Entscheidungsstichwort (Thema)

Widerlegung der Drei-Tage-Zugangsfiktion eines per einfachen Brief versandten Steuerbescheids

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Bei Übersendung von Verwaltungsakten durch einfachen Brief gilt der Dreitages-Zeitraum des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht, wenn der Empfänger substantiiert bestreitet, den Verwaltungsakt innerhalb dieser drei Tage erhalten zu haben, wenn er also Tatsachen vorträgt, die schlüssig auf einen späteren Zugang hindeuten und deshalb Zweifel an der Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 begründen. Sind solche Zweifel vorgetragen und begründet worden, so ist der Sachverhalt aufzuklären und die festgestellten und unstreitigen Umstände sind im Wege freier Beweiswürdigung gegeneinander abzuwägen. Dabei hat die Behörde im Zweifel den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zuganges nachzuweisen.

2. Die Zugangsfiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO ist auch nicht nicht anwendbar, wenn nach Aktenlage nicht erkennbar ist und durch das beklagte FA auch nicht näher erläutert werden kann, an welchem Tag genau die angefochtenen Bescheide vom FA zur Post aufgegeben worden sind.

 

Normenkette

AO § 122 Abs. 2 Nr. 1, § 355 Abs. 1 S. 1

 

Tenor

Es wird festgestellt, dass der Kläger gegen die Bescheide des Beklagten über Einkommensteuer 1997, 1998, 1999, 2000 vom 29. Juli 2003 am3. September 2003 innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist Einspruch eingelegt hat.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Gegenstand des Rechtsstreits ist zunächst die Frage, ob der Kläger gegen die Bescheide des Beklagten über Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer für die Jahre 1997 bis 2000, datierend vom 29. Juli 2003, rechtzeitig am 3. September 2003 Einspruch eingelegt hat bzw. – hilfsweise – ob der diesbezüglich am 15. Oktober 2003 bei dem Beklagten gestellte Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründet war. Im Einzelnen geht es um den folgenden Sachverhalt:

Unter dem 29. Juli 2003 erließ der Beklagte gegen den Kläger Bescheide über Einkommensteuer für die Jahre 1997, 1998, 1999 und 2000, denen eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen vorausgegangen war. Wann diese Bescheide dem Kläger zugestellt wurden, ist zwischen den Beteiligten streitig.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers legte gegen diese Bescheide mit Schriftsatz vom 3. September 2003 Einspruch ein und führte aus, er werde den Einspruch begründen, sobald ihm die Unterlagen für die Schätzung vorlägen, um deren Übersendung er hiermit bitte.

Der Beklagte reagierte darauf mit Schreiben vom 8. Oktober 2003, in dem er darauf hinwies, dass gem. § 355 AO ein Rechtsbehelf innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts einzulegen sei. Als bekannt gegeben gelte ein Verwaltungsakt nach § 122 AO mit dem dritten Tag nach Aufgabe zur Post. Die Rechtsbehelfsfrist für die angefochtenen Bescheide sei daher am 31. August 2003 abgelaufen; die Einsprüche, welche bei ihm, dem Beklagten, am 4. September 2003 eingegangen seien, seien mithin verspätet eingelegt worden. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO seien nicht gegeben.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers wandte sich hiergegen mit Schreiben vom 15. Oktober 2003 an den Beklagten, in dem er die Modalitäten der Zustellung auch im Blick auf Wiedereinsetzungsgründe im einzelnen darstellte und diese Darstellung mit einer eidesstattlichen Versicherung vom 17. Oktober 2003 untermauerte.

Mit Einspruchsentscheidung vom 4. Dezember 2003 verwarf der Beklagte die Einsprüche des Klägers gegen die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1997 bis 2000 als unzulässig.

In den Gründen führte er aus, der Kläger habe nach den Feststellungen der Steuerfahndungsstelle des Finanzamts Bremen-Ost in den Kalenderjahren 1997 bis 2000 Einkünfte aus Gewerbebetrieb erzielt. Steuererklärungen habe er nicht abgegeben. Im Anschluss an die Fahndungsprüfung habe das Finanzamt die Steuer entsprechend festgesetzt und hierüber am 29. Juli 2003 die angefochtenen Einkommensteuerbescheide 1997 bis 2000 erteilt. Gegen diese Bescheide habe sich der Kläger mit seinem erst am 4. September 2003 – also nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist – eingegangenen Einspruch gewandt. Ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt werde, gelte mit dem dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben (§ 355 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 348 Abs. 1 Nr. 1, § 122 Abs. 2 AO). Mache der Kläger nunmehr geltend, die Steuerbescheide seien ihm erst einen Monat nach Bescheiddatum zugegangen, so sei er hierfür beweispflichtig, das heißt es seien Tatsachen vorzutragen, aus denen sich der tatsächlich verspätete Zugang der Steuerbescheide ergebe. Die vom Kläger gemachten Angaben zum verspäteten Zugang der Bescheide müssten als Schutzbehauptung angesehen werden. Der von ihm vorgelegte Auslieferungsbeleg für Einschreiben und Nachnahme könne im Streitfall nicht für die vom Finanzamt zugesagten Steuerbescheide ausgestellt worden sein, denn die Steuerbescheide seien weder durch ...

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