Rn. 320
Stand: EL 161 – ET: 11/2022
Nach § 62 Abs 2 Nr 3 EStG aF erhielt ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer, der eine in § 62 Abs 2 Nr 2 Buchst c EStG aF genannte Aufenthaltserlaubnis besaß, dann Kindergeld, wenn er sowohl die Voraussetzungen des § 62 Abs 2 Nr 3 Buchst a EStG aF als auch die des § 62 Abs 2 Nr 3 Buchst b EStG aF erfüllte. Das setzte zum einen voraus, dass er sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhielt, wobei der Aufenthalt nicht unterbrochen sein durfte (§ 62 Abs 3 Buchst a EStG). Eine von der Ausländerbehörde ausgestellte sog Grenzübertrittsbescheinigung konnte nicht einer Duldung gleichgesetzt werden, BFH v 31.07.2009, III B 152/08, BFH/NV 2009, 1811. Eine Unterbrechung des dreijährigen rechtmäßigen, gestatteten oder geduldeten Aufenthalts war generell schädlich, BFH v 24.05.2012, III R 20/10, BStBl II 2014, 27. Der Besitz eines in § 62 Abs 2 Nr 2 Buchst c EStG aF genannten Titels musste zumindest im unmittelbaren zeitlichen Anschluss an die ununterbrochene Aufenthaltszeit erworben werden; es reichte hingegen nicht aus, wenn der dreijährige rechtmäßige gestattete oder geduldete Aufenthalt bereits einige Zeit vor dem für die Kindergeldberechtigung maßgebenden Titelerwerb endete, BFH v 24.05.2012, III R 20/10, BStBl II 2014, 27.
Rn. 321
Stand: EL 161 – ET: 11/2022
Ferner musste der Ausländer berechtigt erwerbstätig sein oder laufende Geldleistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) beziehen oder Elternzeit in Anspruch nehmen (§ 62 Abs 2 Nr 3 Buchst b EStG).
Das BVerfG hat mit Beschluss BVerfG v 28.06.2022, 2 BvL 9/14, 10/14, 11/14, 12/14 u 14/14, auf die Vorlageschlüsse des FG Nds v 19.08.2013 und 21.08.2013, EFG 2014, 923 entschieden, dass § 62 Abs 2 Nr 3 Buchst b EStG idF des Gesetzes zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss v 13.12.2006 (BGBl I 2006, 2915) mit Art 3 Abs 1 GG unvereinbar und nichtig ist. Nach § 62 Abs 2 Nr 3 Buchst b EStG in der genannten Fassung hatten nichtfreizügigkeitsberechtigte Ausländer, die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs AufenthG wegen eines Krieges in seinem Heimatland oder nach den §§ 23a, 24,25 Abs 3 bis 5 AufenthG besaßen (aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen), nur dann einen Anspruch auf Kindergeld, wenn sie sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhielten und im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig waren, laufende Geldleistungen nach dem SGB III bezogen oder Elternzeit in Anspruch nahmen.
Die Regelung bewirke eine Ungleichbehandlung zwischen zwei Teilgruppen nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer mit humanitärem Aufenthaltstitel, nämlich denen, die die Voraussetzungen des § 62 Abs 2 Nr 3b EStG erfüllten, und denen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllten. Diese Ungleichbehandlung, die nicht durch den Anspruch auf Sozialleistungen kompensiert werde, sei nicht gerechtfertigt. § 62 Abs 2 EStG 2006 diene zwar einem legitimen Zweck, soweit die Regelung darauf abziele, Kindergeld nur solchen Personen zukommen zu lassen, die sich voraussichtlich dauerhaft in Deutschland aufhalten werden. Die vom Gesetzgeber gewählten Differenzierungskriterien bestimmten den Kreis der Leistungsberechtigten jedoch – bezogen auf das gesetzgeberische Ziel – nicht in geeigneter Weise, weil sich die Aufenthaltsdauer mittels der verwendeten Kriterien nicht hinreichend zuverlässig prognostizieren lasse. Zwar sei im Ergebnis das Abstellen auf eine tatsächliche Mindestaufenthaltsdauer verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Kriterium einer Integration in den Arbeitsmarkt (§ 62 Abs 2 Nr 3 Buchst b EStG 2006) sei hingegen ungeeignet, die zuverlässige Prognose eines dauerhaften Aufenthalts zu begründen und damit das gesetzgeberische Ziel zu erreichen (vgl BVerfGE 132, 72 <84f Rz 28 f>). Gerade bei humanitären Aufenthaltstiteln erscheine eine Korrelation zwischen einer Erwerbstätigkeit und der voraussichtlichen Aufenthaltsdauer weniger plausibel als etwa in Fällen einer gezielten Zuwanderung zum Zwecke der Ausbildung und nachfolgenden Erwerbstätigkeit. Die Aufenthaltsdauer hänge bei den meisten humanitären Aufenthaltstiteln stärker von der Situation in den Herkunftsstaaten der Betroffenen als von deren eigener Lebensplanung ab. Die durch § 62 Abs 2 Nr 3 Buchst b iVm mit § 62 Abs 2 Nr 2 Buchst c EStG 2006 bewirkte Benachteiligung lasse sich auch nicht durch eine Befugnis des Gesetzgebers zur Typisierung rechtfertigen, da die Voraussetzungen hierfür nicht vorlägen. Dafür sei das in § 62 Abs 2 Nr 3 Buchst b EStG 2006 geregelte Kriterium der (beginnenden) Integration in den deutschen Arbeitsmarkt ungeeignet. Sowohl aus rechtlichen als auch aus tatsächlichen Gründen blieben die meisten Personen, die im Besitz einer humanitären Aufenthaltserlaubnis seien, aber die arbeitsmarktbezogenen Kriterien in § 62 Abs 2 Nr 3 Buchst b EStG 2006 nicht erfüllten, dennoch dauerhaft oder doch jedenfalls ...