Bevor wir ein Zukunftsbild entwickeln, zoomen wir erst einmal ein ganzes Stück weit heraus aus unserem eigenen Mikrokosmos und dem relativ engen Blickwinkel, der durch unsere durchschnittliche Lebenszeit von ca. 80 Jahren und dem noch kürzeren Arbeitsleben von ca. 40 Jahren nur eine begrenzte Perspektive zulässt. Wir betrachten die Entwicklung von Arbeit und unser Verständnis von Arbeit über eine größere Zeitspanne hinweg. Nur indem wir beginnen vorausschauend über unsere eigene Lebensdauer hinweg zu denken, schaffen wir es, wirklich nachhaltig zu agieren.
Abb. 1: Ein Blick in die Entwicklungsgeschichte der Arbeitswelt
3.1 Das Hier und Jetzt
Beginnen wir mit dem Hier und Jetzt. Was bedeutet Arbeit von unserem heutigen Standpunkt aus betrachtet? Arbeit gilt als Pflicht. Der pflichtbewusste Bürger geht einer geregelten Arbeit nach, die dann fortan für die nächsten 40 Jahre unwillkürlich seinen Alltag und seinen Tagesablauf bestimmt.
Die negative Sichtweise
Vor über 10 Jahren wurde ich zusammen mit meinen Kommilitonen mit einem für mich damals schockierenden Appell aus der Universität entlassen, der mich auf die Realität in der Arbeitswelt vorbereiten sollte: "Seid Euch bewusst, wenn Ihr Euch in ein Angestelltenverhältnis begebt, begebt Ihr Euch in eine Diktatur.". Schlimmer noch: Gerade in der Kreativwirtschaft und in der Werbebranche, in der ich damals meine Zukunft sah, warnte man mich vor "moderner Sklaverei". Beides durfte ich miterleben und ich bin mir sicher, viele Erwerbstätige könnten Ähnliches berichten.
Als Kulturwissenschaftlerin, Ethnologin und Wirtschaftspsychologin war und bin ich jedoch sicher: Die Menschheit strebt schon, so lange sie existiert, danach, sich von den Fesseln und Beschränkungen ihrer Zeit, die ihnen von den aktuellen Herrschaftssystemen auferlegt wurden, zu lösen und zu befreien. So war es mit der Sklaverei, so war es mit der Gleichberechtigung der Frau und so wird es auch mit Ungerechtigkeiten in unserer Arbeitswelt sein. Nach den Vertreter der zeitgenössischen kritischen Theorie ist unser aktuelles Wirtschaftssystem reif für eine Reform, denn die kapitalistische Wirtschaftsordnung institutionalisiert nach wie vor Machtinstanzen, legitimiert Herrschaftsverhältnisse und lässt Ausbeutungsbeziehungen zu.
Die doch positivere Realität
Doch ein solch düster gezeichnetes Bild der Arbeitswelt hilft, Missstände deutlich zu machen und Handlungsbedarf aufzuzeigen. Es handelt sich hier aber ganz sicher nur um die halbe Wahrheit und keine allumfassende Betrachtung unserer heutigen Arbeitsverhältnisse, die sich generell kontinuierlich verbessern. Darüber haben sich die Länder im Europäischen Wirtschaftsraum verständigt, und das bestätigen auch Umfragen und Studien der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. In einem aktuellen Bericht über "Arbeitsbedingungen und nachhaltige Arbeit" heißt es:
"Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen ist seit dem Vertrag von Rom ein erklärtes Ziel der europäischen Integration. Gute Arbeitsbedingungen wurden als Voraussetzung für die Entwicklung einer wettbewerbsfähigen wissensbasierten Wirtschaft (Lissabon-Strategie) und einen erfolgreichen Übergang zu intelligentem, nachhaltigem und integrativem Wachstum anerkannt."
Neue Ansätze und alternative Arbeitsmodelle machen demnach schon heute auf sich aufmerksam und sind Vorboten des Wandels. Eines der bekanntesten Beispiele ist sicherlich der US-Technikriese Google, der mit Aktionen und Berichten von Freiheiten und paradiesischen Rahmenbedingungen auf sich aufmerksam machte, die für das gemeine Arbeitsvolk undenkbar schienen (einen Tag in der Woche an eigenen Projekten arbeiten zu dürfen, Unterhaltungsangebote, gute Bezahlung und spielplatzartig ausgestattete Google-Büros mit Pool und Kletterwand). Die schillernden Stories solcher Arbeitsparadiese haben uns inspiriert und lassen uns erahnen, in welche Richtung eine humanistische, an Bedürfnissen und der Potenzialentfaltung der Mitarbeitenden orientierte Arbeits- und Organisationsentwicklung gehen kann.
Arbeit ist nach wie vor Pflicht
Vom aktuellen Standpunkt aus betrachtet ist heute Arbeit nach wie vor noch für die meisten Pflicht. Eine Arbeit zu haben gehört zum Lebensplan. Davon gehen wir aus, ohne nachzudenken. Von Kind an werden wir darauf vorbereitet. Wir werden gefragt, was wir einmal werden wollen. Wir werden in die Schule geschickt, wir lernen in Praktika Berufe kennen und knapp die Hälfte eines jeden Geburtenjahrgangs in Deutschland geht zur Universität. Die andere Hälfte wird in einer Ausbildung angelernt. Das man während seines 40-jährigen Arbeitslebens Freizeit aufgibt, sich von der selbstbestimmten Zeiteinteilung verabschieden muss und auch Freiheiten in der Lebensführung aufgegeben werden, ist jedem bewusst und wurde bis zu Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert kaum hinterfragt. Man arbeitet, um zu leben....