Dr. rer. nat. Gerald Schneider
Es ist hier der Punkt gekommen, explizit auf Qualitätskriterien für Risikoanalysen im Arbeitsschutz einzugehen. Solche Erhebungen sollten immer valide, nachvollziehbar und intersubjektiv sein.
Valide bedeutet in diesem Fall, dass sich die Betrachtungen auf klare Kriterien beziehen müssen, die so eindeutig beschrieben sind, dass sie jederzeit nachvollziehbar sind und dass unterschiedliche Personen zum gleichen Ergebnis kommen. Für die Praxis heißt das, dass auch nach einem Wechsel der Fachkraft für Arbeitssicherheit oder des Betriebsarztes, aber auch z. B. durch Vertreter von Aufsichtsbehörden, die Ergebnisse der Risikobetrachtung nachvollzogen werden können oder dass bei unabhängiger Bestimmung durch 2 oder mehr Personen ein gleiches Ergebnis erzielt wird. Dies gilt auch intrapersonal, denn ein und dieselbe Person kann gleiche Situationen bei unklaren Kriterien durchaus unterschiedlich bewerten.
Diese Klarheit in den Kriterien ist für die Schäden nur annäherungsweise zu erreichen, da z. B. die Abläufe von Unfällen sich auf Zufälligkeiten beruhend unterscheiden können. So kann bei einem Leiterabsturz der Abstürzende zunächst mit dem Kopf aufschlagen und tödliche Schädelverletzungen davontragen, während eine andere Person mit der gesamten Köperseite aufschlägt und mit Prellungen und ggf. einem einfachen Armknochenbruch davonkommt. Im ersteren Fall wird die kinetische Energie beim Sturz über eine kleine Fläche dissipiert, im zweiten aber über eine große. Dies macht den Unterschied. Aber wie der Mann oder die Frau exakt von der Leiter stürzt, ist nicht vorhersagbar. Zufällig bedeutet also durchaus physikalisch determiniert, aber unvorhersehbar.
Derartige Ungenauigkeiten lassen sich bei den Eintrittswahrscheinlichkeiten dagegen nahezu ausschließen. Jedoch nicht mit den "schwachen" Kriterien der meisten von Unfallversicherungsträgern oder freien Autoren herausgegebenen Risikomatrices. Abb. 1 zeigt dies deutlich, denn Begriffe wie "vorstellbar", "durchaus möglich" usw. sind dermaßen interpretierbar, dass klare Aussagen nicht vollzogen werden können. Was dem einen vorstellbar erscheint, ist dem anderen durchaus möglich und dem Dritten zu erwarten. Aber warum? Worauf gründen diese Einschätzungen? Und was bedeutet eigentlich "praktisch unmöglich"? Ist es nun unmöglich oder nicht? Und wenn es unmöglich ist, wieso liegt dann eine mittlere Gefährdung bei prinzipiell tödlichem Ausgang vor? Und welche Maßnahmen sollen dann ergriffen werden? Solche, die zu einem "theoretisch unmöglich" führen? Oder ist eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit gemeint? Was verstehen dann aber die Autoren unter "unmöglich"? Das ganze System ist in unserem Sinn "invalide".
Nachvollziehbare Kriterien lassen sich auf 2 Arten generieren:
- aus gesetzlichen Grenz-, Richt- und Leitwerten sowie aus arbeitswissenschaftlich begründeten Beschaffenheitsanforderungen,
- aus eigenen Festlegungen zu kritischen Arbeitsbedingungen, wo gesetzliche Vorgaben nicht vorhanden sind.
Den meisten Fachkräften für Arbeitssicherheit ist nicht klar, dass die typischen Grenzwerte usw. das Ergebnis bereits durchgeführter Risikoanalysen sind, die auch Aussagen über die Eintrittswahrscheinlichkeit von Schäden zulassen und die immer übernommen werden sollten.
So ist die Eintrittswahrscheinlichkeit für einen irreversiblen Gehörschaden bei Schallpegeln unter 80 dB(A) als 8-h-Mittel niedrig, sie ist erhöht zwischen 80 und 85 dB(A) und sie ist hoch bei über 85 dB(A). In solchen Fällen mit Begrifflichkeiten wie "vorstellbar" zu operieren, zeugt nur von mangelnder Fachkunde.
In ähnlicher Weise können auch andere in Technischen Regeln, Unfallverhütungsvorschriften, Handlungshilfen etc. veröffentlichte Werte für die Angabe der Eintrittswahrscheinlichkeit herangezogen werden. Abb. 3 stellt einige Beispiele vor.
Abb. 3: Beispiele für normativ festgelegte Beurteilungswerte, die als Wahrscheinlichkeitsaussagen herangezogen werden können (EW = Eintrittswahrscheinlichkeit)
Dabei muss nicht immer eine Dreierabstufung vorliegen. Wenn z. B. Schäden nach Überschreitung eines Grenzwertes unmittelbar einsetzen können, dann entfällt der Mittelbereich. Dies wäre z. B. beim Arbeitsplatzgrenzwert für Gefahrstoffe oder dem Auslösewert für hochfrequente elektrische Felder der Fall, aber auch z. B. bei einer Nichteinhaltung bestimmter Beschaffenheitsanforderungen. Wenn z. B. die Fluchtwegbreite nach der ASR A2.3 nicht eingehalten werden kann, dann ist die Eintrittswahrscheinlichkeit dafür, dass sich Personen nicht retten können, "hoch", da die Breite entweder für die vorgesehene Personenzahl ausreichend ist oder nicht.
Leider liegen solche relativ einfach zu ermittelnden Kriterien nicht für alle Bereiche vor, sodass eigene Kriterien herangezogen werden müssen. Diese Kriterien versuchen, die Eintrittswahrscheinlichkeiten indirekt widerzuspiegeln. Wir kennen die "wahre" Einrittswahrscheinlichkeit für ein negatives Ereignis nicht, aber wir können z. B. annehmen, dass sich diese Wahrscheinlichkeit umso eher Bahn brich...