KI und Steuerberatung: Braucht es das gemeinsame Vorgehen?

Welche Rolle neue Technologien künftig auch in der Steuerberatung spielen können, zeigt ChatGPT eindrucksvoll. Im Interview spricht Jens Henke, Steuerberater der DBB DATA in Berlin, über die aktuellen Chancen und Herausforderungen von KI. Der Experte erklärt, warum sich für die Branche im Umgang mit KI-Lösungen ein gemeinsames Vorgehen lohnt.

Herr Henke, ChatGPT hat kürzlich Prüfungsaufgaben einer deutschen steuerfachlichen Prüfung bestanden. Wann beherrscht diese KI auch internationales Steuerrecht?

Das kann sie schon heute. Wenn Doppelbesteuerungsabkommen und sonstige relevante Rechtstexte für die KI hinterlegt werden, kann ChatGPT auch zum internationalen Steuerrecht Auskunft geben. Die Frage ist jedoch immer: Kann die Person vor dem Bildschirm beurteilen, ob die Antwort korrekt ist?

… also könnten die Antworten auch falsch sein?

Ja, durchaus. Internationales Steuerrecht ist ein komplexes Thema, nicht umsonst gibt es die Fachberater Internationales Steuerrecht. Für Laien wären es daher nicht ratsam, mit Hilfe der KI entsprechende Fragen rechtssicher klären zu wollen. Aber für Experten für internationales Steuerrecht, die mithilfe der KI ihre Arbeit effizienter gestalten wollen, spricht nichts dagegen, sie auch einzusetzen. Als Kanzleien brauchen wir klare interne organisatorische Regeln, wer für welche Zwecke welche KI-Anwendung nutzt und durch wen die Qualitätssicherung des Arbeitsergebnisses in welcher Form erfolgt. Unsere Aufgabe ist somit neben der Weiterentwicklung der Prozesse die Weiterentwicklung des Qualitätsmanagements.

Jens Henke

Sie nutzen ChatGPT bereits für Ihre Kanzlei. Welche Erfahrungen haben Sie damit gesammelt?

Ich setze das Tool beispielsweise ein, um Stellenausschreibungen zu erstellen. Das funktioniert bereits sehr gut. Ebenso kann die KI sehr schnell E-Mails vorformulieren oder allgemeine Teile von Mandantenschreiben aufsetzen. Überall dort, wo keine persönlichen Angaben nötig sind, können Werkzeuge wie Chat GPT den Arbeitsalltag unterstützen. Man kann sie beispielsweise auch dazu einsetzen, Texte für Werbekampagnen oder für Beiträge auf LinkedIn oder Facebook zu generieren. Ebenso liefert ChatGPT aussagekräftige Lageberichte für sämtliche Wirtschaftszweige. In der aktuellen Betaversion wird ChatGPT nun noch mächtiger, da es auch auf Online-Quellen zugreifen kann. Problematisch sehe ich in diesem Zusammenhang, dass nicht in erster Linie Primärquellen wie Gesetze oder Rechtsprechung herangezogen werden, sondern dass sich das Modell leicht verständliche Texte sucht, also Sekundärquellen. Diese Quellen können bereits unvollständige oder fehlerhafte Informationen enthalten, zumindest sind sie jedoch durch die Autorin oder den Autor geprägt. Das kann zu fehlerhaften Folgerungen durch das Sprachmodell führen.


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Wie schätzen Sie die Entwicklung rund um KI ein, die doch sehr rasant voranschreitet…

Im Moment beginnt der Markt, das Produkt aufzunehmen und damit zu spielen. In den nächsten Monaten werden sich dann passende Geschäftsmodelle herauskristallisieren. Und man wird Dinge kombinieren. Wenn man zum Beispiel KI mit Robotic Process Automation (RPA) verknüpft, würden sich völlig neue Möglichkeiten eröffnen. Steuerkanzleien könnten beispielsweise Tools einsetzen, die für den kompletten Schriftverkehr automatisch Antworten vorbereiten, die nach Prüfung durch einen Menschen versendet werden. Vieles ist möglich.

Wie könnte das in der Praxis aussehen?

Man könnte zum Beispiel Schrift mit einer Volltexterkennung einscannen, um einen Textdatensatz zu erhalten, wenn der Text nicht ohnehin als elektronischer Datensatz zur Verfügung steht. Dieser kann über ChatGPT oder ein vergleichbares Tool eingelesen und es kann eine Antwort ausgegeben werden. Diese Antwort wird beispielsweise in ein PDF umgewandelt und kann dann an ein Druckzentrum geschickt oder in der Cloud abgelegt werden – oder das wird direkt als E-Mail oder beSt-Nachricht  versendet. Zuvor gibt es noch einen Freigabeprozess, in dem ein Mensch das Schreiben liest und gegebenenfalls bearbeitet. Die Zeitersparnis einer solchen Automatisierung wäre enorm. Die Kombination verschiedener Lösungen eröffnet der Branche völlig neue Möglichkeiten. Aber wenn jede Kanzlei separat solche Lösungen entwickelt, könnte das ein sehr langwieriger Prozess werden.

Was wäre die Alternative, um die Umsetzung von KI-Lösungen in den Kanzleien zu beschleunigen?

Wenn es gelingt, dass die Steuerberater die gleiche gedankliche Leistung vollbringen wie bei der Gründung der DATEV, könnte die gesamte Steuerbranche davon profitieren.

KI in der Steuerberatung: Rahmenbedingungen für technischen Fortschritt

… Sie meinen eine genossenschaftliche Lösung?

Ja. Die Branche könnte genossenschaftlich neue Tools und Prozesse entwickeln. Jeder würde seine Ideen und Produkte einbringen und jedes Mitglied könnte sie nutzen. Beispielsweise bietet Microsoft für seine Lösungen einen großen Pool von Automatisierungstools. Die meisten sind jedoch keine Eigenentwicklungen, sondern wurden von der Community entwickelt. Aus meiner Sicht ist das Thema Künstliche Intelligenz nicht nur für die Steuerberaterbranche in genossenschaftlicher Hand eine bedenkenswerte Option.

Wenn jeder für sich Lösungen entwickelt, lässt sich damit sicher gutes Geld verdienen – aber das ist kurzfristig gedacht. Langfristig sollte die Branche in diesem Punkt besser an einem Strang ziehen.

Also wäre die DATEV gefordert?

Entweder sie oder eine andere genossenschaftliche Organisation. Letztlich geht es darum, Rahmenbedingungen für den Umgang mit KI in der Steuerberaterbranche zu formulieren und die Steuerberatung als Gesamtheit technologisch nach vorn zu bringen. Auch die Verbände könnten theoretisch eine solche Rolle übernehmen.

Welche konkreten Rahmenbedingungen wären aus Ihrer Sicht wünschenswert?

Hilfreich wäre für die Steuerbranche beispielsweise eine Datenschutzlösung ähnlich wie GPT Schule es nach eigenen Angaben ermöglicht. Dieser Dienst erlaubt es wohl, über die OpenAI-API nicht-personenbezogene Fragen sicher zu ChatGPT zu übermitteln. Von Vorteil wäre es auch, wenn zentral ein No-Code-Chat Bot Builder für die Branche verfügbar wäre, mit dem sich jede Kanzlei ohne Programmierkenntnisse einen passenden Bot zu den jeweils kanzleirelevanten Themen erstellen könnte. Die Rolle der Genossenschaft wäre, die Aktivitäten zu moderieren und Qualitätsstandards für die Tools zu definieren, mit den Anbietern von Sprachmodellen zu verhandeln und der Community der Genossenschaft gute Lösungen zur Verfügung zu stellen.


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Wir reden hier über den Einsatz von Künstlicher Intelligenz, aber manche Kanzleien hadern noch mit der Digitalisierung. Ist das KI-Thema in der Branche überhaupt schon angekommen?

Das Thema dringt jetzt in die Branche ein. Ich schätze aber, dass bisher erst fünf bis zehn Prozent der Steuerberater sich ernsthaft damit befassen. Das hängt vor allem damit zusammen, dass man zunächst über zwei andere Dinge sprechen sollte – nämlich über Standardisierung und Digitalisierung. Kanzleien, die den Schritt der Standardisierung bisher nicht geschafft haben oder im Anfangsstadium der Digitalisierung feststecken, haben möglicherweise keine Chance, den enormen Automatisierungsvorteil von KI zu nutzen. Entsprechend werden wir eine weitere Spreizung im Markt erleben.

Und wenn eine Kanzlei aktuell noch mit der Digitalisierung kämpft?

Dann sollte sie die Digitalisierung jetzt mit aller Kraft durchziehen oder es sein lassen. Nur wenn es Kanzleien schaffen, mit strukturierten Daten zu arbeiten und Workflows zu automatisieren, haben sie noch eine Chance, den wachsenden Anforderungen gerecht zu werden. Um es klarzustellen – es gibt keinen Druck zu digitalisieren. Digitalisierung ist eine unternehmerische Entscheidung. Sie ist nur dann zwingend nötig, wenn eine Kanzlei zukunftsfähig aufgestellt werden soll.

Kanzlei-Mitarbeiter reagieren mitunter skeptisch, sehen in KI einen neuen Konkurrenten. Zurecht?

Noch immer hält sich die Legende, dass neue Technologien Arbeitsplätze kosten. Das ist nicht so. Wurden Arbeitsplätze durch das elektronische Bankbuchen oder das digitale Belegbuchen vernichtet? Nein. Im Gegenteil: Je komplexer die Fragestellung und die Antwort durch eine KI, desto mehr Reife und Erfahrung und Kompetenz muss derjenige haben, der mit dieser Antwort arbeitet. Flugzeuge werden auch von erfahrenen Piloten gesteuert, obwohl ein Autopilot dies völlig eigenständig könnte. Wichtig ist es, die eigenen Mitarbeiter frühzeitig einzubinden und zu ermutigen, sich auch gedanklich weiterzuentwickeln.


KI wird unsere Arbeitsweise verändern, sie wird uns aber nicht ersetzen. Wir schaffen mehr in weniger Zeit. Und wir kompensieren damit auch ein Stück weit die Überalterung und den fehlenden Nachwuchs.

Es bedeutet jedoch auch, dass wir dringend über die Form der Ausbildung nachdenken müssen. Hier brauchen wir weniger starre und mehr dynamische Modelle, die mit dem Tempo mithalten können.


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Was bedeutet das für den Arbeitsalltag der Steuerberater?

Die Gesetzgebung wird komplexer, die Anforderungen im Finanzbereich steigen und die Mandanten sind zunehmend auf schnelle zeitnahe Finanzinformationen angewiesen. Gleichzeitig bedingt die Demografie, dass immer weniger Menschen in unserer Branche arbeiten. Also müssen wir Werkzeuge in die Hand nehmen, mit denen wir effizienter arbeiten. Der Einsatz von KI-Lösungen wird dafür sorgen, dass Steuerberater künftig mehr Dinge managen und prüfen müssen, als es heute der Fall ist. Routineaufgaben werden im Gegenzug von Technologien erledigt und Prozesse deutlich beschleunigt. Das spart unter dem Strich wertvolle Arbeitszeit, schont interne Ressourcen und ermöglicht es den Steuerkanzleien, den wachsenden Anforderungen gerecht zu werden.