Entscheidungsstichwort (Thema)
Recht der Finanzbehörde auf unmittelbare Einsicht in digitalisierte aufzubewahrende Unterlagen sowie in verknüpfte Daten und Konten
Leitsatz (redaktionell)
- Digitale Speicherungen aufbewahrungspflichtiger Dokumente, die ursprünglich in Papierform vorhanden waren und nach dem Scannen vernichtet werden, unterliegen gemäß § 147 Abs. 6 Satz 1 AO ohne Prüfung der Steuerrelevanz im Einzelfall dem Zugriffsrecht der Finanzverwaltung.
- Eine Trennung zwischen originär digitalen und nachträglich digitalisierten Unterlagen entspricht nicht dem Gesetzeszweck.
- Das Merkmal der „maschinellen Auswertbarkeit” steht dem Online-Bildschirmzugriff auf als Bilddateien gespeicherte und mit den Buchführungsdaten verknüpfte Belege nicht entgegen.
- Der Steuerpflichtige kann den Datenzugriff nicht dadurch abwenden, dass er dem Finanzamt ersatzweise Papierausdrucke zur Verfügung stellt, da diese lediglich Reproduktionen der „aufzubewahrenden Unterlagen” im Sinne des § 147 Abs. 5 AO darstellen.
- Das Freigabeverlangen des Finanzamts ist nicht deshalb ermessenswidrig, weil bei dem Steuerpflichtigen eine Trennung zwischen steuerlich relevanten und nicht relevanten Daten nicht möglich ist.
Normenkette
AO § 147 Abs. 6; FGO § 102; HGB § 257 Abs. 3
Streitjahr(e)
2001, 2002, 2003
Nachgehend
Tatbestand
Die Antragstellerin (Astin) ist ein Unternehmen in Form einer Aktiengesellschaft mit Sitz im Inland. Sie ist 100%-ige Tochter der AA- AG, an der wiederum die A-AG 100% der Anteile hält. Die Astin wickelt ihre handelsrechtliche Finanzbuchhaltung über ERP-Software ab.
Die Belegarchivierung war bei der Astin in den Streitjahren 2001 bis 2003 wie folgt organisiert: Für den Zeitraum 1. Januar 2001 bis 30. Juni 2001 (Rumpfwirtschaftsjahr) wurden die Eingangsrechnungen allein in Papierform vorgehalten. Für das daran anschließende Rumpfwirtschaftsjahr 1. Juli bis 31. Dezember 2001 wurden die Eingangsrechnungen nachträglich eingescannt und im Anschluss daran die Originale vernichtet. Dabei wurden in einem einheitlichen Vorgang zusammen mit den steuerlich relevanten Unterlagen auch steuerlich irrelevante Unterlagen eingescannt, ohne dass im System eine Trennung beider Arten von Unterlagen möglich wäre. Ab dem 1. Januar 2002 implementierte die Astin einen neuen Arbeitsablauf („kreditorischer Workflow”). Der größte Teil der eingehenden Rechnungen (ca. 90%) wurde nunmehr durch den konzerninternen Dienstleister AB-AG so verarbeitet, dass auch technisch eine Trennung zwischen steuerlich relevanten und irrelvanten Unterlagen möglich wurde. Nur noch etwa 10% der eingehenden Rechnungen wurden weiterhin in dem einheitlichen Scan-Verfahren verarbeitet, das keine Trennung ermöglichte. Ausgangsrechungen wurden von der Astin ab dem 1. Februar 2003 größtenteils als pdf-Dokumente archiviert. Für die Vorzeit wurden Duplikate der Originale aufbewahrt.
Der „reguläre Workflow” der Digitalisierung von Eingangsbelegen bei der Astin lief im einzelnen wie folgt ab: Zunächst wurden die Daten der Eingangsrechnungen in einer Vorerfassungsmaske erfasst. Anschließend ergänzte der Rechnungsprüfer den Beleg und verbuchte ihn. Mit der Verbuchung wurde aus dem Vorerfassungsbeleg ein Buchführungsbeleg (FI-Beleg), der in der Datenbank gespeichert wurde. Die Eingangsrechnung wurde sodann eingescannt und als tif-Datei im Archiv gespeichert, anschließend wurde das Original vernichtet. Die Ablage des FI-Belegs und der tif-Datei erfolgte also in unterschiedlichen Ablagesystemen. Allerdings befand sich im FI-Beleg ein Verweis auf die als tif-Datei gespeicherte Eingangsrechnung. Im Rahmen dieser Verlinkung konnte der eingescannte Beleg aus dem System heraus aus dem optischen Archivierungssystem aufgerufen werden, und zwar auch nach bestimmten Suchkriterien. Im System konnte auf diese Weise der Weg vom „Beleg zur Buchung” oder von der „Buchung zum Beleg” nachvollzogen werden.
Am 18. Juli 2005 ordnete der Antragsgegner (das Finanzamt --FA--) die Durchführung einer Betriebsprüfung (BP) für die Veranlagungszeiträume 2001 bis 2003 an. Im Rahmen der laufenden BP gestattete die Astin dem FA – ohne Anerkennung einer Rechtspflicht – den unmittelbaren Zugriff im Sinne des § 147 Abs. 6 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) auf die seit dem 1. Januar 2002 archivierten Eingangsbelege, soweit sie über den „kreditorischen Workflow” verarbeitet worden waren. Die Astin untersagte dem FA dagegen den Datenzugriff auf den Teil der ab dem 1. Januar 2002 weiterhin einheitlich eingescannten Belege. Darüber hinaus untersagte sie ebenfalls in vollem Umfang den Datenzugriff auf die vor dem 1.1.2002 digital archivierten und papierenen Belege. Gleichzeitig bot die Astin an, sämtliche in Papierform vorgehaltenen Belege vorzulegen sowie die nicht freigegebenen Belege auf Wunsch in Papierform auszudrucken. Zur Begründung führte die Astin aus, dass insoweit aufgrund des Archivierungsprozesses eine Trennung von steuerlich relevanten und steuerlich irreleva...