Dipl.-Psych. Julia Scharnhorst, Manfred Nedler
Der Untersuchende bekommt durch seine Gespräche, vor dem Hintergrund der betrieblichen Fakten und der persönlichen Eindrücke vor Ort, einen sehr genauen Eindruck von der Arbeitssituation und von dem individuell möglicherweise sehr unterschiedlichen Umgang mit den Anforderungen und Belastungen. Bei der Bewertung der Belastungen hinsichtlich ihrer gesundheitlichen Risiken besitzt der Untersuchende einen persönlichen Ermessensspielraum. Sein Urteil ist nicht objektiv in dem Sinne, dass jeder andere Untersuchende garantiert zum gleichen Urteil kommen würde. Umso wichtiger ist es, im Bericht die eigene Einschätzung zu begründen.
Aus einer Gefährdungsbeurteilung an einem Kassenarbeitsplatz
In einem Elektronikfachmarkt wurde eine Gefährdungsbeurteilung der psychischen Belastung mit Interviews durchgeführt. Dabei wurde immer wieder über die gleichen Probleme berichtet: Es werden immer wieder Sonderaktionen durchgeführt und Rabatte angeboten. Die vielen Aktionen überfordern Mitarbeitende und Kunden gleichermaßen. Sie bedeuten erheblichen zusätzlichen Aufwand und führen aufgrund ihrer Komplexität zwangsläufig zu Pannen und Ärgernissen auf beiden Seiten. Beispiele aus den Gesprächen:
- Ein Kunde bekommt einen Hinweis auf einen Rabatt erst beim Verlassen des Hauses, weil die Prospekte zu spät kamen. Er kehrt verärgert zur Kasse zurück und alles muss neu gebucht werden.
- Ein "Premium-Kunde" wurde angeschrieben, dass er 20 % Rabatt bekommt, und stellt dann fest, dass bei den für ihn interessanten Artikeln gerade jeder Kunde 20 % Nachlass bekommt.
- Vor dem Haus werden Gutscheine für Rabatte verteilt. Ein Kunde beschwert sich, warum ein anderer Kunde 3 Gutscheine bekommen hat und er nur einen.
Es gibt oft viele Aktionen gleichzeitig, die sich z. T. gegenseitig ausschließen. Im Weihnachtsgeschäft liefen schon mal über ein Dutzend Aktionen zur selben Zeit. Es kommt vor, dass vor dem Haus Flyer verteilt werden und die Kassierer/Kassiererinnen wissen davon nichts. Auch das Führungspersonal hat Probleme, den Überblick zu behalten. So gibt es im Intranet unterschiedliche Herausgeber für Rundschreiben und nicht eine zentrale Stelle mit einer Übersicht über laufende und geplante Aktionen.
Diese ganz konkreten Empfehlungen konnten vom Untersuchenden nach den Interviews an die Leitung des Fachmarkts gegeben werden:
- Die Werbeaktionen sollten vereinfacht werden.
- Die Aktionen sollten dem Personal früher angekündigt werden. Das Führungspersonal sollte aktiv informiert werden oder es sollte eine Adresse im Intranet geben, die alle relevanten Informationen bündelt.
- Bleibt es so komplex, sollte die Kasse über Strichcodes alle Aktionen erkennen.
- Ausgewählte Verkäufer/Verkäuferinnen aus der Praxis sollten an der Planung von Aktionen beteiligt werden.
Das Beispiel zeigt, dass ein Bericht durch Details überzeugender und aussagekräftiger wird. Die betrieblichen Entscheider verstehen so, wie der Untersuchende zu seiner Einschätzung von Fehlbeanspruchungen und entsprechendem Handlungsbedarf gelangt.
Es liegt in der Natur der Abfrage der subjektiven Einschätzungen der Mitarbeitenden, dass auch die Auswertung und Empfehlung einen subjektiven Charakter haben. Psychische Belastungen lassen sich nur beschreiben, aber nicht exakt mit Zahlen messen. Daher ist es wichtig, dass die Beurteilung und Auswertung der erhobenen Sachlage sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert. So kann schnell eine erste Einschätzung erfolgen, ob es sich bei einer Belastung um eine ernsthafte Bedrohung der Gesundheit der Mitarbeitenden handelt oder eher eine leichtere Beeinträchtigung darstellt. Das Arbeitsschutzgesetz gibt vor, dass die Maßnahmen vorrangig an den Arbeitsbedingungen ansetzen sollen; auch dies gilt es bei den Empfehlungen zu berücksichtigen. Im Beispiel des Elektronik-Fachmarkts wird deutlich, dass die Empfehlungen sich auf die Arbeitsbedingungen beziehen, nämlich auf den Umgang mit Werbeaktionen. Erst als letzte Maßnahme kämen z. B. auch Angebote zur besseren Stressbewältigung für die Belegschaft infrage.
Der Ermessensspielraum in der Bewertung lässt sich vergleichen mit der eines Arztes. Üblicherweise schildert ein Patient seinem Arzt zunächst aus seiner persönlichen Sicht seine Beschwerden. Dies entspricht den persönlichen Schilderungen im Interview. In vielen Fällen nimmt ein Arzt anschließend objektive Messungen vor, objektiv in dem Sinne, dass jeder andere Arzt zu den gleichen Messergebnissen gelangen würde. Mögliche Messungen sind die Körpertemperatur, der Blutdruck, ein EKG usw.
In der hier beschriebenen Methodik einer Gefährdungsbeurteilung entspricht dieser Schritt der Auswertung betrieblicher Daten. Legt sich der Arzt schließlich fest auf eine Diagnose und auf einen Therapievorschlag, so sind diese Festlegungen nicht mehr objektiv. Mehrere Ärzte würden möglicherweise zu anderen Einschätzungen und Empfehlungen gelangen. Dennoch gibt es zu dieser Vorgehensweise keine Alternative. Denn die Messungen ermöglichen in den meisten Fällen k...