Verfahrensgang
OLG München (Beschluss vom 01.09.2003; Aktenzeichen 3 VAs 38/03) |
Tenor
Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 1. September 2003 – 3 VAs 38/03 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes, soweit der Antrag festzustellen, Erlass und Vollzug des Vollstreckungshaftbefehls der Staatsanwaltschaft Traunstein, Zweigstelle Rosenheim, vom 3. Juni 2003 – 450 VRs 23524/00 – seien rechtswidrig gewesen, als unzulässig verworfen wird. Insoweit wird der Beschluss aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht München zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer drei Viertel der notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen den Vollzug eines Vollstreckungshaftbefehls, obwohl dem Beschwerdeführer nicht die Möglichkeit gelassen worden sei, sich selbst zu stellen.
I.
1. Der Beschwerdeführer wurde zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Staatsanwaltschaft lud den Beschwerdeführer zum Strafantritt bis zum 9. Dezember 2002. Auf seinen Antrag wurde die Vollstreckung bis zum 1. April 2003 aufgeschoben. Nachdem der Beschwerdeführer ein Gnadengesuch mit dem Ziel der Strafaussetzung zur Bewährung eingereicht hatte, stellte die Staatsanwaltschaft die Vollstreckung vorläufig ein und teilte mit, bis zur Entscheidung über das Gesuch werde von der Anwendung von Zwang abgesehen. Am Abend des 3. Juni 2003 übergaben Polizeibeamte dem Beschwerdeführer den das Gnadengesuch ablehnenden Bescheid und nahmen den Beschwerdeführer auf Grund des Vollstreckungshaftbefehls der Staatsanwaltschaft vom selben Tage fest. In dem Haftbefehl wurde ausgeführt, der Beschwerdeführer sei zum Strafantritt geladen worden, habe sich aber nicht gestellt. Auf Betreiben seines Verteidigers wurde der Beschwerdeführer wieder freigelassen. Absprachegemäß begab er sich am nächsten Morgen zur Staatsanwaltschaft. Diese vollstreckte den Haftbefehl, und der Beschwerdeführer verbüßt seitdem die Freiheitsstrafe.
2. Der Beschwerdeführer beantragte festzustellen, dass Erlass und Vollzug des Haftbefehls rechtswidrig gewesen seien und dass er im Vollzug wie ein Selbststeller zu behandeln sei. Der Haftbefehl habe nicht ergehen dürfen, weil ihm nach der Einstellung der Vollstreckung und der Ablehnung des Gnadengesuchs keine Möglichkeit gegeben worden sei, sich selbst zu stellen.
3. Mit dem angegriffenen Beschluss verwarf das Oberlandesgericht München die Anträge. Sie seien unzulässig, weil dem Beschwerdeführer ein Feststellungsinteresse fehle. Wiederholungsgefahr bestehe nicht, und der Erlass eines Vollstreckungshaftbefehls stelle auch keinen tief greifenden Grundrechtseingriff dar.
4. Mit seiner Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer geltend, Erlass und Vollzug des Vollstreckungshaftbefehls seien willkürlich (Art. 3 Abs. 1 GG) gewesen und hätten sein Freiheitsrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) verletzt, weil es nicht mehr vertretbar sei, nach Ablehnung des Gnadengesuchs keine Möglichkeit des Selbststellens zu lassen. Die Verhaftung habe den Beschwerdeführer zum Objekt degradiert und dadurch seine Menschenwürde verletzt (Art. 1 Abs. 1 GG). Das Oberlandesgericht habe seinen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) verletzt, indem es trotz noch gegenwärtiger Nachteile im Vollzug die Feststellungsanträge für unzulässig gehalten habe. Der Beschwerdeführer bedürfe einer einstweiligen Anordnung, um schwere Nachteile abzuwenden. Für die Gewährung von Vollzugslockerungen sei von erheblicher Bedeutung, ob er die Strafe als Selbststeller angetreten habe.
Entscheidungsgründe
II.
1. Dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden (§ 94 Abs. 2 BVerfGG).
2. Das Bundesverfassungsgericht hat die Akten 450 Js 23524/00 der Staatsanwaltschaft Traunstein, Zweigstelle Rosenheim, beigezogen.
III.
Die Verfassungsbeschwerde ist teilweise offensichtlich begründet, im Übrigen nicht zur Entscheidung anzunehmen. Zur Entscheidung über die Annahme und Stattgabe ist die Kammer berufen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), das Bundesverfassungsgericht die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden hat und die Verfassungsbeschwerde insoweit offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Das Oberlandesgericht hat das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verletzt, indem es den Feststellungsantrag des Beschwerdeführers als unzulässig verworfen hat.
a) Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) ist es vereinbar, ein Rechtsschutzinteresse nur solange als gegeben anzusehen, wie eine gegenwärtige Beschwer ausgeräumt, einer Wiederholungsgefahr begegnet oder eine fortwirkende Beeinträchtigung beseitigt werden kann. Darüber hinaus ist aber zu verlangen, dass schwerwiegende Grundrechtseingriffe gerichtlich geklärt werden können, wenn deren direkte Belastung sich auf eine Zeitspanne beschränkt, in der der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in dem von der maßgeblichen Prozessordnung vorgesehenen Verfahren kaum erlangen kann (vgl. BVerfGE 96, 27 ≪39 f.≫). Auf diese Weise stehen Anordnungen einer Wohnungsdurchsuchung (Art. 13 Abs. 1 und 2 GG) und einer Freiheitsentziehung (Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 Abs. 2 und 3 GG) einer gerichtlichen und verfassungsgerichtlichen Überprüfung offen, auch wenn die angeordnete Maßnahme inzwischen durchgeführt und beendet ist (vgl. BVerfGE 96, 27 ≪40≫; 104, 220 ≪233≫).
Das Rechtsschutzinteresse an einer Überprüfung bleibt auch erhalten, wenn nicht die Anordnung einer Freiheitsentziehung als solche beanstandet wird, sondern die besonders einschneidende Art und Weise ihrer Durchführung. Die nachträgliche gerichtliche Überprüfung ist in diesen Fällen zulässig, wenn eine Verletzung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) in Frage steht (Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Februar 2002 – 2 BvR 553/01 –, NJW 2002, S. 2699 ≪2700≫; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 13. März 2002 – 2 BvR 261/01 –, NJW 2002, S. 2700 ≪2701≫). Ebenso muss dem Betroffenen eine Überprüfung offen stehen, wenn er ein am Maßstab einfachen Rechts so eklatant fehlerhaftes Vorgehen eines Hoheitsträgers geltend machen kann, dass objektive Willkür (Art. 3 Abs. 1 GG) nahe liegt. Die sachliche Nähe zum Freiheitsrecht gebietet auch hier die Möglichkeit der nachträglichen Kontrolle eines bereits beendeten Eingriffs. Dieser Kontrolle hat sich das Oberlandesgericht verschlossen, indem es den Antrag des Beschwerdeführers als unzulässig verworfen hat.
b) Dabei hat das Oberlandesgericht zunächst im Ergebnis zutreffend eine Verletzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 und 2 GG durch den Erlass und den Vollzug des Vollstreckungshaftbefehls verneint. Das Freiheitsrecht lässt einen Eingriff nur auf einer gesetzlichen Grundlage und einer auf ihr beruhenden richterlichen Entscheidung zu. Das gegen den Beschwerdeführer auf eine Freiheitsstrafe erkennende Urteil bietet eine zureichende Grundlage für deren Vollstreckung. Die Garantie des Freiheitsrechts und seine Absicherung durch die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG bilden den Maßstab für eine Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung, nicht aber für die Form des Vollzugs einer Freiheitsbeschränkung (vgl. BVerfGE 2, 118 ≪119≫; 64, 261 ≪280≫). Da die Freiheitsentziehung in dem zu vollstreckenden Strafausspruch eine ausreichende Grundlage hat, ist auch durch eine überhastete Vollstreckung durch vorzeitigen Erlass eines Vollstreckungshaftbefehls die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) nicht verletzt. Zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung unter Verletzung des verfassungsrechtlich geschützten Wert- und Achtungsanspruchs (vgl. BVerfGE 28, 386 ≪391≫; 45, 187 ≪228≫; 50, 205 ≪215≫; 72, 105 ≪116≫) wird ein Verurteilter nicht schon dann, wenn ihm die Möglichkeit des Selbststellens genommen wird.
c) Das Oberlandesgericht hätte aber erwägen müssen, ob das Vorgehen der Staatsanwaltschaft in einem Maße unverhältnismäßig und damit rechtsstaatswidrig (Art. 20 Abs. 3 GG) gewesen sein könnte, dass das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzt wäre.
aa) Selbst eine zweifelsfrei fehlerhafte Anwendung einfachen Rechts begründet noch keinen Verstoß gegen das Willkürverbot (vgl. BVerfGE 67, 90 ≪94≫; 80, 48 ≪51≫; 81, 132 ≪137≫). Hinzukommen müsste eine krasse Missdeutung der einschlägigen Norm, so dass die vorgenommene Rechtsanwendung jeden sachlichen Grundes entbehrt (vgl. BVerfGE 87, 273 ≪279≫; 89, 1 ≪14≫; 96, 189 ≪203≫). Das könnte hier der Fall sein, so dass das Oberlandesgericht ein Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers nicht hätte verneinen dürfen.
Die rechtsstaatlichen Gebote der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit ziehen allen Hoheitsakten, die belastend in verfassungsmäßig verbürgte Rechtsstellungen eingreifen, enge Grenzen (vgl. BVerfGE 63, 343 ≪356 f.≫; 76, 256 ≪349≫). Auch die Gestaltung des Strafverfahrens untersteht diesen Geboten, so dass es nicht von reinen Zweckmäßigkeitserwägungen bestimmt sein kann (vgl. BVerfGE 17, 108 ≪117 f.≫). Auch wenn für den Eingriff in ein Grundrecht eine verfassungsrechtlich zureichende Grundlage besteht, ist bei deren Anwendung und Durchsetzung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung zu tragen. Das jeweils geschützte öffentliche Interesse ist gegen die Belange des Betroffenen abzuwägen (vgl. BVerfGE 35, 382 ≪400 f.≫; 49, 168 ≪184≫; 50, 166 ≪174, 175≫).
bb) Hat ein Verurteilter, der sich auf freiem Fuß befindet, eine gegen ihn verhängte Freiheitsstrafe anzutreten, so wird das dabei einzuhaltende Verfahren durch die §§ 455 ff. StPO und durch die als allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassenen §§ 27 ff. StrVollstrO geregelt. Diese Regelungen finden einen angemessenen Ausgleich zwischen dem öffentlichen Interesse, die Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe sicherzustellen, und dem Interesse des Verurteilten. § 457 Abs. 2 StPO ist zu entnehmen, dass der Verurteilte zum Antritt der Strafe geladen werden muss. Dabei ist grundsätzlich eine Ladungsfrist von mindestens einer Woche vorzusehen, so dass der Verurteilte Zeit zum Ordnen seiner Angelegenheiten erhält (§ 27 Abs. 2 StrVollstrO). Ein Vorführungs- oder Haftbefehl darf erst ergehen, wenn der Verurteilte der Ladung ohne ausreichende Entschuldigung nicht folgt oder Fluchtverdacht besteht (§§ 457 Abs. 2 StPO, 33 Abs. 1 und 2 StrVollstrO). Die Einhaltung dieses Verfahrens sichert die Verhältnismäßigkeit der Art und Weise der Durchsetzung des Strafantritts.
cc) Es ist daher nicht nur am Maßstab des einfachen Rechts, sondern auch von Verfassungs wegen zu beanstanden, wenn die Vollstreckungsbehörde die Wirkungen einer Ladung und Fristsetzung zum Strafantritt durch einen vorübergehenden Aufschub (§ 456 StPO) erkennbar aufhebt, die Vollstreckung dann mit Rücksicht auf ein eingereichtes Gnadengesuch sogar vorläufig einstellt und dennoch nach Ablehnung des Gnadengesuchs sogleich die schwerwiegende Zwangsmaßnahme eines Haftbefehls (§ 457 Abs. 2 StPO) ergreift, obwohl der Beschwerdeführer bislang eine wirksame Fristsetzung oder Terminbestimmung nicht missachtet hat. Da der Beschwerdeführer auch während des Aufschubs und der Einstellung der Vollstreckung keinen Anlass gegeben hat, eine Fluchtgefahr zu erwägen, war es grob unverhältnismäßig, Zwangsmaßnahmen vorzunehmen, ohne dem Beschwerdeführer zuvor die Gelegenheit zu geben, sich dem Strafantritt freiwillig zu stellen. Da er bis zur Eröffnung der das Gnadengesuch ablehnenden Entscheidung auf die vorläufige Einstellung der Vollstreckung vertrauen durfte, hätte es das rechtsstaatliche Gebot der Vorausschaubarkeit und Abwendbarkeit staatlicher Zwangsmaßnahmen, die nicht auf einen Vereitelungsbemühungen zuvorkommenden Überraschungsmoment angewiesen sind, erfordert, der Bekanntmachung der abschlägigen Gnadenentscheidung eine erneute Ladung und Fristsetzung zum Strafantritt folgen zu lassen.
d) Da das Oberlandesgericht den Anspruch des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) durch das fehlerhafte Verneinen eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses missachtet hat, ist seine Entscheidung insoweit aufzuheben. Die Sache wird insoweit an das Oberlandesgericht zurückverwiesen, das die Sachprüfung nachzuholen hat.
2. Soweit der Beschwerdeführer beanstandet, das Oberlandesgericht habe nicht festgestellt, dass er im Strafvollzug wie ein Selbststeller zu behandeln sei, ist die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen. Das Oberlandesgericht hat auch diesen Antrag als unzulässig verworfen. Damit ist das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) nicht verletzt worden, denn das Oberlandesgericht hat nach den oben dargelegten Maßstäben ein Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers beanstandungsfrei verneint.
Der Beschwerdeführer hat weder im fachgerichtlichen Verfahren noch mit seiner Verfassungsbeschwerde dargelegt, welche Nachteile er derzeit hinzunehmen hätte, weil er auf Grund des Vollzugs des Haftbefehls der Justizvollzugsanstalt zugeführt wurde. Er verweist zwar pauschal auf Vorteile, die ein so genannter Selbststeller im Vollzug habe, trägt aber nicht vor, dass solche Vorteile ihm bereits versagt geblieben wären oder dass die Versagung in allernächster Zukunft drohe. In welcher Weise bei der Gestaltung des Vollzugs, etwa bei der Entscheidung über Vollzugslockerungen, zu berücksichtigen sein wird, dass der Beschwerdeführer auf Grund eines nicht erforderlichen Vollstreckungshaftbefehls der Justizvollzugsanstalt zugeführt wurde, und ob dies Anlass geben muss, ihn so zu behandeln, als habe er sich selbst gestellt, wird Gegenstand künftiger Entscheidungen der Vollzugsbehörden und Vollstreckungsgerichte sein. Ihm nachteilige Entscheidungen wird der Beschwerdeführer dann im fachgerichtlichen Verfahren überprüfen lassen können.
IV.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Hassemer, Osterloh, Mellinghoff
Fundstellen
Haufe-Index 1262406 |
NStZ-RR 2004, 252 |
Polizei 2004, 237 |