Prof. Dr. Andreas Seufert, Ralph Treitz
Das folgende Beispiel zeigt, wie im Pilotversuch der Einsatz eines Prescriptive Analytics Tools mit dem Steuerungsmodell des Unternehmens kollidiert.
Das Finanzcontrolling hat in Zeiten härterer konjunktureller Anforderungen die Aufgabe, Working Capital freizusetzen.
Die Analytics-Anwendung zeigt auf, dass im Übermaß Working Capital durch bestimmte Materialien mit hohen Beständen an Lager gebunden ist. Diese Materialien werden im Vergleich zum Verbrauch in zu hoher Stückzahl bevorratet. Die Anwendung zeigt, dass die (statistisch) sehr wahrscheinliche Ursache darin zu suchen ist, dass alle diese Materialien manuell disponiert werden, anstatt das verwendete ERP-System die Bestellungen automatisch berechnen und auslösen zu lassen. Statt in einem etwa 2-wöchigen Zyklus zu bestellen, werden diese Materialien tatsächlich jeweils für 3 Monate und mehr bevorratet.
Die Diskussion einiger Stichproben mit den Supply-Chain-Verantwortlichen des betroffenen Standorts ergibt, dass es in der Vergangenheit Lieferengpässe bei diesen Materialien gab. Daher habe man die automatisierte Entscheidung durch manuelle Prüfung und Bestellung ersetzt. Tatsächlich gab es 2 Jahre zuvor Lieferengpässe, die aber längst nicht mehr bestanden. Und damit nicht genug, es wurden Monat für Monat immer mehr "problematische Fälle" aus dem automatischen ERP-Lauf dauerhaft in die manuelle Disposition überführt.
Die vom Finanzcontrolling auf der Suche nach Working Capital vorgebrachte Empfehlung, doch bitte die Liste der manuell disponierten Materialien zu prüfen und zu entschlacken, traf auf die nachfolgend skizzierten Bedenken:
- Die Verantwortung für die Verfügbarkeit von Materialien liegt bei der Supply Chain am Standort. Eine Einmischung des Finanzcontrollings wird nicht als hilfreich empfunden.
- Der zentrale KPI für die Supply-Chain-Verantwortlichen ist die permanente Verfügbarkeit von Material. Das gebundene Working Capital ist zwar eine Zielgröße für den Finanzbereich, nicht aber für die Supply Chain.
- Der direkte Dialog auf dieser Detailebene zwischen Finanzcontrolling und Supply Chain ist nicht institutionalisiert. Die jeweiligen Berichtswege verlaufen zunächst einmal "nach oben". Nach den Regeln hätten sich also schließlich 2 Vorstände für ihre jeweiligen Bereiche über die Sinnhaftigkeit des Vorschlags austauschen müssen. Eine wenig wahrscheinliche und sicher auch unproduktive Vorgehensweise.
- Zwar hat das Finanzcontrolling in Summe eine Liste mit Vorschlägen im Wert eines 3-stelligen Millionenbetrags. Diese splitten sich jedoch in Einzelvorschläge für operative Verbesserungen im Bereich von 500.000 bis zu 10 Mio. EUR Working Capital. Da aber, wie dargestellt, jeder einzelne operative Verbesserungsvorschlag plötzlich ein Vorstandspolitikum wird, wird der Vorstoß des Finanzcontrollings mit Verweis auf den "unbedeutenden finanziellen Beitrag" jedes einzelnen Vorschlags abgewehrt. Die Optimierungsinitiative des Finanzcontrollings gerät ins Stocken.
Gelöst wurde die Situation im konkreten Fall durch Änderungen im Steuerungsmodell, die jeweils an den zuvor genannten Schwachpunkten ansetzen.
Ein zentraler Punkt ist dabei die verständlicherweise fehlende Motivation, sich an KPIs zu beteiligen, die gar nicht die eigenen sind. In diesem Fall wurde eine Übereinkunft auf Vorstandsebene getroffen, dass Controlling und die jeweiligen Fachbereiche verpflichtet sind, eine konstruktive Lösung für beide Seiten zu ermitteln, die sowohl die Zielerreichung als auch die angemessene Verteilung der Umsetzungskosten einschließt.