Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 29
Der Vertrauensschutz greift nach Abs. 1 Nr. 1 ein, wenn das BVerfG die Verfassungswidrigkeit eines nachkonstitutionellen Gesetzes feststellt. Gesetz i. d. S. ist, entgegen § 4 AO, nur ein förmliches Gesetz, keine Rechtsverordnung. § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 2 AO unterscheidet, anders als § 4 AO, zwischen Gesetz und Norm. Die Beschränkung ergibt sich aus dem Zusammenhang mit Art. 100 Abs. 1 GG, wonach das BVerfG nur für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit nachkonstitutioneller formeller Gesetze zuständig ist. Gesetz ist daher nur ein förmliches Gesetz, nicht eine Rechtsverordnung als materielles Gesetz. Die Feststellung muss durch förmliche Entscheidung des BVerfG erfolgen.
Rz. 30
Der Vertrauensschutz greift nach Abs. 1 Nr. 2 weiter ein, wenn ein oberster Gerichtshof des Bundes (BFH, BGH, BVerwG, BAG, BSG, auch der gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes), nicht aber der EuGH, eine Norm wegen Verfassungswidrigkeit nicht anwendet. Betroffen sein können nur vorkonstitutionelle formelle Gesetze, d. h. Gesetze, die bis zum 23.5.1949 erlassen worden sind, da nur diesen Gesetzen von einem obersten Bundesgericht als verfassungswidrig die Anerkennung versagt werden kann. Nachkonstitutionelle formelle Gesetze, die nach dem 23.5.1949 erlassen wurden, können nach Art. 100 Abs. 1 GG nur durch das BVerfG für verfassungswidrig erklärt werden; dann greift § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO ein. Wegen Zeitablauf dürfte die Regelung für vorkonstitutionelle Gesetze ihre Bedeutung verloren haben. Oberste Bundesgerichte können aber vor- und nachkonstitutionelle materielle Gesetze, d. h. Rechtsverordnungen, für verfassungswidrig erklären oder wegen Verfassungswidrigkeit nicht anwenden, ohne das BVerfG anzurufen. Verfassungswidrig ist eine Rechtsverordnung auch, wenn eine gesetzliche Ermächtigung i. S. d. Art. 80 GG unzureichend ist. Entsprechend hat der BFH wiederholt Rechtsverordnungen nach § 2 Abs. 2 AO die Geltung versagt. Es ist nicht erforderlich, dass die Verordnung ausdrücklich für verfassungswidrig erklärt wird; es genügt, wenn das Gericht sie für rechtsunwirksam hält und daher nicht anwendet. Einer förmlichen Feststellung der Verfassungswidrigkeit bedarf es also nicht.
Rz. 30a
§ 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 2 AO bezieht sich nur auf Entscheidungen des BVerfG und eines obersten Gerichtshofs des Bundes. Damit ist § 176 Abs. 1 AO nicht anwendbar, wenn der EuGH eine Vorschrift als nicht vereinbar mit europäischem Recht bezeichnet. Ein Vertrauensschutz kann in diesen Fällen nur nach §§ 163, 227 AO gewährt werden.
Rz. 30b
§ 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO greift nicht ein, wenn ein anderes Gericht als ein oberstes Bundesgericht eine Rechtsverordnung wegen Verfassungswidrigkeit nicht anwendet. In diesem Fall kann eine verbösernde Entscheidung ergehen. Der Stpfl. muss Revision einlegen, um eine Entscheidung des BVerfG zu erreichen, in der die Rechtsverordnung für verfassungswidrig erklärt wird, damit § 176 AO angewandt werden kann. Die zu enge Formulierung des Gesetzes erzwingt daher an sich unnötige Revisionsverfahren.
Rz. 31
Kein Vertrauensschutz soll eingreifen, wenn die Rechtsverordnung nicht wegen Verfassungswidrigkeit, sondern wegen Kollision mit einem einfachen Gesetz nicht angewandt wird. Dem Wortlaut des § 176 Abs. 1 AO nach ist dies richtig, doch besteht hier ebenso wie bei der Verfassungswidrigkeit ein Schutzbedürfnis des Stpfl. (vgl. Rz. 2). Wegen der Gleichartigkeit der Interessenlage sollte daher eine entsprechende Anwendung des § 176 AO erfolgen.
Rz. 32
Kein Vertrauensschutz greift ein, wenn die Rechtsnorm nicht wegen Verfassungswidrigkeit nichtig ist, sondern wenn sie in verfassungskonformer Weise anders interpretiert wird. Gegen eine andere Interpretation, um die Nichtigkeit zu vermeiden, ist kein Vertrauensschutz gegeben.
Rz. 33
Der Vertrauensschutz besteht darin, dass die geänderte Rechtslage bei einer Änderung der Steuerfestsetzung (aus anderen Gründen) nicht zuungunsten des Stpfl. berücksichtigt werden darf. Im Übrigen bleiben bestandskräftige Steuerfestsetzungen aber unberührt; vgl. Rz. 68ff.