Dr. Josef Baumüller, Prof. Dr. Kerstin Lopatta
Rz. 72
Die finanzielle Wesentlichkeitsbewertung beinhaltet die Identifizierung von Informationen, die für Hauptnutzer der allgemeinen Finanzberichterstattung bei Entscheidungen über die Bereitstellung von Ressourcen für das berichtspflichtige Unternehmen als wesentlich betrachtet werden können (ESRS 1.48). Insbes. werden Informationen für Hauptnutzer der allgemeinen Finanzberichterstattung als wesentlich betrachtet, wenn das Auslassen, die fehlerhafte Darstellung oder die Verschleierung dieser Informationen die Entscheidungen beeinflussen können, die von diesen Interessenträgern auf Basis der Nachhaltigkeitserklärung getroffen werden. Die Definition der finanziellen Wesentlichkeit gem. ESRS entspricht damit grds. dem Verständnis von Wesentlichkeit i. S. d. IFRS SDS, die sich damit als weitere Orientierungspunkte anbieten.
Rz. 73
Ein Nachhaltigkeitsaspekt wird aus finanzieller Sicht als wesentlich betrachtet, wenn er Risiken oder Chancen auslöst oder potenziell auslösen kann, die einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung, die finanzielle Lage, den Cashflow, den Zugang zu Finanzmitteln oder die Kapitalkosten des Unternehmens haben oder von denen vernünftigerweise erwartet wird, dass sie sich kurz-, mittel- oder langfristig wesentlich auswirken. Diese Risiken und Chancen beschränken sich nicht nur auf Umstände, die unter direkter Kontrolle des Unternehmens stehen, sondern umfassen auch Geschäftsbeziehungen mit anderen Unternehmen oder Interessenträgern außerhalb des Konsolidierungskreises, der für die Erstellung des Abschlusses angewendet wurde (ESRS 1.49).
Rz. 74
Die Definition von finanzieller Wesentlichkeit entspricht auch weitgehend jener, die für die Finanzberichterstattung, insbes. für den IFRS-Abschluss samt Lagebericht, vorgesehen ist. Ein zentraler Unterschied liegt im weit gefassten Zeithorizont, der zugrunde zu legen ist – langfristige finanzielle Risiken und Chancen werden i. d. R. über den typischen Betrachtungszeitraum hinausgehen, der für Fragen der Finanzberichterstattung (z. B. impairment-Tests, finanzielle Risikoberichterstattung im Lagebericht) maßgeblich ist. Bspw. werden für die Nachhaltigkeitserklärung finanzielle Folgen des Klimawandels finanziell wesentlich und damit in der Berichterstattung zu berücksichtigen sein können, obschon diese Folgen sich ggf. erst in zehn bis 15 Jahren materialisieren. Weitere Unterschiede betreffen etwa die weiter gefassten Berichtsgrenzen und das Abstrahieren von den Definitionen eines Vermögenswerts oder einer Schuld, die der Finanzberichterstattung zugrunde liegen.
Rz. 75
Einen zentralen Punkt innerhalb der Bewertung der finanziellen Wesentlichkeit stellen die damit verbundenen Risiken und Chancen dar.
Risiken und Chancen werden im Glossar zu den ESRS wie folgt definiert:
- "Nachhaltigkeitsbezogene Risiken: Ungewisse Ereignisse oder Bedingungen in den Bereichen Umwelt, Soziales oder Governance, die, falls sie eintreten, möglicherweise wesentliche negative Auswirkungen auf das Geschäftsmodell des Unternehmens und seine Strategie, seine Fähigkeit zur Erreichung seiner Ziele und zur Schaffung von Werten haben können und daher seine Entscheidungen und die Entscheidungen seiner Geschäftsbeziehungen im Hinblick auf Nachhaltigkeitsaspekte beeinflussen können. [...]"
- "Nachhaltigkeitsbezogene Chancen: Ungewisse Ereignisse oder Bedingungen in den Bereichen Umwelt, Soziales oder Governance, die, falls sie eintreten, möglicherweise wesentliche positive Auswirkungen auf das Geschäftsmodell des Unternehmens oder seine Strategie, seine Fähigkeit zur Erreichung seiner Ziele und zur Schaffung von Werten haben können und daher seine Entscheidungen und die Entscheidungen seiner Geschäftspartner im Hinblick auf Nachhaltigkeitsaspekte beeinflussen können. [...]"
Diese ergeben sich auch aus möglichen Abhängigkeiten in Bezug auf natürliche, menschliche und soziale Ressourcen (ESRS 1.50). Einerseits können die Beschaffung der eigentlichen Ressourcen betroffen sein, andererseits die Geschäftsbeziehungen, die für die jeweiligen Geschäftsprozesse erforderlich sind. Weitere Beispiele für solche Abhängigkeiten enthält ESRS 1.AR13; darüber hinaus ist auf die Empfehlungen der Taskforce on Nature-related Financial Disclosures (TNFD) zu verweisen, die weitere Orientierung bieten. Während bei Auswirkungen auch "tatsächliche Auswirkungen" berücksichtigt werden müssen, stellen Risiken und Chancen auf zukünftige Ereignisse ab; dies ist insofern schlüssig, als bereits realisierte Risiken und Chancen bereits im Jahres- bzw. Konzernabschluss des Unternehmens abgebildet werden sollten.
Rz. 75a
Ebenso ist zu berücksichtigen, dass Risiken und Chancen häufig nachgelagert aus Auswirkungen resultieren. Deswegen empfiehlt die EFRAG, in einem ersten Schritt Auswirkungen zu bewerten und in einem zweiten Schritt mögliche Risiken und Chancen, die mit den bewerteten Auswirkungen verbunden sein können, zu suchen und zu bewerten.
Bei der Sustainable-Finance-Initiative der EU wird genere...