„Wir wechseln nicht unsere Strategie, um kurzfristige Gewinne zu erzielen“
Herr Holstein, Vitesco Technologies hat Nachhaltigkeit als einen von fünf Fokus-Bereichen in der Unternehmensstrategie „Direction 2030“ verankert. Sie verstehen sich als Treiber von Nachhaltigkeit – zum Beispiel durch Elektrifizierung Ihrer Produkte. Inwiefern kann man Antriebstechnologien nachhaltig produzieren?
Das ist in der Tat eine große Herausforderung, zumal viele unserer Produkte hochkomplex sind und aus mehreren hundert Komponenten bestehen. Wie wir sie entlang der kompletten Wertschöpfungskette nachhaltig produzieren können, ist Aufgabe des Life Cycle Engineerings. Vitesco Technologies zählt hier zu den Vorreitern unter den Automobilzulieferern.
Was verstehen Sie unter „Lifecycle Engineering“?
Es handelt sich dabei um eine auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Methode, die technische, ökologische und wirtschaftliche Auswirkungen von Entscheidungen innerhalb des Produktlebenszyklus berücksichtigt. Am Anfang steht hier immer eine Ökobilanz, also eine detaillierte Analyse aller Herstellungsprozesse, Materialien und deren Herkunft und Transportwege. Darauf baut das sogenannte „Ökodesign“ auf. Das heißt, wenn wir feststellen, dass umweltschädliche Substanzen verbaut sind, dann entwickeln wir Lösungen, wie man das ändern kann. Ein Beispiel können Seltene Erden sein: Diesen kritischen Rohstoff brauchen wir für die Magneten einer unserer Antriebe. Wir arbeiten daher an alternativen Technologien, die ohne diesen Rohstoff auskommen. Und dann haben wir noch das Thema „Design for circularity“. Das zielt auf Wiederverwendung und Recycling ab. Bis 2030 soll dieser Dreischritt in allen Produkten umgesetzt sein.
Wie passt es zu Klimaschutz und Menschenrechten, dass Sie auch in China produzieren und Rohstoffe von dort beziehen?
Wir folgen unseren Kunden nach dem Motto „in the market for the market” und fertigen an drei Standorten in China: Changchun, Tianjin im Großraum Peking und Wuhu westlich von Shanghai. Wir halten uns auch hier an das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz und haben die Entwicklung auf europäischer Ebene dazu im Blick. Zum Schutz der Menschenrechte haben wir weltweit, auch in China, zahlreiche Präventionsmaßnahmen an unseren Standorten und in der Lieferkette implementiert. Ab 2023 werden wir ausgewählte Standorte und Lieferanten zum Thema Einhaltung der Menschenrechte auditieren.
Verpflichtung zu Nachhaltigkeit auch in Kommunikation
Der Druck kommt nicht nur über die gesetzliche Lage, sondern von allen Seiten. In Ihrer Kommunikation heben Sie deshalb Nachhaltigkeit besonders hervor. Ist es nicht riskant, sich so stark der Nachhaltigkeit zu verpflichten? Sie werden in Zukunft daran gemessen werden und können nicht so leicht einen anderen Weg einschlagen.
Die Frage stellt sich so für uns eigentlich nicht. Unsere Strategie geht auf. Wir sind schon durch die eine oder andere Krise in Bezug auf die Lieferketten gegangen. Aber es gibt keine Alternative zur nachhaltigen Transformation. Unser gesundes Kerngeschäft, das nicht an der Elektrifizierung hängt, sorgt dafür, dass wir Dellen abfedern können. Bei großen Verlustbringern haben wir schon 2019 mit der Auslaufphase begonnen – bei den Injektoren, Hochdruckpumpen und Turboladern.
Gleichwohl gibt es Risiken. Gerade rollte eine Insolvenzwelle über die Automobilzuliefererindustrie. Und Sie machen 40 Prozent des Umsatzes in Europa, wo Sie mit hohen Energiepreisen und Inflation zu kämpfen haben. Wenn es hart auf hart kommt, was ist dann wichtiger: die Nachhaltigkeitstransformation oder die kurzfristigen Gewinne?
Wir wechseln nicht unsere Strategie, nur um kurzfristige Gewinne zu erzielen. Dass wir 40 Prozent des Geschäftes in Europa machen, heißt auch: 60 Prozent unseres Geschäfts machen wir in anderen Teilen der Welt. Wir sind hier sehr gut aufgestellt, auch was unsere Auftragseingänge angeht. Das gibt Sicherheit für die Zukunft. Wir haben allein im Bereich Elektrifizierung in den ersten neun Monaten 2022 rund zehn Milliarden Euro an Auftragseingängen zu verzeichnen. Die Kunden vertrauen uns – nicht nur in Europa, sondern auch in Asien und Amerika.
Nachhaltigkeit als Personalthema?
Nachhaltigkeit ist bei Ihnen im Personalressort angesiedelt. Das ist bislang eher unüblich. Sehen Sie Nachhaltigkeit als Personalthema?
Nicht zwangsläufig, aber ich finde, es passt gut zusammen. HR ist die Schnittstelle in die Belegschaft und Gesellschaft. Wir ermöglichen den Bewusstseinswandel der Belegschaft und gestalten die Organisationsentwicklung. Das heißt, wir versuchen nicht nur unsere HR-Services nachhaltig zu machen, sondern wir stellen unsere Organisation so auf, dass wir Nachhaltigkeit im ganzen Unternehmen gut umsetzen können.
Wer ist genau für Nachhaltigkeit zuständig – bei Ihnen im Bereich und darüber hinaus?
Sustainability ist als Funktion im HR-Bereich angesiedelt, aber als Managementinstrument unternehmensweit etabliert: in einem Sustainability Committee, welches die unterschiedlichen Fach-Funktionen entlang der gesamten Lieferkette aussteuert, sowie in Projektinitiativen innerhalb der gesamten Organisation. Das ist eine intelligente Struktur der Vernetzung.
Welche Rolle spielt bei Ihnen das S in ESG, in dem klassische Personalthemen stecken?
Natürlich ist im Moment vor allem bei ökologischer Nachhaltigkeit ein Schub zu machen – hier haben wir schon einiges erreicht, und es liegt noch viel Arbeit vor uns. Aber ich möchte das nicht gegen Personalthemen wie etwa Diversity aufwiegen. Das ist alles auch in unseren Nachhaltigkeitszielen verankert.
Diversity als Element sozialer Nachhaltigkeit
Welche Diversity-Ziele haben Sie? Im Moment sieht zumindest Ihr Vorstand nicht sehr divers aus. Die Vorstände sind zum Beispiel alle männlich und kommen aus dem deutschsprachigen Raum.
Der Vorstand ist ein sichtbares Thema. Für die Besetzung ist der Aufsichtsrat zuständig. Der Aufsichtsrat achtet dabei auf die gesetzlichen Vorgaben zur gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern. Es ist daher davon auszugehen, dass wir mit dem nächsten Wechsel im Vorstand diverser sein werden. Das Thema „Frauen in Führungspositionen“ ist bei uns generell eine harte Kennzahl, die auch in der Vergütung berücksichtigt ist. 2021 hatten wir 13,6 Prozent Frauen bei den leitenden Angestellten, also den weiblichen Executives und Senior Executives weltweit. Zuletzt lagen wir bei 15,4 Prozent und in 2025 wollen wir mindestens 20 Prozent global erreicht haben.
Wie möchten Sie das erreichen?
Unser Unternehmen ist sehr stark technologieorientiert. Das zog in der Vergangenheit häufig technologie-interessierte Männer an und wurde unterstützt durch geringere Frauenquoten in den MINT-Studienfächern. Dies ändert sich zwar mittlerweile. Aber deshalb wird der Weg für uns in der nahen Zukunft nicht einfacher.
In den vergangenen Jahren haben wir deshalb bereits viele interne Initiativen gestartet. Wir fokussieren uns mit Förder- und Weiterbildungsaktivitäten auf unseren Talentpool weiblicher Fach- und Führungskräfte, um diesen kontinuierlich zu vergrößern – angefangen bei den Absolventinnen, die wir frühzeitig an uns binden wollen. Wir müssen dafür sorgen, dass wir bei ihnen als Top-Arbeitgeber mit interessanten Perspektiven bekannt sind, sie sich bei uns bewerben und wir ihnen über die Einstellung hinaus attraktive Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigen können. Wir bieten beispielweise Trainee- und Entwicklungsprogramme für alle Erfahrungslevel im Unternehmen an.
Inwiefern haben Sie Nachhaltigkeitsziele wie bei Diversity in der Vergütung verankert?
Wir haben das Thema Nachhaltigkeit durch einen sogenannten Sustainability Score in die variable Vergütung eingebaut. Das ist in den langfristigen Zielen berücksichtigt. Das ist State-of-the-art bei uns – da bin ich sehr stolz darauf.
Wie soll das genau wirken?
Wir haben insgesamt fünf Kriterien im Sustainability Score: CO2-Emissionen, Abfall- und Recyclingquote, Unfallrate an den Standorten, Frauen in Führungspositionen und die Zufriedenheit der Beschäftigten. Diese fünf Nachhaltigkeitskriterien setzen wir multiplikativ in Beziehung zu einem entsprechenden Vergleichsindex: der Shared Price Performance, also der Kursentwicklung des Aktienindex Eurostock 600 Automotive Parts. Multiplikativ heißt, wenn ein Faktor 0 ist, ist alles 0 – dann gibt es keinen Bonus.
Dennoch erhält das Top-Management doch die höchsten Boni über die wirtschaftlichen Kennzahlen, die in den einjährigen Short-term Incentives angelegt sind. Welchen Anteil macht also Nachhaltigkeit in der Vergütung aus?
Das hängt von der Managementebene ab. Prinzipiell ist das schwer in Prozentsätzen auszumachen.
Elektro-Strategie bedeutet auch Umstrukturierung
Umsatzbringer sind bisher Ihre Komponenten für den Verbrennungsmotor. Im Geschäft mit der Elektromobilität schreiben Sie noch Verluste. Doch bis 2024 möchten Sie auch damit richtig Geld verdienen. Welche Umstrukturierungen sind vonnöten?
Mit unseren beiden Divisionen „Powertrain Solutions“ und „Electrification Solutions“ sind wir seit Anfang des Jahres sehr gut aufgestellt. Wir fokussieren uns damit auf Wertschöpfung und Wachstum – in einer transparenten Struktur. Um künftig noch schlagkräftiger und effizienter auf die Herausforderungen des Marktes reagieren zu können, haben wir außerdem über 6.000 Ingenieure in einer Zentraleinheit zusammengefasst.
Was versprechen Sie sich davon?
Schnellere Entscheidungen für die Elektrifizierung. In der alten Struktur gab es noch eine gewisse Wagenburgmentalität. Wir möchten den Fokus ganz klar bündeln und die Projekte so steuern, dass wir uns nicht gegenseitig auf den Füßen stehen.
Sehen das die Mitarbeitenden auch so?
Vor kurzem hatte ich ein De-Briefing mit der Organisationsberatung, die uns bei der letzten Umstrukturierung unterstützt hat. Sie meinte, es sei selten, dass so große Veränderungsprojekte derart geräuschlos und mit so wenig Widerstand ablaufen. Das spricht dafür, dass wir es geschafft haben, die Organisation zu sensibilisieren und mitzunehmen. Unser Ziel ist klar und die Menschen stehen dahinter, weil wir die Notwendigkeit dafür transparent und frühzeitig kommuniziert haben.
Umstrukturierung heißt aber auch Personalabbau – zum Beispiel am Standort Nürnberg. Es ist von 800 Arbeitsplätzen die Rede…
Nürnberg ist und bleibt ein wichtiger Standort für Forschung und Entwicklung, unser Kompetenzzentrum für die E-Mobilität in Deutschland. Wir haben dort aber auch Produktion und die müssen wir zukunftsfähig machen. Wir tun das mithilfe von Digitalisierung und Automatisierung, um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben. Dafür kommen wir nicht umhin, den aktuellen Personalbestand zu reduzieren. Wir sind gerade mit den Gewerkschaften, aber auch mit unseren lokalen Betriebsräten, in Gesprächen, um den Personalabbau so sozialverträglich wie möglich zu gestalten.*
Neue Kompetenzen sind gefragt
Inwiefern verändern sich durch die neue Strategie die Berufsfelder der Beschäftigten?
Das sind weniger neue Berufsfelder, eher graduelle Verschiebungen der Fähigkeiten, die benötigt werden. Grundsätzlich ist es unser Ziel, unsere Leute fit für die Zukunft zu machen. Im Engineering steigt der Personalbedarf. Aber: Wir sind jetzt mitten in der Transformation und Maschinenbauingenieure und -ingenieurinnen brauchen wir weiterhin. Künftig ist für uns die Kombination aus Elektronik und Mechanik wichtig. Im Bereich Software ist der Bedarf sogar massiv gestiegen.
Und in der Produktion?
Die Fertigung wird sich verändern – auch und vor allem bei arbeitsintensiven Produktlinien. Dank Digitalisierung und Automatisierung entwickeln sich die Berufsbilder weg von reinen Montagetätigkeiten hin zur Maschinenüberwachung und zu Wartungsaufgaben. Die Beschäftigten müssen künftig kleinere Reparaturen selbst durchführen können.
Der Weiterbildungsbedarf ist also groß. Wie sieht es mit der Lern-Bereitschaft der Beschäftigten aus?
Die Bereitschaft ist grundsätzlich da, aber unterscheidet sich je nach Bereich. Bei den Ingenieurfachkräften, wo der Veränderungsbedarf überschaubar ist, sehen wir eine größere Lernbereitschaft. Im Produktionsbereich dagegen geht es häufig darum, erst einmal ein Bewusstsein für die Veränderung zu schaffen. Da entstehen Ängste. Gar nicht nur, weil die Menschen Sorgen um ihren Arbeitsplatz haben. Auch weil sie wieder die „Schulbank drücken“ sollen und sich nicht sicher sind, ob sie das noch können. Hier helfen step-by-step Lernangebote. Es muss nicht immer eine dreijährige Ausbildung sein. Man kann auch mit einem Basis-Training beginnen und damit die Neugier und Lust auf weitere Lerninhalte wecken.
Was für allgemeine Kompetenzen benötigen Mitarbeitende aller Fachbereiche für Nachhaltigkeit?
Da geht es uns vor allem um das Mindset und die Offenheit für Veränderung. Alle müssen mitdenken und sich fragen, was heißt eigentlich Nachhaltigkeit für meinen Bereich. Das kann man in einer klassischen Weiterbildung kaum vermitteln, aber den Anstoß zum Umdenken geben. Zuallererst müssen wir Begeisterung für das Thema entfachen – und das beginnt mit Führung. Nachhaltigkeit spielt in den Leadership-Meetings mit den Top-200-Führungskräften immer eine Rolle. Bei Führungskräftetraining ist Nachhaltigkeit ebenfalls in Diskussionen präsent. Die Aussage „Ich gehe umsichtig mit Ressourcen um“ ist in unserem Kompetenzmodell als relevantes Verhalten für alle Beschäftigten eingebettet – auch und insbesondere für unsere Führungskräfte, die mit positivem Beispiel vorangehen sollen.
*Anm. d. Red.: Inzwischen hat das Unternehmen gemeinsam mit Gewerkschaften und lokalen Betriebsräten einen entsprechenden Interessensausgleich unterzeichnet.
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