Ingo Heuel, Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 486
Auch im Steuerstrafverfahren können für die Ermittlung der verkürzten Beträge die Besteuerungsgrundlagen geschätzt werden, wenn feststeht, dass der Stpfl. einen Besteuerungstatbestand erfüllt hat, das Ausmaß der tatsächlichen Besteuerungsgrundlagen aber ungewiss ist. Es darf aber nicht vorschnell auf eine Schätzung ausgewichen werden, etwa dann nicht, wenn Arbeitnehmer zu ihrer Beschäftigung und zu den von ihnen eingenommenen "Tellergeldern" noch gar nicht vernommen wurden. Es ist nachvollziehbar zu erläutern, warum eine bestimmte Schätzungsmethode gewählt wird, insb. warum keine genauere Schätzungsmethode zur Verfügung stand.
"In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass tatgerichtliche Feststellungen auf tragfähige Schätzgrundlagen gestützt werden dürfen (BVerfG – Kammer –, Beschl. v. 20.3.2007 – 2 BvR 162/07). Die für die Anwendung und Durchführung einer Schätzung maßgeblichen Kriterien sind: Für eine annähernd genaue Berechnung fehlen aussagekräftige Beweismittel; bei Vermögensdelikten im Rahmen eines Unternehmens sind das namentlich Belege und Aufzeichnungen. Die Parameter der Schätzgrundlage müssen tragfähig sein. Die Schätzung kann auch aus verfahrensökonomischen Gründen angezeigt sein, etwa dann, wenn eine exakte Berechnung einen unangemessenen Aufklärungsaufwand erfordert und bei exakter Berechnung für den Schuldumfang nur vernachlässigbare Abweichungen zu erwarten sind. Im Rahmen der Gesamtwürdigung des Schätzergebnisses ist der Zweifelssatz zu beachten. Die Grundlagen der Schätzung müssen im tatrichterlichen Urteil für das Revisionsgericht nachvollziehbar dargestellt werden."
Der Tatrichter muss selbständig aufgrund freier Beweiswürdigung (§ 261 StPO) die Besteuerungsgrundlagen ermitteln, die für Grund und Umfang der Steuerverkürzung maßgeblich sind und die zur vollen Überzeugung des Gerichts feststehen müssen (s. Rz. 466 ff.). Angaben von Beamten der Finanzverwaltung zu tatsächlichen Gegebenheiten können wie bei sonstigen Zeugen taugliche Grundlage der Überzeugung des Tatgerichts sein. Tatsächliche Zweifel wirken sich also nach dem In-dubio-pro-reo-Grundsatz zugunsten des Angeklagten aus. Der BGH legt aber einen großzügigen Maßstab an die richterliche Überzeugungsbildung an:
"Liegen Anhaltspunkte für eine so ungewöhnliche Vermögensentwicklung nicht vor, ist bei der Schätzung von Besteuerungsgrundlagen nach § 162 AO auch im Strafverfahren von einer durchschnittlichen, an Wahrscheinlichkeitskriterien ausgerichteten Ertragsberechnung auszugehen. Dies gilt umso mehr, wenn – wie hier – der Steuerpflichtige vorhandene Aufzeichnungen vernichtet hat. Bei Auslandsbeziehungen ist darüber hinaus zu bedenken, dass zwar § 90 Abs. 2 AO unmittelbar im Strafverfahren keine Anwendung findet, dass der Täter einer Steuerhinterziehung aber Unsicherheiten, wie sie gerade aus der Verletzung von Mitwirkungspflichten nach § 90 Abs. 2 AO erwachsen sind, im Rahmen der Schätzung gegen sich gelten lassen muss (BGH v. 13.10.1994 – 5 StR 134/94, wistra 1995, 67, 69)."
Rz. 487
Da die steuerlichen Schätzungsmethoden (s. Rz. 481 ff.) notwendig Unschärfen aufweisen, ist ihr Beweiswert im Strafverfahren jedenfalls nicht vorbehaltsfrei. So genügt z.B. eine sog. freie oder griffweise Schätzung nicht den strafprozessualen Anforderungen; ebenso wenig (z.B. bei unterlassenen Umsatzsteuervoranmeldungen) reichen Feststellungen der FinB oder Schätzungen anhand von Richtsätzen bzw. Umsatzprognosen des Stpfl. in der steuerlichen Anmeldung aus. Dagegen ist die Aussagekraft der Geldverkehrs- und Vermögenszuwachsrechnung, der Nachkalkulation und des äußeren und inneren Betriebsvergleichs auch für das Strafverfahren anerkannt, insb. wenn verschiedene Methoden miteinander kombiniert werden. Wird der Hinterziehungsumfang aus einer Bargeldbedarfsrechnung abegleitet, muss sicher sein, dass der Bedarf nicht aus Reserven gedeckt wurde. Die Ergebnisse eines Chi-Quadrat-Tests können durch eigene Analysen entkräftet werden.
Rz. 488
Eine finanzbehördliche Schätzung entfaltet keine Bindung für den Strafrichter und darf nicht ohne eigenständige Begründung im Urteil übernommen werden (s. Rz. 468). Die Grundlagen der Schätzung müssen in den Urteilsgründen für das Revisionsgericht nachvollziehbar mitgeteilt werden. Bestreitet der Stpfl. im Strafverfahren die Schätzung der FinB aber nicht, so kann hierin u.U. ein glaubhaftes Geständnis hinsichtlich des Umfangs der Besteuerungsgrundlagen gesehen werden (s. Rz. 470 f.).
In der Praxis gehen die Strafgerichte häufig von den Schätzungen der FinB aus, nehmen dann aber Sicherheitsabschläge vor oder beschränken sich auf einen Mindestbetrag, um Unsicherheiten auszuräumen. Da die Schätzungen der FinB aber wegen ihrer profiskalischen Ausrichtung zumeist die obere Grenze des steuerverfahrensrechtlich Vertretbaren ausschöpfen, wird auch durch Sicherheitsabschläge nicht immer dem im Strafprozess geltende...