Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsbehelfsfrist endet nicht vor 24 Uhr des letzten Tages der Frist
Leitsatz (amtlich)
Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 103 Abs 1 GG verbieten, § 43 StPO dahin auszulegen, daß die Frist für die Einlegung des Einspruchs gegen einen Bußgeldbescheid an ihrem letzten Tag vor 24 Uhr, etwa mit dem Ende der Dienstzeit der Behörde endet.
Normenkette
BVerfGG § 34 Abs. 4, § 95 Abs. 2; GG Art. 103 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3; OWiG 1968 § 46 Abs. 1; StPO § 43 Abs. 1 Fassung: 1975-01-07
Verfahrensgang
LG Düsseldorf (Beschluss vom 24.06.1975; Aktenzeichen I Qs 186/75 (BuK)) |
AG Düsseldorf (Beschluss vom 29.04.1975; Aktenzeichen 167 OWi 165/75) |
Gründe
A.-I.
Dem Beschwerdeführer wurde am 13. Januar 1975 ein Bußgeldbescheid des Regierungspräsidenten in Düsseldorf über 400 DM zugestellt. Ihm wurde vorgeworfen, gegen Vorschriften für die Rheinschiffahrt über die Beseitigung von Altöl verstoßen zu haben. Mit einem Fernschreiben vom 20. Januar 1975, das in seinem Auftrag über die Fernschreibstelle seiner Rechtsschutzversicherung abgesandt wurde, legte er bei der Verwaltungsbehörde Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein. Das Fernschreiben ist mit „a bakker ms vera” gezeichnet und enthält als Uhrzeit der Übermittlung die Zeitangabe „16.59”. Das Fernschreiben erhielt bei der Behörde den Eingangsstempel des folgenden Tages, des 21. Januar 1975.
Das Amtsgericht Düsseldorf verwarf durch den Beschluß vom 29. April 1975 den Einspruch mit der Begründung, der Rechtsbehelf sei erst am 21. Januar 1975, mithin verspätet, bei der Verwaltungsbehörde eingegangen. Mit seiner hiergegen erhobenen sofortigen Beschwerde machte der Beschwerdeführer geltend, es könne für die Rechtzeitigkeit des Einspruchs nicht darauf ankommen, daß das Fernschreiben offenbar erst am Tage nach seinem Eingang „aus dem Fernschreibraum der Behörde zu den Akten” gelangt sei. Durch den Beschluß vom 24. Juni 1975 verwarf das Landgericht Düsseldorf das Rechtsmittel „aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung”. Das Beschwerdevorbringen rechtfertige keine abweichende Beurteilung. Das Fernschreiben sei erst nach Dienstschluß der Verwaltungsbehörde aufgegeben worden und eingetroffen, so daß es – wie der Beschwerdeführer hätte voraussehen müssen – erst am nächsten Morgen „in die Hand des zur Entgegennahme von Einsprüchen Zuständigen” gelangt sei. Allein der mechanische Vorgang der Aufzeichnung des Fernschreibens könne zur Fristwahrung nicht ausreichen.
II.
Die am 18. Juli 1975 eingegangene Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts. Unter Darstellung des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Rechtes aus Art. 103 Abs. 1 GG. Die Möglichkeit, Rechtsmittel und Rechtsbehelfe durch Fernschreiben formgerecht einzulegen, sei heute allgemein anerkannt. Für die Fristwahrung müsse es – wie bei dem in den Nachtbriefkasten eingeworfenen Brief – genügen, daß der Zeitpunkt des Eingangs des Fernschreibens durch seine Aufzeichnung objektiv feststellbar sei.
III.
Dem Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. Er hat von einer Äußerung abgesehen.
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
I.
Die zeitliche Befristung von Rechtsmitteln und Rechtsbehelfen gehört seit jeher zum Inhalt rechtsstaatlicher Verfahrensordnungen. Sie dient, wenn sie auch nicht selten mit der Forderung nach möglichst weitgehender materialer Gerechtigkeit in Widerstreit geraten mag, der Rechtssicherheit, die ihrerseits ein Element des Rechtsstaatsprinzips des Art. 20 Abs. 3 GG ist (vgl. BVerfGE 35, 41 [47]).
Andererseits gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG einen umfassenden und effektiven Rechtsschutz des Bürgers gegen Akte öffentlicher Gewalt; der Bürger hat einen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (Beschluß vom 16. Dezember 1975 – 2 BvR 854/75 – mit weiteren Nachweisen). Es tritt hinzu, daß der Bürger nach Art. 103 Abs. 1 GG das Recht hat, sich als Beteiligter an einem gerichtlichen Verfahren zu dem entscheidungserheblichen Sachverhalt zu äußern und in diesem Sinne vom Richter „zur Sache” angehört zu werden (vgl. BVerfGE 38, 35 [38]; 36, 92 [97]; jeweils mit weiteren Nachweisen).
Diese einander ergänzenden verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien können nicht nur dem Gesetzgeber Schranken bei der Ausgestaltung der Regeln über den Zugang zu den Gerichten, insbesondere der Formen und Fristen, setzen (vgl. BVerfGE 40, 237 [252, 256 ff.]; 36, 298 [302 f.]; 10, 264 [267 f.]). Sie sind vielmehr, unbeschadet der grundsätzlich bestehenden Kompetenz der Fachgerichte zur Auslegung und Anwendung des einfachen Verfahrensrechts, auch von den Gerichten zu beachten und der Rechtsanwendung im Einzelfall zugrundezulegen. Das hat das Bundesverfassungsgericht in seiner ständigen Rechtsprechung zu den Vorschriften, welche die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Strafbefehls- und Bußgeldverfahren – als die Beseitigung der Folgen einer Fristversäumnis – regeln, wiederholt betont (vgl. BVerfGE 40, 88 [90 ff.]). Der Zugang zum Gericht – und zur jeweils nächsten Instanz, sofern ein Instanzenzug eröffnet ist – darf nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. zuletzt BVerfGE 40, 272 [275]; Beschluß vom 16. Dezember 1975 – 2 BvR 854/74 –). Dieses Verfassungsgebot ist auch bei der Auslegung und Anwendung der prozeßrechtlichen Fristvorschriften zu beachten.
II.
Die Fristen für Rechtsbehelfe und Rechtsmittel im Bußgeldverfahren enden, wie die Fristen des gemäß § 46 Abs. 1 OWiG entsprechend anzuwendenden Strafverfahrensrechts, „mit Ablauf des Tages” (§ 43 StPO). Schon die am Wortlaut orientierte, unbefangene Auslegung dieser Vorschriften führt zu dem Ergebnis, daß unabhängig von der Dienstzeit, die der unterschiedlichen Regelung durch die jeweils zuständigen Behörden unterliegt, die Fristen erst um 24 Uhr enden, denn erst dann „läuft der Tag ab” (vgl. z. B. für das Strafverfahrensrecht: OLG Frankfurt, NJW 1974 S. 1959; für das Zivilprozeßrecht statt vieler: Thomas- Putzo, ZPO 7. Aufl. (1974), § 222 Anm. 2b; für das Verwaltungsrecht BVerwGE 18, 51 f. und weiter Redeker-von Oertzen, VwGO 5. Aufl. (1975), § 57 Anm. 10 mit weiteren Nachweisen). Für die schriftliche Einlegung eines Rechtsbehelfs oder Rechtsmittels sieht das Gesetz – abgesehen von der Einlegung zur Niederschrift der Geschäftsstelle – eine irgendwie geartete Mitwirkung eines Bediensteten des Gerichts oder der Verwaltungsbehörde nicht vor.
Diese schon vom Wortlaut her naheliegende Auslegung des einfachen Rechts ist im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantien der Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG auch verfassungsrechtlich geboten. Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, daß § 43 Abs. 1 StPO nicht dahin ausgelegt werden darf, es komme für die Rechtzeitigkeit eines fernschriftlich eingelegten Rechtsbehelfs oder Rechtsmittels auf das Ende der Dienstzeit der Behörde oder des Gerichts an. Denn für eine solche Auslegung ist kein einleuchtender, sachlich rechtfertigender Grund ersichtlich. Sie stellt vielmehr eine verfassungswidrige Erschwerung des Zugangs zum Gericht dar.
Die Dienstzeiten der Behörden und Gerichte sind in den letzten Jahrzehnten zunehmend verkürzt worden. Das hat sich vor allem auf den nachmittäglichen Dienstschluß ausgewirkt. So sehr diese Entwicklung im Interesse der Bediensteten liegt, so wenig darf sie, soweit vermeidbar, zu Lasten des Bürgers gehen. Dieser hat das Recht, gesetzliche Rechtsmittelfristen voll auszuschöpfen (BVerfGE 40, 42 [44]). Gerade in „kleineren” Bußgeld- und Strafsachen wird der Bürger oft erst dann, wenn er seinerseits nicht mehr an seinem Arbeitsplatz seinen Dienst verrichten muß, die Zeit finden, sich um die Wahrnehmung seiner Rechte zu kümmern. Nicht zufällig liegt der Schwerpunkt mancher anwaltlichen Beratungstätigkeit häufig zu Zeiten, zu denen Gerichte und Behörden schon geschlossen haben. Es ist daher sachgerecht, dem Bürger auch noch in den Abendstunden die Abgabe seiner schriftlichen Erklärungen dem Gericht oder der Behörde gegenüber zu ermöglichen, sei es, daß er sie in einen Briefkasten des Gerichts oder der Behörde einwirft, sei es, daß er sich des modernen Mittels des Fernschreibens bedient, sofern die Gerichte oder Behörden über eine Fernschreibstelle verfügen. Den Behörden und Gerichten erwachsen daraus keine unzumutbaren Schwierigkeiten. Die Rechtzeitigkeit des Eingangs vor 24 Uhr läßt sich mit relativ einfachen Mitteln (z. B. Nachtbriefkasten, Kennzeichnung des Fernschreibstreifens) kontrollieren.
III.
Da die angegriffenen Entscheidungen den Eingang des Fernschreibens um 16.59 Uhr des letzten Tages der Frist nicht in Zweifel ziehen, den Einspruch des Beschwerdeführers aber gleichwohl als verspätet behandeln, beruhen sie auf einer Verkennung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien der Art. 19 Abs. 4 und 103 Abs. 1 GG. Sie sind deshalb aufzuheben. Die Sache ist gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG an das Amtsgericht zurückverwiesen worden. Die dem Beschwerdeführer entstandenen notwendigen Auslagen sind gemäß § 34 Abs. 4 BVerfGG vom Land Nordrhein-Westfalen zu erstatten.
Fundstellen
BVerfGE, 323 |
NJW 1976, 747 |
DRiZ 1976, 150 |