Praxisbericht Branchenwesentlichkeitsanalyse

Tausende Unternehmen fertigten in den vergangenen Monaten erstmals eine doppelte Wesentlichkeitsanalyse an. Nicht wenige von ihnen bemerkten bei Branchendialogen oder in Kreisen von Nachhaltigkeitsberatenden: Die Ergebnisse ähneln sich. Immer mehr Unternehmen und Verbände nutzen diese strukturellen Ähnlichkeiten und fertigen Wesentlichkeitsanalysen auf Branchenebene an. Dieser Artikel bietet einen Überblick.

CSRD + Wesentlichkeitsanalyse: vom „Bürokratie-Monster” zu einer strategischen Chance für Unternehmen


Die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) stellt Unternehmen vor zusätzliche Herausforderungen. Die „Inventarisierung” relevanter Nachhaltigkeitsaspekte im Rahmen der doppelten Wesentlichkeitsanalyse erfordert Personal, Geld für Beratung oder Tools – oder alles drei. Viele Unternehmen suchen nach effizienten Wegen. Immer mehr sehen aber auch die Chancen der Berichtsanforderungen. Die wesentlichen Themen sollten schließlich die Nachhaltigkeitsstrategie definieren: eine Strategie, die bei zukunftsorientierten Unternehmen oft im Einklang mit der Unternehmensstrategie entwickelt wird.

Genau hier können Verbände eine Schlüsselrolle spielen: Sie haben die Möglichkeit, ihre Mitglieder zu unterstützen, den Reportinganforderungen effizient zu begegnen – und auch bei der Zielerreichung in den kommenden Jahren für den Austausch oder die Entwicklung von Ideen zu sorgen. So wird aus der Arbeit an regulatorischen Anforderungen die Arbeit an strategischen Vorteilen. 

Branchenwesentlichkeitsanalyse: die Antwort von Verbänden

Die Wesentlichkeitsanalyse muss jedes Unternehmen individuell durchführen. Dennoch ermöglicht branchenweite Zusammenarbeit Synergien, die den Prozess effizienter gestalten. Sie bestimmt sowohl die Inhalte des Berichts als auch die strategischen Schwerpunkte für die Nachhaltigkeitsentwicklung. Wesentliche Themen werden durch die Identifikation und Bewertung von Impacts, Risks und Opportunities (IROs) ermittelt. Daraus ergeben sich die angabepflichtigen Themen und die erforderlichen Datenpunkte.

Industrie- und Branchenverbände stehen vor der Herausforderung, dass das Interesse ihrer Mitglieder an Nachhaltigkeit oft sehr unterschiedlich ausfällt. Viele Unternehmen erwarten dahingegen mehr Unterstützung. Gemeinsame Analysen innerhalb einer Branche können bis zu 80 Prozent des Aufwands sparen. Obwohl die Verantwortung für die Wesentlichkeitsanalyse beim Unternehmen verbleibt, führt der Austausch über Bewertungslogiken und IRO-Recherchen zu deutlicher Zeitersparnis. Fortgeschrittene Unternehmen nutzen Branchenergebnisse zudem zur Überprüfung eigener Analysen.

Für diese Koordination der Zusammenarbeit eignen sich Verbände, denn hier gibt es bestehende und bestenfalls gut eingespielte Arbeitsgruppen und kartellrechtlich unbedenkliche Austauschformate.

Das Thema Wesentlichkeitsanalyse ist bestenfalls nur der Anfang: Synergien zwischen den Mitgliedern gibt es zuhauf, etwa bei der Bewertung von Lieferanten oder der Substitution problematischer Inhaltsstoffe durch unbedenkliche, die erst durch die Nutzung von Skaleneffekten erschwinglich werden. 

Die Vorteile einer Branchenwesentlichkeitsanalyse zusammengefasst:

  • Für Unternehmen: Minimierung des Aufwands, Sicherheit durch klare Leitlinien und reduzierte Unsicherheit bei der Umsetzung der CSRD
  • Für Verbände: Positionierung als relevanter Partner, Schaffung von Synergien, Treiben von Innovation innerhalb der Branche und Stärkung der Mitgliederbindung

Erfolgsgeschichten: Wie der Zweirad-Industrie-Verband als Vorreiter den Aufwand reduziert und Sicherheit bietet

Ein Beispiel für den Erfolg einer Branchenwesentlichkeitsanalyse (BWA) ist der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV). Mit der Unterstützung einer genossenschaftlichen Unternehmensberatung koordinierte der Verband eine Analyse, die den Mitgliedsunternehmen und dem Verband selbst erhebliche Vorteile brachte:

  • 80 Prozent weniger Aufwand nach eigener Schätzung: Die Erwartungen wurden übertroffen. Die zentral gesteuerte Analyse sparte Unternehmen wertvolle Ressourcen und Zeit. 
  • Strategischer Nutzen: Die Ergebnisse flossen direkt in die strategische Planung der Unternehmen ein.
  • Reputation und Vorbildrolle: Der Erfolg des ZIV wurde vom Deutschen Rechnungslegungs Standards Committee (DRSC) als eines von aktuell drei Beispielen hervorgehoben. Das DRSC ist derzeit dabei, einen Leitfaden für andere Verbände zu erarbeiten. 
  • Weitere Kooperationspotenziale: Es wurden bereits weitere Nachhaltigkeitsfelder erkannt, in denen Potenzial besteht, gemeinsam Lösungen zu ermitteln – zentral koordiniert durch den Verband.

Nicht nur das Feedback der Mitgliedsunternehmen des ZIV war sehr positiv. Auch international bekam die Analyse Anerkennung in der Branche. Der Verband konnte sich so als Vorreiter positionieren und seinen Mitgliedern eine massive Hilfestellung bieten.

Einige Vorbehalte haben sich hingegen nicht bestätigt: Die Heterogenität der Mitglieder beispielsweise, die als Hindernis empfunden wurde, hat sich im Prozess als geringer herausgestellt als erwartet. Mitgliedsunternehmen sind sich bezüglich ihrer IROs sehr viel ähnlicher, als zu Beginn gedacht. Sehr heterogene Verbände könnten zudem die IROs nach Wertschöpfungsketten-Stufe oder anderen Segmenten filterbar aufbereiten.

Auch das Mitwirkungsinteresse der Mitglieder war erstaunlich hoch. Der gemeinsame Prozess hat die spätere Erarbeitung der jeweils individuellen Wesentlichkeitsanalyse zusätzlich erleichtert, insbesondere im Bereich der Beurteilung der eigenen Wesentlichkeiten. Denn jedes Unternehmen profitiert zwar enorm von der Vorarbeit, muss diese Vorlage jedoch für sich selbst prüfen und abklären, ob die wesentlichen Themen mit denen des eigenen Unternehmens übereinstimmen oder ob noch Themen fehlen, da individuelle Geschäftsbereiche nicht berücksichtigt wurden.

Die Fahrradindustrie ist als Branche recht kooperativ eingestellt, weshalb vermutet werden könnte, dass eine gemeinsame Wesentlichkeitsanalyse in anderen Branchen weniger gut funktioniert. Doch Anke Schäffner vom ZIV glaubt, dass die Effizienzvorteile so auf der Hand liegen, dass auch kompetitivere Branchen davon profitieren würden.

So wird eine Branchenwesentlichkeitsanalyse zum Erfolg


Die erfolgreiche Umsetzung einer Branchenwesentlichkeitsanalyse erfordert eine klare Struktur. Verbände können ihre Mitglieder durch folgende Schritte effektiv unterstützen:

  1. Gemeinsame IRO-Definition: Im ersten Schritt werden branchenspezifische Themen (Impacts, Risks, Opportunities) identifiziert. Eine umfassende Longlist dient als Grundlage, die Unternehmen individuell anpassen können.
  2. Im Kohortenmodell von BWA zu WA: Die Mitgliedsunternehmen arbeiten online gemeinsam in Gruppen (Kohorten), um ihre individuellen Wesentlichkeitsanalysen basierend auf den branchenspezifischen Ergebnissen zu entwickeln. Dadurch sparen sie weitere Ressourcen und ermöglichen einen Austausch, der zusätzliche Sicherheit bietet. 
  3. Praxisorientierte Leitfäden: Alternativ oder ergänzend erleichtert ein Handbuch den Unternehmen die Umsetzung der CSRD-Anforderungen und schafft langfristigen Mehrwert.

Diese strukturierte Vorgehensweise reduziert nicht nur den Aufwand, sondern schafft auch die Grundlage für weitere Nachhaltigkeitsinitiativen. Insbesondere die gemeinsame Erarbeitung der strategisch wesentlichen Themen im Kohortenmodell kann zu vielen weiteren Nachhaltigkeitskooperationen führen.

Warum der Bundesverband der Deutschen Industrie und andere Verbände glauben, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist

Die nächsten Wochen sind entscheidend: Ein neuer Leitfaden, entwickelt vom Bundesverband der Deutschen Industrie e. V. (BDI) in Zusammenarbeit mit Mitgliedsverbänden und dem DRSC, wird in Kürze veröffentlicht. Dieser Leitfaden bietet einen Rahmen für die Umsetzung einer Branchenwesentlichkeitsanalyse. Verbände, die jetzt handeln, können den Leitfaden direkt für ihre Branchenwesentlichkeitsanalyse einsetzen – und so ihre Mitglieder nicht nur entlasten, sondern auch die gesamte Branche strategisch stärken. Weitere Informationen zur Branchenwesentlichkeitsanalyse finden Sie in einem Whitepaper der Unternehmensberatung Sustainable Natives.


Schlagworte zum Thema:  CSRD, ESRS, Nachhaltigkeitsberichterstattung