Entscheidungsstichwort (Thema)
Verstoß gegen das anwaltliche Werbeverbot
Leitsatz (amtlich)
Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung des in den Richtlinien des anwaltlichen Standesrechts vorgesehenen Werbeverbots (hier: Weitergabe der Strafanzeige und Selbstanzeige eines Rechtsanwalts an die Presse).
Leitsatz (redaktionell)
Anwaltliche Standesrichtlinien sind keine ausreichende Grundlage für Eingriffe in die anwaltliche Berufsausübung; für eine Übergangszeit ist ihnen noch eine begrenzte rechtserhebliche Funktion zuzumessen, soweit es zur Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Rechtspflege unabdingbar erforderlich ist und die durch die Grundrechte gezogenen materiell-rechtlichen Grenzen eingehalten werden; in diesen Grenzen ist auch das Werbeverbot anwendbar, gegen das in seinem Kern keine Bedenken bestehen.
Normenkette
GG Art. 12 Abs. 1; BRAO §§ 43, 177 Abs. 2 Nr. 2, § 177; RL § 1; BRA §§ 2-3
Verfahrensgang
Ehrengericht für Rechtsanwälte Stuttgart (Beschluss vom 24.02.1979; Aktenzeichen EV (A) 6/78) |
Rechtsanwaltskammer Stuttgart (Beschluss vom 07.11.1978; Aktenzeichen B. L. 199/77) |
Tenor
Der Beschluß des Ehrengerichts für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer Stuttgart vom 24. Februar 1979 – E. V. (A) 6/78 – und die Beschlüsse der Rechtsanwaltskammer Stuttgart vom 28. August und 7. November 1978 – B. L. 199/77 – I – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird zur Entscheidung über die Kosten des Verfahrens an das Ehrengericht zurückverwiesen.
Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
A.
Der beschwerdeführende Rechtsanwalt, der in eigener Sache eine Straf- und eine Selbstanzeige an die Presse gegeben hatte, sieht sich dadurch in seinen Grundrechten verletzt, daß dieses Verhalten als Verstoß gegen das anwaltliche Werbeverbot gerügt worden ist.
I.
Nach der mehrfach geänderten Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) vom 1. August 1959 (BGBl. I S. 565) ist der Rechtsanwalt ein unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1); er ist der berufene unabhängige Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten (§ 3). Ihm stehen deshalb besondere Befugnisse zu, ebenso unterliegt er besonderen Pflichten. Diese sind in folgender Generalklausel umschrieben:
§ 43
Allgemeine Berufspflicht
Der Rechtsanwalt hat seinen Beruf gewissenhaft auszuüben. Er hat sich innerhalb und außerhalb des Berufes der Achtung und des Vertrauens, welche die Stellung des Rechtsanwalts erfordert, würdig zu erweisen.
Die Richtlinien des anwaltlichen Standesrechts, in denen gemäß § 177 Abs. 2 Nr. 2 BRAO von der Bundesrechtsanwaltskammer die allgemeine Auffassung über Fragen der Ausübung des Anwaltsberufs festgestellt wird, umschreiben diese Berufspflicht wie folgt:
§ 1
Allgemeine Berufspflichten
(1) Der Rechtsanwalt hat seinen Beruf gewissenhaft auszuüben (§ 43 Satz 1 BRAO). Er hat die ihm anvertrauten Interessen sachlich zu vertreten.
(2) Er darf sich keiner unlauteren Mittel bedienen.
(3) Er hat sich innerhalb und außerhalb des Berufs der Achtung und des Vertrauens, welche die Stellung des Rechtsanwalts erfordert, würdig zu erweisen (§ 43 Satz 2 BRAO).
(4) Er darf auch nicht den Anschein eines Handelns gegen das Standesrecht erwecken.
Dem Rechtsanwalt ist Werbung für seine anwaltliche Tätigkeit untersagt; er hat bereits den Anschein einer solchen Werbung zu vermeiden. Dazu heißt es in den Richtlinien:
§ 2
Werbeverbot
(1) Der Rechtsanwalt handelt standeswidrig, wenn er um Praxis wirbt. Er darf eine ihm verbotene Werbung auch durch andere nicht dulden.
(2) Bei seinem Auftreten vor Gericht und im Umgang mit Presse, Rundfunk und Fernsehen hat er den Anschein zu vermeiden, er wolle sich oder die von ihm bearbeitete Sache sensationell herausstellen.
§ 3
Tätigkeit in der Öffentlichkeit
(1) Der Rechtsanwalt darf seine Berufsbezeichnung auch dann benutzen, wenn er als Schriftsteller, Redner oder in anderer Weise an die Öffentlichkeit tritt. Dabei muß er sachlich bleiben und schon den Anschein einer Werbung für seine anwaltliche Tätigkeit vermeiden.
(2) Liegt eine solche Tätigkeit außerhalb seines Berufs, so hat er zu beachten, daß er das Ansehen der Rechtsanwaltschaft nicht beeinträchtigt.
Bei Verletzung der Berufspflichten kann der Vorstand der zuständigen Rechtsanwaltskammer eine Rüge erteilen, wenn die Schuld des Rechtsanwalts gering ist und die Einleitung eines ehrengerichtlichen Verfahrens nicht erforderlich erscheint (§ 74 Abs. 1 BRAO). Dagegen kann der Rechtsanwalt binnen eines Monats Einspruch erheben, über den wiederum der Vorstand entscheidet (§ 74 Abs. 5 BRAO). Wird der Einspruch zurückgewiesen, kann der Rechtsanwalt binnen eines Monats die Entscheidung des Ehrengerichts beantragen; diese ist nicht mehr anfechtbar (§ 74 a Abs. 1 und Abs. 3 Satz 4 BRAO).
II.
1. Im Herbst 1977 erkundigten sich zwei Kriminalbeamte bei dem beschwerdeführenden Rechtsanwalt nach dem Namen einer Mandantin, die vormittags dessen Kanzlei aufgesucht hatte und die nach der Vermutung von Augenzeugen einer Frau ähnlich sah, die im Zusammenhang mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer gesucht wurde. Da nach seiner Kenntnis keine Anhaltspunkte für eine konspirative Tätigkeit der Mandantin vorlagen, verweigerte der Beschwerdeführer die Auskunft unter Hinweis auf seine Verschwiegenheitspflicht. An dieser Weigerung hielt er zunächst auch noch fest, als ein Beamter des Landeskriminalamtes ihm telefonisch eine Vorführung beim Generalbundesanwalt androhte. Als er aber nach weiteren Überlegungen zu der Überzeugung gelangte, seiner Mandantin könnten keine größeren Schwierigkeiten entstehen, teilte er nach Beratung mit Kollegen schließlich den Namen der Mandantin mit. Die weiteren Ermittlungen ergaben keinen Zusammenhang zwischen dieser und der Gesuchten.
Einen Monat später erstattete der Beschwerdeführer wegen dieses Vorfalls bei seiner Rechtsanwaltskammer Selbstanzeige und bat um Überprüfung, ob ihm wegen Preisgabe des Namens der Mandantin der Bruch des Berufsgeheimnisses vorgeworfen werden könne. Außerdem erstattete er gegen den Beamten des Landeskriminalamtes Anzeige wegen Nötigung im Amt, nachdem dieser ihm den Vorfall kurz zuvor schriftlich bestätigt hatte. Kopien der Selbstanzeige und der Strafanzeige, die eine genaue Schilderung des Vorfalls enthielten, sandte der Beschwerdeführer kommentarlos an die örtlichen Presseorgane, die regionale Presseagentur sowie an den Süddeutschen Rundfunk. Dieses führte zu einer Pressemeldung in der örtlichen Zeitung, zu einem Rundfunk-Interview unter Mitwirkung des Präsidenten der zuständigen Rechtsanwaltskammer nebst einer Gegendarstellung durch den Beschwerdeführer sowie zu einem „Spiegel”-Artikel, wobei der Beschwerdeführer teils mehrfach namentlich genannt wurde; im „Spiegel” erschien auch ein Foto von ihm vor seinem deutlich sichtbaren Praxisschild.
2. Mit den angefochtenen Beschlüssen hat der Vorstand der Rechtsanwaltskammer dem Beschwerdeführer eine Mißbilligung ausgesprochen und den dagegen eingelegten Einspruch zurückgewiesen. Zur Begründung wird ausgeführt, die Preisgabe des Namens der Mandantin könne nicht als standeswidriger Verstoß gegen die Verschwiegenheitspflicht beurteilt werden. Dem Beschwerdeführer sei jedoch wegen der Weitergabe seiner Selbstanzeige an Presse und Rundfunk ein Verstoß gegen das Werbeverbot gemäß § 2 Abs. 2 der Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts vorzuwerfen. Die erst nach einem Monat erfolgte Weitergabe könne nur den Zweck verfolgt haben, sich selbst und den in der Anzeige aufgeführten Vorfall bei Presse und Rundfunk in sensationeller Weise herauszustellen. Allein die standesrechtlichen Organe seien aber berufen, Verstöße gegen die Standesrichtlinien zu prüfen und zu ahnden. Das Verhalten des Beamten des Landeskriminalamtes sei allein von den Strafverfolgungsbehörden oder den Dienstvorgesetzten zu beurteilen. Nur an diese Adressaten hätte sich der Beschwerdeführer wenden dürfen. Es sei nicht ersichtlich, daß es sich um essentielle, die Öffentlichkeit bewegende Vorfälle gehandelt habe, die ausnahmsweise ein Herantreten an die Öffentlichkeit hätten gerechtfertigt erscheinen lassen. § 2 Abs. 2 der Standesrichtlinien sei nicht allein Ausdruck des Werbeverbots, sondern solle auch die Seriosität des öffentlichen Auftretens des Anwalts sichern. Hiergegen aber habe der Beschwerdeführer gröblich verstoßen, indem er einen individuellen Vorgang im Rahmen seiner Berufsausübung, zu dessen Würdigung Massenmedien nicht berufen seien, an die Öffentlichkeit getragen und mithin diesen Teil seiner Berufsausübung zu einem „Showbusiness” gemacht habe.
3. Den Antrag des Beschwerdeführers auf ehrengerichtliche Entscheidung hat das Ehrengericht als unbegründet zurückgewiesen.
Aus § 2 Abs. 2 der Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts ergebe sich die Verpflichtung des Rechtsanwalts, jeden Eindruck zu vermeiden, er wolle sich reklamehaft herausstellen und Sensationen schaffen. Dieser Eindruck habe aber durch die Unterrichtung von Presse und Rundfunk über die Selbstanzeige und die Strafanzeige entstehen müssen. Der Beschwerdeführer habe keinen sachlichen Grund gehabt, die Öffentlichkeit zu informieren. Dabei könne dahingestellt bleiben, ob er von der Begründetheit seiner Anzeigen habe ausgehen können. Die Klärung dieser Frage sei Sache der Rechtsanwaltskammer und der Strafverfolgungsbehörde gewesen. Der Beschwerdeführer habe auch nicht dargetan, daß er mit einer sachlichen und ordnungsgemäßen Bearbeitung seiner Anzeigen durch die zuständigen Organe nicht habe rechnen können und daß es daher notwendig gewesen wäre, gegen eine drohende Verletzung seiner Rechte die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Es könne unerörtert bleiben, unter welchen Voraussetzungen ein Anwalt berechtigt sei, sich zur Abwehr drohender Rechtsverletzungen an die Öffentlichkeit zu wenden. Denn im vorliegenden Fall gebe es für die Annahme einer entsprechenden Konfliktsituation keinen Anhaltspunkt. Nach Überzeugung der Kammer habe durch das Verhalten des Beschwerdeführers zumindest der Anschein entstehen müssen, daß er sich an die erhebliche Publizität, die mit der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer verbunden gewesen sei, habe anhängen wollen, um seine Person und seine Berufsausübung in sensationeller Weise herauszustellen.
III.
1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG. Die standesrechtliche Mißbilligung sei eine Disziplinarmaßnahme, die unmittelbar in die Freiheit seiner Berufsausübung eingreife. Ihm werde zu Unrecht die Inanspruchnahme der Öffentlichkeit untersagt. Eine gesetzliche Grundlage im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG bestehe für dieses Verbot nicht.
In seiner der Verfassungsbeschwerde beigefügten Einspruchsbegründung hatte der Beschwerdeführer insbesondere geltend gemacht, das Echo in den Medien habe bewiesen, daß es sich bei dem Angriff des Landeskriminalamtes auf die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht um einen Vorgang von großem öffentlichen Interesse gehandelt habe. Dieses habe in erster Linie dem Vorwurf der Nötigung im Amt und weit weniger der Behandlung der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht durch die zuständige Anwaltskammer gegolten. Das Interesse an seiner Person sei demgegenüber völlig zurückgetreten.
2. Zu der Verfassungsbeschwerde haben sich die Rechtsanwaltskammer Stuttgart, die Bundesrechtsanwaltskammer und insbesondere der Republikanische Anwaltsverein sowie der Bund Freier Rechtsanwälte geäußert.
a) Die Rechtsanwaltskammer Stuttgart hält eine Stellungnahme für entbehrlich, weil sie ihren in den angegriffenen Beschlüssen dargelegten Standpunkt aufrechterhalte und der angegriffenen Entscheidung des Ehrengerichts zustimme. Es sei lediglich hinzuzufügen, daß der Beschwerdeführer in dem von ihm behaupteten Gewissenskonflikt besser alsbald den Rat seiner Standesorganisation eingeholt hätte, statt einen Monat später die Presse zu informieren. Die Bundesrechtsanwaltskammer hat sich dieser Äußerung in vollem Umfang angeschlossen. Die Grenzziehung zwischen standesrechtlicher Gebundenheit, die dem Anwalt im Interesse seiner Funktion in der Rechtspflege auferlegt sei, und der Berufs- und Meinungsäußerungsfreiheit möge im Einzelfall schwierig sein. Die vorliegende Verfassungsbeschwerde betreffe aber keinen Grenzfall. Die angefochtenen Entscheidungen entsprächen Gesetz und Verfassung.
b) Der Republikanische Anwaltsverein hält die Verfassungsbeschwerde für begründet.
In der Stellungnahme wird einleitend die Bedeutung der Verschwiegenheitspflicht für die anwaltliche Berufsausübung hervorgehoben, die für das Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandanten unentbehrlich sei. Der Beamte des Landeskriminalamtes habe den Beschwerdeführer zum Bruch dieser Pflicht durch eine Drohung bewogen. Zu der angedrohten Vorführung zur Vernehmung beim Generalbundesanwalt sei er keineswegs befugt gewesen, es sei denn, man folge der Theorie, im Falle eines Notstandes dürften die Strafverfolgungsbehörden die geltenden Gesetze unter Inanspruchnahme des § 34 StGB mißachten. Gerade unter dem Eindruck terroristischer Gewaltkriminalität habe das Anfang 1975 in Kraft getretene Erste Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts die Möglichkeit zur Vorführung von Zeugen neu geregelt: Diese sei nicht in die Zuständigkeit der Polizeibehörde, sondern in die der Staatsanwaltschaft gegeben worden und nur erlaubt, wenn eine „unberechtigte Weigerung” vorliege und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht entgegenstehe; gegen die Anordnung zwangsweiser Vorführung durch die Staatsanwaltschaft könne gerichtliche Entscheidung beantragt werden. Es dürfe angenommen werden, daß die zwangsweise Vorführung des Beschwerdeführers durch das zuständige Landgericht untersagt worden wäre, da sich der Beschwerdeführer auf ein gesetzliches Zeugnisverweigerungsrecht habe berufen können.
Der Beschwerdeführer sei nach Art. 5 GG berechtigt gewesen, den Vorfall zum Gegenstand des öffentlichen Interesses zu machen. Mit der Weitergabe der Selbstanzeige an die Presse habe er die Meinung vertreten, ein solcher Bruch der Verschwiegenheitspflicht könne unter diesen Umständen rechtswidrig sein; zum anderen habe sein Vorgehen der Informationsfreiheit gedient. Ob die Publikation der Selbstanzeige überhaupt dem Zweck der Werbung gedient habe, erscheine zweifelhaft. Der Beschwerdeführer habe mit der Selbstanzeige keine besondere berufliche Qualifikation mitgeteilt und keinen von ihm erfolgreich abgeschlossenen Rechtsfall sensationell herausgestellt. Er habe vielmehr bekanntgemacht, daß er die von den Strafverfolgungsbehörden für erforderlich gehaltene Information nicht freiwillig gegeben habe und daß er weiterhin gegen die Erzwingung dieser Information remonstriere. In der damaligen Atmosphäre, in welcher das Publikum die Effektivität der Verbrechensbekämpfung fast um jeden Preis jedem anderen Rechtsgut vorgezogen habe, könne hiervon schwerlich ein Werbeeffekt ausgegangen sein. Auch die Tatsache, daß der Beschwerdeführer ein ihm anvertrautes Geheimnis schließlich doch preisgegeben habe, sei schwerlich geeignet, für seine Praxis zu werben. Der bloße Umstand, daß er sich für eine Fotografie vor seinem Praxisschild zur Verfügung gestellt habe, reiche zur Beanstandung nicht aus.
c) Auch der Bund Freier Rechtsanwälte ist der Ansicht, daß der Beschwerdeführer durch die angegriffenen Entscheidungen in seinen Rechten aus Art. 5 und 12 GG verletzt werde. Weder die Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts noch § 43 BRAO könnten als eine materielle gesetzliche Grundlage für die dem Beschwerdeführer erteilte Rüge angesehen werden. Die Standesrichtlinien, die weder Gesetz seien noch auf einer Ermächtigung des Gesetzgebers beruhten, dürften von den Ehrengerichten nicht als Eingriffsnorm und auch nicht als Hilfe zur Auslegung der Generalklausel des § 43 BRAO verwendet werden. Diese wiederum verpflichte den Anwalt nur, sein Verhalten so einzurichten, daß er gegenüber der rechtsuchenden Bevölkerung keinen Achtungs- und Vertrauensverlust erleide. Ein solcher Verlust trete ein, wenn der Anwalt Unrecht tue. Dies habe aber der Beschwerdeführer nicht getan; er habe lediglich der Presse befugtermaßen Informationen erteilt. Er habe sich dabei schon deshalb nicht selbst reklamehaft herausgestellt, weil er seine Anzeigen ohne weiteren Kommentar übersandt habe. Das Recht auf freie Meinungsäußerung sei ein Instrument der Demokratie zur Kontrolle staatlicher Bediensteter. Kraft dieses Rechts sei der Beschwerdeführer befugt gewesen, das Verhalten des Beamten des Landeskriminalamtes zur öffentlichen Diskussion zu stellen. Die verhängte Sanktion laufe gegenüber dem Beschwerdeführer auf einen „Maulkorb” hinaus.
Entscheidungsgründe
B.
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.
I.
Die Erteilung einer Rüge durch den Vorstand der Rechtsanwaltskammer greift in die freie Berufsausübung des Beschwerdeführers ein. Für diesen vom Ehrengericht gebilligten Eingriff fehlt bereits die gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG erforderliche gesetzliche Grundlage.
Sowohl in den Beschlüssen des Kammervorstandes als auch in der Entscheidung des Ehrengerichts wird die Rüge ausdrücklich auf § 2 Abs. 2 der Standesrichtlinien gestützt. Diese Richtlinien bilden indessen keine ausreichende Grundlage für Einschränkungen der anwaltlichen Berufsausübung. Sie sind zwar bislang als Hilfsmittel anerkannt worden, um die Generalklausel des § 43 BRAO über die anwaltlichen Berufspflichten anzuwenden und durch Auslegung zu konkretisieren. An dieser Beurteilung wird jedoch aus Gründen, die im einzelnen in dem zum Sachlichkeitsgebot ergangenen Beschluß vom heutigen Tage (1 BvR 537/81 und 1 BvR 195/87) dargelegt wurden, nicht mehr festgehalten. Eine begrenzte rechtserhebliche Funktion kann den Standesrichtlinien nur noch für eine Übergangszeit beigemessen werden. Innerhalb dieser Übergangsfrist kann – wie in dem erwähnten Beschluß ausgeführt wird – auf die Standesrichtlinien noch zurückgegriffen werden, soweit sie den materiellrechtlichen Anforderungen an Grundrechtseinschränkungen genügen und soweit dies zur Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Rechtspflege unerläßlich ist.
Als weiterhin anwendbares Hilfsmittel zur Konkretisierung der Generalklausel kann auch das in den Richtlinien niedergelegte und aus § 43 BRAO herleitbare Verbot der gezielten Werbung um Praxis und erst recht der irreführenden Werbung angesehen werden, das als Kern des Werbeverbots seit jeher unangefochten zu den Pflichten der freien Berufe gerechnet worden ist (vgl. BVerfGE 60, 215 (231 f.) – zum Werbeverbot für Steuerberater; 33, 125 (170) und 71, 162 (172 ff.) – zum Werbeverbot für Ärzte; zur Geschichte des anwaltlichen Werbeverbots vgl. BGHSt 26, 131 (133 f.); Prinz, Anwaltswerbung, 1986, S. 84 ff.) und das in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch für Rechtsanwälte wiederholt als verbindlich vorausgesetzt wurde (BVerfGE 36, 212 (219 ff.); 57, 121 (133 f.)).
Soweit das in den Richtlinien niedergelegte Werbeverbot während der Übergangszeit weiterhin anwendbar ist, umfaßt es jedoch nicht das dem Beschwerdeführer vorgeworfene Verhalten. Dieses bestand nicht in einem Anpreisen seiner Leistung, sondern es ging um den Bereich im Vorfeld der eigentlichen Werbung, in dem der Rechtsanwalt schon den „Anschein zu vermeiden” hat, er wolle sich oder die von ihm bearbeitete Sache sensationell herausstellen (§ 2 Abs. 2 der Standesrichtlinien). Was mit diesem Verbot der Anscheinswerbung gemeint sein könnte, ist nicht recht klar (zu den daraus folgenden rechtsstaatlichen Bedenken vgl. Sue, Rechtsstaatliche Probleme des anwaltlichen Standesrechts, S. 136, Fn 4; ferner Kornblum, BB 1985, S. 65 (68)). Wenn mit ihm nur eine Beurteilung nach dem Eindruck bezweckt wird, den das anwaltliche Verhalten auf das Publikum macht, hat es keine eigenständige Bedeutung; denn dies wird bereits vom Verbot der berufswidrigen Werbung mitumfaßt. Anscheinend ist aber eine weitergehende Pflicht zur Vermeidung des bösen Scheins gemeint (vgl. Lingenberg/Hummel, Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts, § 1 Anm. 7). Insoweit könnten bereits Zweifel bestehen, ob eine solche Pflicht für die Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Rechtspflege wirklich unerläßlich wäre. Zumindest ist sie in der Übergangsfrist zurückhaltend anzuwenden und auf das in § 2 Abs. 2 der Richtlinien beanstandete „sensationelle Herausstellen” zu beschränken. Das aber ist in den angegriffenen Entscheidungen gerade nicht geschehen. Diese dehnen das Verbot der Anscheinswerbung im Gegenteil noch aus, indem sie die Berufspflicht aufstellen, die Weitergabe von Straf- und Selbstanzeigen an die Presse in eigener Sache grundsätzlich zu unterlassen, es sei denn, es handele sich um essentielle, die Öffentlichkeit bewegende Vorfälle oder um Konfliktsituationen, in denen der Anwalt sich zum Zwecke der Abwehr einer drohenden Rechtsverletzung an die Öffentlichkeit wenden dürfe. Soweit ersichtlich ist eine derart weitgehende Einschränkung des anwaltlichen Auftretens in der Öffentlichkeit von den Ehrengerichten bislang weder aus der Generalklausel allein noch unter Heranziehung der Richtlinien hergeleitet worden; fortgeltendes vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht kann schon deshalb nicht als Eingriffsgrundlage in Betracht kommen, weil es um ein Verhalten geht, das die demokratischen Betätigungsrechte des Rechtsanwalts bei der Bildung der öffentlichen Meinung berührt, und damit um ein Verhalten, das unter der Herrschaft des Grundgesetzes anderen Kriterien unterliegt als in vorkonstitutioneller Zeit. Daß die strittige Beschränkung nicht unerläßlich ist, um das Funktionieren der Rechtspflege zu sichern, wird durch die folgende inhaltliche Nachprüfung bestätigt: Es liegt auf der Hand, daß Maßnahmen, die als Verletzung von Grundrechten zu beurteilen sind, auch nicht übergangsweise als unerläßlich anerkannt werden könnten.
II.
Eingriffe in die freie Berufsausübung erfordern nicht nur eine gesetzliche Grundlage, sondern sind nach ständiger Rechtsprechung nur dann mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar, wenn sie durch ausreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt werden und wenn sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, wenn also das gewählte Mittel zur Erreichung des verfolgten Zweckes geeignet und auch erforderlich ist und wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit noch gewahrt ist (vgl. BVerfGE 61, 291 (312) m. w. N.; 71, 162 (173)). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.
1. Es sind schon keine vernünftigen und sachgerechten Erwägungen zur Rechtfertigung der in den angegriffenen Entscheidungen postulierten Standespflicht erkennbar. Auf diese lassen sich jedenfalls nicht die für das eigentliche Werbeverbot vorgebrachten Rechtfertigungsgründe übertragen.
Das Verbot standeswidriger Werbung will bei freien Berufen eine Verfälschung des Berufsbildes durch die Verwendung von Werbemethoden verhindern, wie sie in der gewerblichen Wirtschaft üblich sind (BVerfGE 33, 125 (170); 60, 215 (232)). Zwar üben auch Rechtsanwälte in Erfüllung der ihnen obliegenden Aufgaben eine auf Erwerb ausgerichtete Tätigkeit aus; sie werden durch ihre Leistungen bekannt, auch ist ihnen nur eine berufswidrige, nicht etwa jegliche Werbung durch öffentliche Information untersagt. Die Vermeidung von Qualitätsanpreisungen durch ein reklamehaftes Sich-Herausstellen gegenüber Berufskollegen kann aber verhindern, daß durch wertende, nicht überprüfbare Werbeaussagen unrichtige Erwartungen entstehen, die um so näher liegen, als die anwaltlichen Leistungen von den Rechtsuchenden in der Regel nur schwer einschätzbar sind. Auch kann die Abgrenzung von gewerblicher Tätigkeit durch das Verbot standeswidriger Werbung geeignet sein, einer rein geschäftsmäßigen Einstellung entgegenzuwirken und das Vertrauen der Rechtsuchenden darin zu stärken, daß Anwälte nicht aus Gewinnstreben zu Prozessen raten oder die Sachbehandlung an Gebühreninteressen ausrichten (vgl. dazu etwa Jarass, NJW 1982, S. 1833 (1836 f.); Sue, a.a.O., S. 165 ff.).
Es ist offensichtlich, daß sich mit derartigen Erwägungen nicht die im Ausgangsverfahren aufgestellte angebliche Berufspflicht rechtfertigen läßt, die als zulässigen Anlaß für eine Information der Öffentlichkeit durch Straf- und Selbstanzeigen nur die Abwehr drohender Rechtsverletzungen anerkennen oder dies allenfalls bei einem außergewöhnlichen Interesse der Öffentlichkeit als Ausnahme zulassen will. Für eine solche Standespflicht sind auch keine sonstigen Rechtfertigungsgründe erkennbar; daß sie für das ordnungsgemäße Funktionieren der Rechtspflege erforderlich wäre, wird auch in den angegriffenen Entscheidungen nicht dargelegt. Vielmehr ist grundsätzlich davon auszugehen, daß die freiberuflich tätigen Rechtsanwälte wie alle anderen Staatsbürger befugt sind, sich mit Informationen an die Öffentlichkeit zu wenden. Diese Auffassung liegt ersichtlich auch den Standesrichtlinien zugrunde (vgl. § 2 Abs. 2 und § 3 Abs. 1), die damit einen gewissen Werbeeffekt in Kauf nehmen und die das Werbeverbot keineswegs undifferenziert auf jedes anwaltliche Verhalten anwenden, das geeignet sein könnte, den Anwalt in der Öffentlichkeit bekannter zu machen. In einem freiheitlichen demokratischen Gemeinwesen, für das die Meinungsfreiheit konstituierend ist (vgl. BVerfGE 7, 198 (208)), kann die grundsätzliche Befugnis zur Information der Öffentlichkeit nicht zu einer Ausnahme reduziert und – wie in den angegriffenen Entscheidungen – auf essentielle, die Öffentlichkeit bewegende Vorfälle oder zur Abwehr drohender Rechtsverletzungen in Konfliktsituationen beschränkt werden. Hier lassen sich derartige Informationen wegen der damit verbundenen Werbewirkung allenfalls umgekehrt ausnahmsweise dann beanstanden, wenn für diese Informationen kein oder ein derart geringes öffentliches Interesse erkennbar ist, daß der Werbeeffekt demgegenüber deutlich überwiegt (vgl. auch EGMR, EuGRZ 1985, S. 170).
Im Ausgangsverfahren bestand an der Weitergabe der Selbst- und der Strafanzeige an Medien ersichtlich ein gewichtiges öffentliches Interesse. Dafür spricht bereits der Umstand, daß der Vorgang in Presse und Rundfunk aufgegriffen wurde und sogar zu einem Rundfunk-Interview führte, in dem der Präsident der Rechtsanwaltskammer selbst die hohe Bedeutung der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht unterstrich und in dem auf die Gefahr von Überreaktionen im Zusammenhang mit der Terroristen-Bekämpfung hingewiesen wurde. Das öffentliche Interesse an der Diskussion über Befugnisse und Grenzen staatlicher Behörden gegenüber unbescholtenen Staatsbürgern bei derartigen Großfahndungen läßt sich in einem demokratischen Rechtsstaat nicht in Abrede stellen. Das schließt das öffentliche Interesse darüber ein, wie ein Rechtsanwalt auf ein seiner Ansicht nach rechtswidriges Verhalten staatlicher Organe reagiert.
2. Selbst wenn sich die in den angegriffenen Entscheidungen postulierte Standespflicht noch mit gewissen Gemeinwohlinteressen rechtfertigen lassen sollte, führt – wie bereits aus den vorstehenden Erwägungen folgt – jedenfalls die gebotene Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe zu dem Ergebnis, daß die Grenzen der Zumutbarkeit überschritten sind, wenn das Verhalten des Beschwerdeführers als pflichtwidrig mißbilligt wird.
Weder der Vorstand der Anwaltskammer noch das Ehrengericht haben eine nachvollziehbare Gesamtabwägung vorgenommen; die Grundrechtsrelevanz ihrer Rüge haben sie anscheinend gar nicht erkannt, jedenfalls nicht erörtert. Sie haben nicht erwogen, welcher Werbeeffekt von der Weitergabe der Straf- und der Selbstanzeige überhaupt ausgehen konnte, welche Anliegen der Beschwerdeführer mit seiner Flucht in die Öffentlichkeit im übrigen verfolgte und wie ernsthaft die in den Anzeigen angeschnittenen Probleme waren. Hätten sie sich damit auseinandergesetzt, dann wäre ihnen nicht verborgen geblieben, daß einerseits die Veröffentlichung einer Selbstanzeige über die mögliche Verletzung der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht für die breite Bevölkerung nicht gerade werbewirksam sein konnte, daß andererseits der Vorwurf einer Nötigung im Amt in der Strafanzeige nicht völlig abwegig und die Grenzen der Verschwiegenheitspflicht in derartigen Fällen durchaus erörterungswürdig erschienen. Keinesfalls rechtfertigte der geringe Werbeeffekt das an den Beschwerdeführer gerichtete Ansinnen, er habe sich als Angehöriger eines freien Berufes und trotz bestehenden Allgemeininteressen mit einer Anrufung der Staatsanwaltschaft und des Kammervorstandes begnügen müssen. Das anwaltliche Berufsbild, das nicht durch kommerzielle Werbemethoden verfälscht werden soll, nimmt schwerlich Schaden, wenn Veröffentlichungen der strittigen Art in die Medien gelangen. Auch steht der Erfolg, der mit der Anwendung des Werbeverbots erreicht werden könnte, in keinem angemessenen Verhalten zu der mit ihm verbundenen Einbuße für die Berufs- und die Meinungsfreiheit.
Fundstellen
BVerfGE, 196 |
NJW 1988, 194 |
ZIP 1987, 1606 |
JZ 1988, 247 |
Hagemeister 2007 2007, 55 |