Kostenrechnung in Deutschland

Wohin steuert die Kostenrechnung in Deutschland? Und warum wird - im Vergleich zu den anglophonen Ländern - das Feld der Kostenrechnung in Deutschland überhaupt so fleißig beackert? Professor Jürgen Weber geht auf die Hintergründe ein und wagt eine Prognose zur Bedeutung der Kostenrechnung in Deutschland in mittleren und großen Unternehmen.

Innovationen in der Kostenrechnung?

Wenn man an Innovationen im Zusammenhang mit Kostenrechnung denkt, fällt vermutlich jedem als erstes das Activity Based Costing bzw. die Prozesskostenrechnung ein. Das gilt nicht nur für den anglophonen Bereich, sondern auch für die deutschsprachigen Länder. Die letzten Innovationen in Deutschland sind die Grenzplankostenrechnung und die Riebel´sche Einzelkostenrechnung, beides Kinder der 1950er Jahre. Schnell drängt sich der Eindruck auf, dass wir der internationalen Entwicklung hinterherhinken. Kaum jemand ist sich aber bewusst, dass das Activity Based Costing der Versuch war, der unzureichenden amerikanischen Kostenrechnung etwas mehr Aussagefähigkeit einzuhauchen, eine Aussagefähigkeit, die die „deutsche“ Kostenrechnung schon immer hatte, insbesondere, weil sie im Gegensatz zu ihrem anglo-amerikanischen Pendant eine differenzierte Kostenstellenrechnung beinhaltet.

Deutschland: Weltmeister der Kostenrechnung

Schaut man genauer hin, haben wir die differenzierteste und genaueste Kostenrechnung der Welt. Wir sind bei diesem wichtigen Controlling-Instrument damit – was hierzulande kaum bekannt ist – quasi Weltmeister. Warum dies so ist, hat insbesondere internationale Forscherkollegen schon seit längerem beschäftigt. Die Liste der Gründe ist kurz, die Gründe selbst sind sehr heterogen.

Trennung der Finanzbuchhaltung und Kostenrechnung

Beginnen wir mit der Trennung von Finanzbuchhaltung und Kostenrechnung. Diese kennzeichnet die Situation in deutschsprachigen Ländern schon von Beginn der Kostenrechnung an, während sie im anglophonen Bereich unbekannt ist. Getrennte Rechnungen lassen unterschiedliche Ausprägungen zu, z.B. bei dem Ansatz kalkulatorischer Kosten (wer kennt nicht die „Schmalenbach´sche Treppe“?) oder bei der Differenzierung der Orte der Kostenentstehung, also der Kostenstellen.

Uni-Ausbildung: Theorie beeinflusst die Praxis

Ein zweiter Grund wird im Ausbildungssystem gesehen. Angesichts einer fehlenden berufsständischen Aus- und Weiterbildung, wie man sie z.B. in den Ländern des britischen Commonwealth oder in den USA findet, kam (und kommt) der fachlichen Ausbildung an den hiesigen Hochschulen ein besonderer Einfluss auf die Praxis der Kostenrechnung zu. In Deutschland lag lange Zeit ein spezieller Fokus der universitären Ausbildung im Fach Betriebswirtschaftslehre auf der Produktions- und Kostentheorie, was auch die starke Ausrichtung der deutschen Wirtschaft auf industrielle Produktion spiegelte. Die Produktions- und Kostentheorie zählte ebenso zum Pflichtprogramm wie die Kostenrechnungs-Konzepte von Hans-Georg Plaut und Wolfgang Kilger. Fehlt diese Basis, fehlen auch die Mitarbeiter, die eine komplexe Kostenrechnung betreiben können.

Die risikoscheuen Deutschen

Als dritter und letzter Grund werden kulturelle Unterschiede zwischen dem anglophonen und dem deutschsprachigen Bereich genannt. Wir gelten als risikoscheu und wollen es immer ganz genau wissen. Deshalb sind wir mit pauschaler Zurechnung von Kosten nicht zufrieden und immer auf der Suche nach einer noch besseren, noch genaueren Abbildung.

WHU Controller Panel: 50% der Unternehmen nutzen kalkulatorische Kosten

Diese Gründe für die Sonderstellung tragen aktuell aber zunehmend weniger. Die Trennung zwischen Finanzbuchhaltung und Kostenrechnung verliert unter dem Stichwort der Harmonisierung an Bedeutung. Laut den Ergebnissen des WHU Controller Panels gibt es nur noch in gut der Hälfte der Unternehmen kalkulatorische Kosten. Für den zweiten Grund ist ebenfalls eine zurückgehende Relevanz zu beobachten, weil sich die betriebswirtschaftliche Ausbildung an den Hochschulen verändert hat. Heute findet man keine Veranstaltungen mehr, die sich über Semester hinweg mit komplizierten Kostenrechnungssystemen beschäftigen. Leichter, in „kleineren Häppchen“ verdaubare Themen des Kostenmanagements haben die Diskussion von Kostenrechnungssystemen zwar nicht ganz ersetzt, aber doch deutlich zurückgedrängt. Letztlich verbleibt nur das dritte, kulturelle Argument erhalten. Es ist unverändert gültig. Damit liegt die Frage auf der Hand, ob unsere Risikoscheu und unser Perfektionsstreben ausreichen, um die Sonderstellung der „deutschen“ Kostenrechnung auf Dauer zu erhalten.

Wohin steuert die deutsche Kostenrechnung?

Eine eindeutige Antwort auf diese Frage gibt es derzeit nicht. Auch Großunternehmen, die seit Jahrzehnten weltweit tätig sind und somit Teil der globalen Wirtschaft, haben sich bis heute ihre komplexe Kostenrechnung erhalten. In vielen mittelständischen Unternehmen ist das Thema noch gar nicht angekommen und es hat bislang auch nicht oder nur am Rande Eingang in die einschlägigen Lehrbücher gefunden. Lassen Sie mich – zugegebenermaßen „mit dem ganz breiten Pinsel“ – eine Prognose wagen und die Frage für Großunternehmen und mittelständische Unternehmen unterschiedlich beantworten.

Großunternehmen stehen unter Druck des Kapitalmarkts

Großunternehmen sind einem sehr starken Druck des Kapitalmarkts ausgesetzt. Sie müssen dessen Spielregeln befolgen. Der Kapitalmarkt ist stark anglo-amerikanisch geprägt und versteht keine Steuerung mit Betriebsergebnissen aus der Kostenrechnung. Die Kommunikation basiert auf Cash-flows und EBIT-Zahlen. Für differenzierte Betriebsergebnisse „deutscher Prägung“ fehlen dort sowohl die Systeme in den Unternehmen als auch das Know-how, sie zu betreiben, dies sowohl bei den Analysten als auch bei den Accountants.

Mittelständische Unternehmen: Wieviel Kostenrechnung werden sie sich noch leisten?

Druck vom Kapitalmarkt kennen mittelständische Unternehmen nur selten. Oft eigner- oder familiengeführt, haben sie das Recht und die Möglichkeit, eigene, individuelle Steuerungsgrößen zu benennen. Für Ergebnisse aus der Kostenrechnung ist dort also grundsätzlich noch Platz. Trotzdem ist das kein Freifahrtschein für ein komplexes Kostenrechnungssystem. Zum einen sterben erfahrene Kostenrechner immer mehr aus und der Nachwuchs hat häufig kein Faible für ausgefeilte Kostenrechnungen. Zum anderen haben komplexe Rechensysteme erhebliche Probleme mit Veränderungen der Geschäftsprozesse. Der Anpassungsaufwand steigt mit dem Grad der Veränderung, und dies vermutlich nicht nur linear. Das geschäftliche Umfeld wird aber zunehmend turbulenter. Die Kostenrechnungs-Konzepte von Kilger, Plaut und Riebel passten in eine Welt, in der der Hebel für den Erfolg in der effizienten Nutzung vorhandener Produktionskapazitäten lag. Heute geht es stärker darum, die Kapazitäten richtig zu dimensionieren, sie den Veränderungen in den Märkten zeitnah anzupassen. Hierfür kann die Kostenrechnung alter Prägung nur wenig Hilfestellung leisten.

Prognose: Bedeutung der Kostenrechnung sinkt

Zusammen mit dem Kapitalmarkt-Argument sei also die Prognose gewagt, dass die „deutsche“ Kostenrechnung in Großunternehmen ein Auslaufmodell ist. Sie wird in ihrer Komplexität reduziert werden, vielleicht sogar ihre Rolle als Pendant zur Finanzbuchhaltung verlieren und nicht mehr das universelle Informationsinstrument für alle wichtigen Steuerungszwecke und -instrumente sein.

Für mittelständische Unternehmen kann ich dagegen keine klare Prognose abgeben. Die Entwicklung ist ergebnisoffen. Kostenrechnung wurde im Mittelstand später eingeführt als in Großunternehmen; der mit ihr erzielbare betriebswirtschaftliche Lerneffekt ist dort häufig noch deutlich spürbar. Und die Kostenrechnung steht im Mittelpunkt der betriebswirtschaftlichen Steuerung. Aber auch hier gilt: Ein Selbstläufer ist die komplizierte „deutsche“ Lösung im Mittelstand nicht! Zumindest sollten die Unternehmen auch dort kritisch auf das Instrument schauen und sich fragen, ob der realisierte Komplexitätsgrad wirklich gebraucht wird oder ob nicht auch eine vereinfachte Form, besser nachvollziehbar für alle und schneller zu ändern, ausreicht. Schauen wir mal, welchen Weg die mittelständische Praxis gehen wird!

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10 Jahre Controlling im Spiegel von Kolumnen im Controller Magazin


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