rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Abzweigung von Kindergeld für ein volljähriges behindertes Kind an den Sozialleistungsträger. Keine Pflicht des Kindergeldberechtigten zur Führung eines Haushaltsbuches im Abzweigungsverfahren. Vermutung der Leistung von die Höhe des Kindergeldes übersteigendem Unterhalt bei Haushaltsaufnahme. Sozialhilferechtliche Angemessenheit der Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Kindergeldberechtigte darf im Verfahren wegen der Abzweigung von Kindergeld an den Sozialleistungsträger nicht verpflichtet werden, akribisch eine Art „Haushaltsbuch” zu führen oder in ähnlicher Weise nachvollziehbar glaubhaft zu machen, ob und ggf. in welcher Höhe er aus welchen Einkünften Aufwendungen für den Unterhalt seines Kindes tätigt. Die Abzweigungsentscheidung muss daher auf der Grundlage eines nur unvollständig aufgeklärten Sachverhaltes ergehen (Anschluss an FG Sachsen-Anhalt v 10.11.2011, 5 K 454/11; entgegen dem zu hohe Anforderungen an die Nachweispflichten der Kindergeldberechtigten stellenden Urteil des FG Münster v. 25.3.2011 12 K 1891/10)
2. Lebt das behinderte volljährige Kind, welches außer Stande ist, sich selbst zu unterhalten, im Haushalt des Kindergeldberechtigten, ist typisierend davon auszugehen, dass der Berechtigte regelmäßig Unterhaltsleistungen erbringt, die den Betrag des Kindergeldes übersteigen, so dass eine Abzweigung des Kindergeldes an den Sozialleistungsträger ausscheidet.
3. Bei der im Rahmen des Abzweigungsverfahrens zu treffenden Ermessensentscheidung der Familienkasse sind grundsätzlich sämtliche Unterhaltsaufwendungen der Eltern zur Deckung des Lebensbedarfes des Kindes i. S. v. § 1610 Abs. 2 BGB zu berücksichtigen. Auf die Angemessenheit der Aufwendungen nach sozialhilferechtlichen Maßstäben kommt es nicht an.
Normenkette
EStG § 74 Abs. 1 Sätze 1, 4, § 68 Abs. 1 S. 1; BGB §§ 1602-1603, 1610; SGB XII § 94 Abs. 1 S. 1, § 43 Abs. 2; AO §§ 88, 5; SGB X § 20; FGO § 102
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens ohne die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen trägt die Klägerin.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Abzweigung des Kindergeldes an den Sozialhilfeträger, der für das behinderte Kind der Beigeladenen Sozialleistungen erbringt.
Die Beigeladene ist die leibliche Mutter des am 16.11.1974 geborenen Sohnes A.
A. ist zu 100 v.H. behindert, sein Schwerbehindertenausweis enthält die Merkzeichen „G”, „aG” und „H” (KG-Akte, Bl. 107). Er lebt im Haushalt der Beigeladenen und bewohnt mit dieser zusammen eine 68 m² große Wohnung. Die Wohnungsmiete beträgt warm 413 Euro monatlich. Tagsüber besucht A. die Lebenshilfewerkstätten X, eine Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). Er wird zu Hause morgens um 6 Uhr 30 vom Behindertenfahrdienst abgeholt und nachmittags gegen 14 Uhr 45 zurückgebracht, im Übrigen betreut ihn die Beigeladene.
Die Klägerin zahlte für A. im August 2010 monatliche Grundsicherungsleistungen in Höhe von 230,51 Euro sowie Eingliederungshilfe in Höhe von 83 Euro, mithin 313,51 Euro (vgl. Berechnungsbogen für August 2010, Bl. 30 d. Gerichtsakte). Für November 2011 zahlte sie eine geringfügig höhere Grundsicherung von 256,61 Euro und somit 339,61 Euro im Monat. Die von der Klägerin ebenfalls zu tragenden Kosten für die Unterbringung A.s in der Werkstatt schwankten zwischen rund 900 und 1.100 Euro pro Monat. Daneben erhielt A. eine monatliche Erwerbsunfähigkeitsrente von 214,66 Euro sowie ein Werkstatteinkommen von 132,94 Euro. Aus diesen Einnahmen standen daher zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes zwischen 661,11 Euro und 687,21 Euro pro Monat zur Verfügung. Zudem wurde Pflegegeld in Höhe von 215 Euro gezahlt (KG-Akte Bl. 102). Alle Beträge flossen auf das Konto der Beigeladenen. Diese bezog eine Rente von 676 Euro. Die gemeinsamen Aufwendungen bestritt die Beigeladene aus der Summe aller eingehenden Zahlungen. Sie überwies an die Klägerin einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von 27,69 Euro für Dezember 2009 und von 31,07 Euro ab Januar 2010.
Die Beklagte hat für A. Kindergeld in gesetzlicher Höhe festgesetzt und bis Dezember 2009 durchgehend an die Beigeladene gezahlt.
Am 03.12.2009 beantragte die Klägerin die Abzweigung (KG-Akte Bl. 97) gem. § 74 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Die Beklagte lehnte den Antrag am 07.12.2009 (KG-Akte Bl. 99) ab, da durch die Haushaltsaufnahme ausreichender Unterhalt gewährt werde. Gegen die Ablehnung legte die Klägerin am 17.12.2009 Einspruch ein (KG-Akte Bl. 100). Die Beklagte bat daraufhin die Beigeladene ohne förmliche Hinzuziehung, ihre Aufwendungen für A. zu beziffern und nachzuweisen (KG-Akte Bl. 101). Am 19.02.2010 ging eine entsprechende Erklärung der Beigeladenen mit einigen Belegen bei der Beklagten ein (KG-Akte Bl. 107 – 115; 121). Die Beklagte errechnete auf der Grundlage der Angaben der Beigeladenen einen monatlichen Aufwand von 275 Euro und wies den Einspruch der Klägerin am 18.05.2010 als unbegründet zurück (KG-Akte B...