966 IV ZR 86/65, BGHZ 45, 380; BGH-Beschluß vom 2. Oktober 1957 III ZB 24/67, Lindenmaier-Möhring, Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, Zivilprozeßordnung § 519 b Nr. 22; Beschluß des Bundesarbeitsgerichts vom 13. September 1972 2 AZB 32/71, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1973 S. 198). Über ein einheitliches Rechtsmittel kann - auch wenn mehrere Rechtsmittelschriftsätze vorliegen - nur einheitlich entschieden werden.
Fundstellen
Haufe-Index 72750 |
BStBl II 1978, 376 |
BFHE 1978, 494 |