a) Allgemeines
Ergänzender Hinweis: Nr. 17, 21 AStBV (St) 2020 (s. AStBV Rz. 17, 21)
Rz. 89
Oft ergibt sich erst im Verlauf der finanzbehördlichen Ermittlungen, dass die Steuerstraftat mit einer oder mehreren allgemeinen Straftaten materiell oder prozessual tateinheitlich zusammentrifft, die nicht zu den in § 386 Abs. 2 Nr. 2 AO aufgezählten gehören (z.B. Steuerhinterziehung in Konkurrenz mit Urkundenfälschung, Diebstahl, Sozialabgabenbetrug, Untreue, Korruptionsstraftaten oder Insolvenzdelikten).
Rz. 90
In diesen Fällen stellt die Tat nicht "ausschließlich eine Steuerstraftat" i.S.d. § 386 Abs. 2 AO dar, so dass keine selbständige Ermittlungskompetenz der FinB besteht (insoweit noch unstr., vgl. auch Nr. 17, 22 AStBV (St) 2020; s. AStBV Rz. 17, 22). Für die gesamten Ermittlungen ist von vornherein die StA und nicht die FinB zuständig (s. die Tabelle Rz. 51 unter II.A.1.). Die früher dem FA nach § 422 AO 1931 zustehende Befugnis, beim Vorliegen einer Steuerstraftat in Tateinheit mit einem allgemeinen Straftatbestand die Ermittlungen auch in Bezug auf das Allgemeindelikt zu führen, wurde durch das 1. AO-StrafÄndG vom 10.8.1967 beseitigt.
Rz. 91
Dies bedeutet allerdings nicht, dass die FinB von den Ermittlungen völlig ausgeschlossen wird. Ihr verbleibt bzgl. der Steuerstraftat die allgemeine Ermittlungsbefugnis gem. § 386 Abs. 1 Satz 1 AO, die allein zur Voraussetzung hat, dass auch eine Steuerstraftat verwirklicht ist. Die FinB hat in diesen Fällen die polizeilichen Befugnisse i.S.d. § 402 Abs. 1 AO i.V.m. § 399 Abs. 2 Satz 2 AO (s. Rz. 28). Sie kann Beschlagnahmen, Notveräußerungen, Durchsuchungen, Untersuchungen und sonstige Maßnahmen nach den für Ermittlungspersonen der StA geltenden Vorschriften der StA anordnen (§ 402 Abs. 1 AO, § 399 Abs. 2 Satz 2 AO, vgl. § 399 Rz. 109.1). Wichtig ist hier vor allem das sog. Recht des ersten Zugriffs, das die Anordnungsbefugnis zu allen Maßnahmen umfasst, die geeignet sind, die Verdunkelung der Sache zu verhindern (§ 163 Abs. 1 StPO). Die FinB hat auch weiterhin das Recht, unselbständig und selbständig zu ermitteln.
Rz. 92
Äußerst umstritten ist, ob die FinB und deren Fahndungsdienste in Ausübung ihrer Ermittlungskompetenz i.S.d. § 402 AO von sich aus oder im Auftrag der StA ihre Ermittlungen auf das allgemeine Delikt erstrecken dürfen, wenn dieses materiell (§ 52 StGB) oder prozessual tateinheitlich (§ 264 StPO) mit dem Steuerdelikt zusammentrifft. Die Meinungsunterschiede sind in der Praxis insofern von Bedeutung, ob die FinB durch ihre Ermittlungen auch die Verjährung der allgemeinen Straftat unterbrechen kann (§ 78c StGB) bzw. ob bei rechtskräftigem Abschluss des Steuerstrafverfahrens Strafklageverbrauch bzgl. gleichzeitig mit umfasster allgemeiner Straftaten eingetreten ist.
Rz. 93
Übereinstimmung herrscht insoweit, als die FinB die Umstände mit aufklären darf, die sowohl für die Tatbestandserfüllung der Steuerstraftat als auch der allgemeinen Straftat erheblich sind.
Beispiel
Ergibt sich der Verdacht, dass ein Beleg über eine Betriebsausgabe nachträglich durch eine Erhöhung der Zahl verändert wurde, kann die FinB, die diesen Sachverhalt untersucht, auch der Urkundenfälschung (§ 267 StGB) so lange nachgehen, wie dies zur Ermittlung des Verkürzungsschadens oder der Voraussetzungen eines besonders schweren Falles i.S.d. § 370 Abs. 3 Nr. 4 AO erforderlich ist.
Bezüglich der sich überschneidenden Sachverhaltsumstände besteht somit eine faktische Ermittlungsbefugnis.
Rz. 94
Die FinB kann im Rahmen des § 386 Abs. 1 Satz 1 AO auch Ermittlungen hinsichtlich der allgemeinen Zusammenhangstat anstellen. Der BGH hat der ersten Vernehmung durch die Zollfahndung verjährungsunterbrechende Wirkung nach § 78c StGB auch für eine Allgemeinstraftat – konkret Diebstahl – beigemessen, wenn diese in materieller Tateinheit (§ 52 StGB) mit einer Steuerhinterziehung steht.
c) Prozessuale Tatidentität (§ 264 StGB)
Rz. 95
Noch weitergehend nimmt das OLG Braunschweig (s. nachst. Beispiel) unter Berufung auf die vorbezeichnete BGH-Entscheidung eine Ermittlungskompetenz der FinB für Allgemeindelikte auch dann an, wenn diese zwar in Tatmehrheit i.S.d. § 53 StGB begangen sind, aber prozessual tateinheitlich i.S.d. § 264 StPO mit der Steuerstraftat konkurrieren (zum prozessualen Tatbegriff s. Rz. 68 m.w.N.).
Beispiel 9
Der Angeklagte S, ein Bezirksschornsteinfeger, hatte Steuern hinterzogen, indem er Erlöse durch den Bezug und Verkauf von Schornsteinaufsätzen weder in seiner Buchführung noch in den Einkommen-, Umsatz- und Gewerbesteuererklärungen erfasst hatte. Hierzu fertigte er falsche überhöhte Rechnungen der Herstellerfirma an, die den Abnehmern entsprechende Steuerhinterziehungen ermöglichen sollten. Die Rechnungsfalsifikate gingen weder in die Buchführung noch in die Steuererklärungen des Angeklagten ein noch wurden sie dem FA vorgelegt.
Das FA für Fahndun...