Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsbedingte Kündigung. Sozialauswahl
Orientierungssatz
1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats bestimmt sich der Kreis der in die soziale Auswahl einzubeziehenden vergleichbaren Arbeitnehmer in erster Linie nach arbeitsplatzbezogenen Merkmalen, also zunächst nach der ausgeübten Tätigkeit. Dies gilt nicht nur bei einer Identität der Arbeitsplätze, sondern auch dann, wenn der Arbeitnehmer auf Grund seiner Tätigkeit und Ausbildung eine andersartige, aber gleichwertige Tätigkeit ausführen kann. Die Notwendigkeit einer kurzen Einarbeitungszeit steht einer Vergleichbarkeit nicht entgegen (“qualifikationsmäßige Austauschbarkeit”). Die Vergleichbarkeit wird noch nicht allein dadurch ausgeschlossen, dass einzelne Arbeitnehmer bestimmte Tätigkeiten besonders beherrschen, beispielsweise bestimmte Maschinen bedienen können.
2. An einer Vergleichbarkeit fehlt es, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auf Grund des zugrunde liegenden Arbeitsvertrags nicht einseitig auf den anderen Arbeitsplatz um- oder versetzen kann (“arbeitsvertragliche Austauschbarkeit”).
3. Auswahlrichtlinien nach § 95 BetrVG iVm. § 1 Abs. 4 KSchG können die gesetzlichen Anforderungen für die Vergleichbarkeit von Arbeitnehmern nicht verdrängen. § 1 Abs. 4 KSchG betrifft nur die Gewichtung der Auswahlkriterien und nicht die Zusammensetzung des auswahlrelevanten Personenkreises oder die Konkretisierung der entgegenstehenden betrieblichen Bedürfnisse iSv. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG. Eine Auswahlrichtlinie kann deshalb nicht die Vergleichbarkeit oder Nichtvergleichbarkeit von Arbeitnehmern vorgeben, beispielsweise indem die Richtlinie bestimmte Arbeitnehmer bestimmter Abteilungen oder Arbeitsgruppen zu Vergleichsgruppen zusammenfasst.
4. Grob fehlerhaft iSv. § 1 Abs. 4 KSchG ist eine Gewichtung der Sozialdaten dann, wenn sie jede Ausgewogenheit vermissen lässt, dh., wenn einzelne Sozialdaten überhaupt nicht, eindeutig unzureichend oder mit eindeutig überhöhter Bedeutung berücksichtigt werden.
5. § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG stellt die Regel für die Sozialauswahl dar. Die Ausklammerung sog. Leistungsträger bildet nach Satz 2 der Norm die Ausnahme.
Normenkette
KSchG § 1 Abs. 3-4; BetrVG § 95
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 22. Mai 2006 – 15 Sa 144/05 – aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart, Ka. Ludwigsburg, vom 18. November 2005 – 26 Ca 655/05 – wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat auch die weiteren Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung.
Der am 28. September 1956 geborene, verheiratete und vier Kindern zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit dem 1. Januar 1998 bei der Beklagten, einer Herstellerin von Getrieben, als ungelernter Systemanlagenbediener beschäftigt. Er arbeitete zuletzt in der Härterei (= Wärmebehandlung) des Betriebs in L….
Am 11. November 2004 vereinbarte die Beklagte mit dem bei ihr bestehenden Gesamtbetriebsrat einen Interessenausgleich zur Durchführung der Kapazitätsanpassung im Jahre 2005, einen Sozialplan sowie eine Betriebsvereinbarung über Auswahlrichtlinien für die Sozialauswahl. Dem lag unter anderem der Beschluss der Beklagten zugrunde, einen bestimmten Getriebetyp (DC NCC 453) ab Juni 2005 in einem anderen Werk des Unternehmens (N) produzieren zu lassen. Die von der Beklagten erstellte Personalbedarfsberechnung für das Jahr 2005 ergab einen sukzessiven Wegfall von 25 Arbeitsplätzen in der Härterei im Betrieb L… bis Ende 2005. Unter Berücksichtigung von altersbedingten Abgängen waren danach noch 16 Kündigungen auszusprechen. Für die vorzunehmende Sozialauswahl fasste die Beklagte entsprechend den Auswahlrichtlinien jeweils die Anlagenbediener der Härterei, der Fertigung und der Montage in eigenen Vergleichsgruppen zusammen. Der Kläger (Vergleichsgruppe VG 53 = Härterei/Wärmebehandlung), erzielte nach dem Punkteschema 43 Sozialpunkte. Einer Reihe von anderen Arbeitnehmern der Härterei, die weniger Punkte als der Kläger aufwiesen, wurde nicht gekündigt, davon drei Arbeitnehmer mit tariflichem Alterskündigungsschutz und sechzehn Arbeitnehmer, die auf einer der Betriebsratsanhörung anliegenden Personalliste als “unverzichtbar” gekennzeichnet waren.
Mit Schreiben vom 24. Februar 2005, zugegangen am 14. März 2005, kündigte die Beklagte nach schriftlicher Anhörung des Betriebsrats das Arbeitsverhältnis des Klägers zum 30. Juni 2005.
Eine Massenentlassungsanzeige bei der Bundesagentur für Arbeit erstattete die Beklagte nicht.
Der Kläger hat sich mit seiner Kündigungsschutzklage gegen diese Kündigung gewandt und die durchgeführte Personalbedarfsberechnung in Frage gestellt. Insbesondere sei die Ermittlung des Personalbedarfs im Hinblick auf die Faktoren “Ratio 2” und “Ratio 80” fehlerhaft. Bei der Sozialauswahl seien die Vergleichsgruppen falsch gebildet worden. Die vergleichbaren Anlagenbediener in der Montage hätten miteinbezogen werden müssen, auch dort gebe es ungelernte Kräfte. Ferner bestehe eine Vergleichbarkeit mit Mitarbeitern der Schleiferei, die Beklagte habe dort drei befristet beschäftigte Arbeitnehmer in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis übernommen. In der Härterei selbst seien nicht alle 63 Arbeitnehmer in die Sozialauswahl einbezogen worden, sondern nur 45 Mitarbeiter. Der Kläger sei mit im Einzelnen von ihm benannten Mitarbeitern vergleichbar. Zudem sei die Sozialauswahl grob fehlerhaft wegen der unzureichenden Gewichtung der Sozialdaten. Der Betriebsrat sei vor Ausspruch der streitgegenständlichen Kündigung nicht ordnungsgemäß angehört worden. Schließlich sei die Kündigung wegen unterbliebener Massenentlassungsanzeige unwirksam.
Der Kläger hat zuletzt beantragt
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung vom 24. Februar 2005 nicht aufgelöst worden ist.
Die Beklagte hat zur Begründung ihres Klageabweisungsantrags ausgeführt: Die Kündigung sei aus dringenden betrieblichen Erfordernissen sozial gerechtfertigt. In der Härterei bestünden angesichts der Auftragsrückgänge und des Entschlusses, die Produktion eines Getriebetyps in L… einzustellen, zum Dezember 2005 statt bisher 63 nur noch 38 Arbeitsplätze. Die Personalbedarfsberechnung sei nach den mit dem Gesamtbetriebsrat getroffenen Vereinbarungen erfolgt und belege nachvollziehbar die Erforderlichkeit von 16 Kündigungen in der Härterei. Die Sozialauswahl sei nicht zu beanstanden. Die Vergleichsgruppen seien zutreffend gebildet worden. Die in der Auswahlliste nicht enthaltenen Mitarbeiter der Härterei seien mit den dort genannten 45 Mitarbeitern nicht vergleichbar. Bei ihnen handele es sich um ausgebildete Kräfte, die im Wesentlichen die Laserschweißanlage, die MAE-Richtpresse mit Felsomat bedienen würden oder in der Lage seien, die Öfen hochzufahren. Der Betriebsrat sei vor Ausspruch der Kündigung ordnungsgemäß beteiligt worden. Einer Massenentlassungsanzeige bezogen auf den 14. März 2005 als Datum des Zugangs der Kündigung habe es nicht bedurft; die Schwellenwerte seien nicht überschritten. Die Agentur für Arbeit habe ausdrücklich erklärt, es bedürfe keiner Massenentlassungsanzeige.
Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten das erstinstanzliche Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision erstrebt der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers hat Erfolg.
A. Das Landesarbeitsgericht hat seine die Klage abweisende Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet: Die Kündigung sei weder mangels ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrats noch wegen fehlender Massenentlassungsanzeige unwirksam. Insbesondere habe der darlegungs- und beweisbelastete Kläger die Erforderlichkeiten einer solchen Anzeige nicht dargetan.
Die Kündigung sei jedoch aus dringenden betrieblichen Erfordernissen sozial gerechtfertigt. Die unternehmerische Entscheidung, den Personalbestand auf Dauer zu reduzieren, führe vorliegend zum Wegfall des Beschäftigungsbedarfs. Die Personalbedarfsberechnung sei nicht zu beanstanden. Einer Differenzierung in Mann-Minuten für geringer qualifizierte Arbeitnehmer und höher qualifizierte Arbeitnehmer in der Härterei habe es nicht bedurft. Die Beklagte habe auch die auf Erfahrungswerten beruhenden Prognoseeffekte “Ratio 2” und “Ratio 80” berücksichtigen dürfen. Die Sozialauswahl sei ordnungsgemäß erfolgt. Die Beklagte habe ausreichend dargetan, weshalb die nicht in die Sozialauswahl einbezogenen Arbeitnehmer nicht vergleichbar seien.
B. Diese Begründung hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Sie verletzt § 1 Abs. 3 KSchG.
Die Kündigung vom 24. Februar 2005 ist schon wegen der nicht ausreichenden Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG sozial ungerechtfertigt. Deshalb kann dahingestellt bleiben, ob vor allem die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts zu den sog. Rationalisierungsfaktoren “Ratio 2” und “Ratio 80” ausreichen, um den Wegfall des Beschäftigungsbedarfs von insgesamt 25 Arbeitsplätzen in der Härterei und der Notwendigkeit eines dringenden betrieblichen Erfordernisses iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG für insgesamt 16 Kündigungen zu begründen.
I. Die durchzuführende Sozialauswahl ist fehlerhaft und führt zur Unwirksamkeit der Kündigung.
1. Zwar sind die Ausführungen des Berufungsgerichts zur Sozialauswahl in der Revisionsinstanz nur beschränkt nachprüfbar. Bei der Frage der ausreichenden Berücksichtigung der in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG genannten sozialen Gesichtspunkte handelt es sich genauso wie bei der Frage, ob die Einbeziehung bestimmter Arbeitnehmer, deren Weiterbeschäftigung, insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebs in berechtigtem betrieblichen Interesse liegt (Satz 2 der Norm), um die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe. Diese kann vom Revisionsgericht nur darauf überprüft werden, ob das angefochtene Urteil die Rechtsbegriffe selbst verkannt hat, ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm des § 1 Abs. 3 KSchG Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat, ob es alle wesentlichen Umstände berücksichtigt hat und ob es in sich widerspruchsfrei ist (Senat 2. Dezember 1999 – 2 AZR 757/98 – AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 45 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 42; 6. Juli 2006 – 2 AZR 442/05 – AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 82 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 69).
2. Das Landesarbeitsgericht hat aber den Kreis der in die soziale Auswahl einzubeziehenden Arbeitnehmer falsch bestimmt.
a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats bestimmt sich der Kreis der in die soziale Auswahl einzubeziehenden vergleichbaren Arbeitnehmer in erster Linie nach arbeitsplatzbezogenen Merkmalen, also zunächst nach der ausgeübten Tätigkeit. Dies gilt nicht nur bei einer Identität der Arbeitsplätze, sondern auch dann, wenn der Arbeitnehmer auf Grund seiner Tätigkeit und Ausbildung eine andersartige, aber gleichwertige Tätigkeit ausführen kann. Die Notwendigkeit einer kurzen Einarbeitungszeit steht einer Vergleichbarkeit nicht entgegen (“qualifikationsmäßige Austauschbarkeit”: 2. Juni 2005 – 2 AZR 480/04 – BAGE 115, 92; 23. November 2004 – 2 AZR 38/04 – BAGE 112, 361; 31. Mai 2007 – 2 AZR 306/06 – AP KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 93 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 76). An einer Vergleichbarkeit fehlt es jedoch, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auf Grund des zugrunde liegenden Arbeitsvertrags nicht einseitig auf den anderen Arbeitsplatz um- oder versetzen kann (“arbeitsvertragliche Austauschbarkeit”: 2. Juni 2005 – 2 AZR 480/04 – BAGE 115, 92; 31. Mai 2007 – 2 AZR 306/06 – AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 93 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 76). Auswahlrichtlinien nach § 95 BetrVG iVm. § 1 Abs. 4 KSchG können dabei diese gesetzlichen Anforderungen an die Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG nicht verdrängen. Im Rahmen eines Beurteilungsspielraums können zwar Erfahrungen der Betriebspartner hinsichtlich der Vergleichbarkeit der Arbeitnehmer bestimmter Arbeitsplätze einfließen, es können aber nicht von vornherein Arbeitnehmer bestimmter Abteilungen oder Arbeitsgruppen ohne ausreichende sachliche Kriterien nicht als vergleichbar eingestuft werden (Senat 15. Juni 1989 – 2 AZR 580/88 – BAGE 62, 116). Dies gilt umso mehr als § 1 Abs. 4 KSchG nur die Gewichtung der sozialen Auswahlkriterien und nicht die Zusammensetzung des auswahlrelevanten Personenkreises oder die entgegenstehenden betrieblichen Bedürfnisse iSv. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG betrifft (Stahlhacke/Preis Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis 9. Aufl. Rn. 1161; v. Hoyningen-Huene/Linck KSchG 14. Aufl. § 1 Rn. 973; Löwisch/Spinner KSchG 9. Aufl. § 1 Rn. 402).
Bei dem unter den vergleichbaren Arbeitnehmern nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG durchzuführenden Vergleich der Sozialindikatoren (Betriebszugehörigkeit, Alter, Unterhaltspflichten, Schwerbehinderung) hat der Arbeitgeber – bzw. im Rahmen von § 1 Abs. 4 KSchG die Betriebsparteien – einen Wertungsspielraum (Senat 2. Juni 2005 – 2 AZR 480/04 – BAGE 115, 92). Ist in einer Betriebsvereinbarung nach § 95 BetrVG aber festgelegt, wie die sozialen Gesichtspunkte im Verhältnis zueinander zu bewerten sind, kann die Bewertung nach § 1 Abs. 4 KSchG nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Grob fehlerhaft ist die Gewichtung der Sozialdaten dann, wenn sie jede Ausgewogenheit vermissen lässt, das heißt wenn einzelne Sozialdaten überhaupt nicht, eindeutig unzureichend oder mit eindeutig überhöhter Bedeutung berücksichtigt wurden (vgl. Senat 5. Dezember 2002 – 2 AZR 697/01 – BAGE 104, 138). Darüber hinaus bindet sich der Arbeitgeber auch für die Bewertung der Sozialdaten selbst an die Bewertung und Gewichtung der sozialen Auswahlrichtlinien.
b) Nach § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG sind in die Sozialauswahl an sich vergleichbare Arbeitnehmer nicht einzubeziehen, deren Weiterbeschäftigung, insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebs, im berechtigten betrieblichen Interesse liegt. Indem der Gesetzgeber das bloße betriebliche Interesse nicht ausreichen lässt, sondern weiter fordert, das Interesse müsse “berechtigt sein”, gibt er zu erkennen, dass auch ein vorhandenes betriebliches Interesse “unberechtigt” sein kann. Das setzt voraus, dass nach dem Gesetz gegenläufige Interessen denkbar und zu berücksichtigen sind, die einer Ausklammerung von sog. Leistungsträgern aus der Sozialauswahl auch dann entgegenstehen können, wenn sie bei einer isolierten Betrachtung des betrieblichen Interesses gerechtfertigt wären. Bei diesen gegenläufigen Interessen kann es sich nach der Rechtsprechung des Senats angesichts des Umstands, dass § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG eine Ausnahme vom Gebot der Sozialauswahl statuiert, nur um die Belange des sozial schwächeren Arbeitnehmers handeln. Die Interessen müssen berechtigt im Kontext mit der Sozialauswahl sein. Das Interesse des sozial schwächeren Arbeitnehmers ist im Rahmen des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG demnach gegen das betriebliche Interesse an einer Herausnahme sog. Leistungsträger abzuwägen. Je schwerer dabei das soziale Interesse wiegt, umso gewichtiger müssen die Gründe für die Ausklammerung des Leistungsträgers sein. Nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG bleibt es deshalb dabei, dass die Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten die Regel darstellt, die Ausklammerung sog. Leistungsträger nach Satz 2 der Norm hingegen die Ausnahme bleiben soll (31. Mai 2007 – 2 AZR 306/06 – AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 93 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 76).
c) Die Darlegungs- und Beweislast im Rahmen des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG liegt gemäß Satz 3 dieser Vorschrift letztlich beim Arbeitnehmer. Allerdings ist auch hier unter Berücksichtigung des Auskunftsanspruchs des Arbeitnehmers von einer abgestuften Darlegungs- und Beweislast auszugehen. Die Darlegungs- und Beweislast für die Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG liegt hingegen beim Arbeitgeber (näher dazu vgl. KR-Griebeling 8. Aufl. § 1 KSchG Rn. 655, 683 ff.; HaKo-Gallner 3. Aufl. § 1 KSchG Rn. 828 ff.).
d) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hätte das Landesarbeitsgericht einerseits den Kläger auch mit anderen (ungelernten) Anlagenbedienern der anderen Abteilungen vergleichen müssen und andererseits auch nicht davon ausgehen dürfen, dass die von der Beklagten als “unverzichtbar” erachteten und niedrigere Punktzahlen als der Kläger aufweisenden Mitarbeiter der Vergleichsgruppe Systemanlagenbediener Härterei/Wärmebehandlung (VG 53) nicht in die Sozialauswahl einzubeziehen waren.
aa) Das Landesarbeitsgericht hat, indem es bei der Prüfung des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG die Darlegungen des Klägers als nicht hinreichend und damit den Sachvortrag der Beklagten zur fehlenden Vergleichbarkeit als zutreffend angesehen hat, verkannt, dass schon der Vortrag der Beklagten nicht schlüssig war. Die Beklagte hat sich widersprüchlich eingelassen. Sie hat einerseits unter Bezug auf die Auswahlrichtlinie die Arbeitnehmer der VG 53 Systemanlagenbediener Härterei/Wärmebehandlung als vergleichbar für die Sozialauswahl (“Vergleichsgruppen”) angesehen, andererseits aber vorgetragen, es seien innerhalb der ursprünglich gebildeten Vergleichsgruppe bestimmte Mitarbeiter doch nicht vergleichbar. Nach ihrer eigenen Darlegung hat sie sich also bei der Prüfung, wer als vergleichbar in die Sozialauswahl einzubeziehen sei, nicht an dem ursprünglich gemeinsam mit dem Gesamtbetriebsrat als vergleichbar erachteten und in der Betriebsratsanhörung dem Betriebsrat mitgeteilten Arbeitnehmerkreis orientiert, sondern eine eigene Beurteilung an die Stelle der kollektivrechtlichen Übereinkunft gesetzt. Dementsprechend durfte das Landesarbeitsgericht – schon gar nicht, ohne dem Kläger die Möglichkeit zu weiterem Sachvortrag zu geben – nicht einfach von der von der Beklagten zuletzt schriftsätzlich behaupteten fehlenden Vergleichbarkeit ausgehen. Es hätte vielmehr danach die Anlagenbediener der anderen Abteilungen des Betriebs in die Vergleichbarkeit einbeziehen müssen. Denn eine Einschränkung des auswahlrelevanten Personenkreises auf die einzelnen Betriebsabteilungen ist rechtlich unzutreffend, da insoweit auf den Betrieb als Ganzes abzustellen ist, wie der Senat mehrfach entschieden hat (vgl. bspw. 1. Juli 1976 – 2 AZR 322/75 – BAGE 28, 131; 15. Juni 1989 – 2 AZR 580/88 – BAGE 62, 116; 5. Mai 1994 – 2 AZR 917/93 – AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 23 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 31; 3. Juni 2004 – 2 AZR 577/03 –; KR-Griebeling § 1 KSchG Rn. 609).
bb) Geht man andererseits von einer Vergleichbarkeit nur der Systemanlagenbediener Härterei/Wärmebehandlung der Vergleichsgruppe 53 aus, sind also insbesondere auch die Arbeitnehmer D…, A…, V…, S…, Su, R…, Ak und K… – dabei wurden vom Kläger die Mitarbeiter Ak, K…, V… und S… ausdrücklich benannt – einzubeziehen, so ist die soziale Auswahl schon deshalb fehlerhaft, weil die genannten Beschäftigten zum Teil erheblich niedrigere Punktzahlen als der Kläger aufweisen. Sie sind deshalb weit weniger schutzbedürftig als der Kläger. Ihrer grundsätzlichen Vergleichbarkeit steht auch nicht ihre vielfältigere Einsatzmöglichkeit entgegen. Dass es sich bei den Anlagenbedienern um “Spezialisten” handelte, die durch den Kläger nicht bzw. nur mit sehr langen Einarbeitungszeiten in deren Tätigkeit zu ersetzen wären, hat die Beklagte nicht substanziiert vorgetragen. Soweit diese Arbeitnehmer einzelne Tätigkeiten besonders beherrschen bzw. bestimmte Maschinen bedienen können, schließt dies allein eine Vergleichbarkeit noch nicht aus, sondern könnte ggf. im Hinblick auf § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG Bedeutung gewinnen.
Eine Austauschbarkeit ist erst ausgeschlossen, wenn die betriebliche Spezialisierung und die aktuellen besonderen Umstände einen solchen Grad erreicht haben, dass ein Einsatz der zu kündigenden Arbeitnehmer auf dem Arbeitsplatz des “Spezialisten” auch nach einer angemessenen Einarbeitungsfrist nicht möglich ist (vgl. BAG 5. Mai 1994 – 2 AZR 917/93 – aaO). Dafür ist es aber noch nicht ausreichend, dass der Arbeitnehmer nur einen bestimmten, insbesondere untergeordneten Arbeitsvorgang nicht ausüben kann. Sein Arbeitseinsatz muss insgesamt nicht mehr – wirtschaftlich – erfolgen können.
Ein entsprechender Vortrag der Beklagten fehlt. Die Behauptung der Beklagten, die betroffenen Mitarbeiter könnten jeweils bestimmte Maschinen bedienen, die der Kläger nicht bedienen könne, reicht hierzu nicht aus, um zwischen den Anlagenbedienern näher zu differenzieren und bestimmte Anlagenbediener aus der Vergleichsgruppe herauszunehmen.
cc) Die Sozialauswahl ist auch nicht deshalb ausreichend, weil nach dem Sachvortrag der Beklagten die genannten Arbeitnehmer zwar als vergleichbar, aber als “Leistungsträger” iSd. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG anzusehen sind.
Die darlegungs- und beweisbelastete Beklagte hat schon nicht im Einzelnen die Kenntnisse und Fähigkeiten vorgetragen, die im betrieblichen Interesse iSd. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG liegen sollen. Dies verdeutlicht auch das nachfolgende Rechenexempel. Die Beklagte will insgesamt 16 der bisher insgesamt 63 in der Härterei beschäftigten Mitarbeiter “als Spezialisten” ansehen. Nach der Personalmaßnahme sind aber weiterhin 16 der verbliebenen 38 Arbeitnehmer “Spezialisten”. Warum sich deren Arbeit nicht auch proportional verringert hat, hat die Beklagte nicht dargetan.
Vor allem ist nicht erkennbar, dass die für § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG notwendige Abwägung stattgefunden hat, wie sie von der Rechtsprechung des Senats ggf. gefordert wird (12. April 2002 – 2 AZR 706/00 – AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 56 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 48; 31. Mai 2007 – 2 AZR 306/06 – AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 93 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 76). Dass die betrieblichen Interessen gegenüber den Interessen des Klägers vorrangig sind (insbesondere im Verhältnis der Sozialdaten des Klägers mit 43 Punkten zu Herrn Ak mit 4 Punkten), wird von der darlegungspflichtigen Beklagten noch nicht einmal in Ansätzen dargetan.
e) Ob darüber hinaus die Sozialauswahl auch deshalb fehlerhaft ist, weil die Beklagte drei Mitarbeiter allein auf Grund der in § 4.4 MTV Metallindustrie Nordwürttemberg/Nordbaden geregelten tariflichen Unkündbarkeit, insbesondere des 53-jährigen Arbeitnehmers P…, nicht als vergleichbar angesehen und damit gegen höherrangiges Recht verstoßen hat oder ob im Einzelfall die tariflichen Regelungen nicht anzuwenden sind, wenn ihre Anwendung bei einem Vergleich der Sozialdaten zwischen dem ordentlich unkündbaren Mitarbeiter und dem ordentlich kündbaren Mitarbeiter zu einem grob fehlerhaften Ergebnis führen würde, kann wegen der aufgezeigten Fehler hier dahingestellt bleiben (vgl. dazu ausführlich Bröhl Die außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist § 19; Bröhl BB 2006, 1050; APS/Kiel § 1 KSchG Rn. 703 ff., 707; siehe auch MünchKommBGB/Thüsing 5. Aufl. § 10 AGG Rn. 42 ff.; Bauer/Göpfert/Krieger AGG 2. Aufl. § 10 Rn. 46 ff.; Wendeling-Schröder NZA 2007, 1399).
Zwar kann die einschlägige Regelung des § 4.4 MTV zu Ergebnissen führen, die die gesetzliche Wertung des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG auf den Kopf stellen, so etwa wenn ein 53-jähriger seit drei Jahren beschäftigter Arbeitnehmer ohne Unterhaltspflichten auf Grund der tarifvertraglichen Regelung aus der Sozialauswahl ausscheiden soll, während ein 52-jähriger seit 35 Jahren im Betrieb beschäftigter Arbeitnehmer mit mehrfachen Unterhaltspflichten zur Kündigung ansteht. In einem solchen (Extrem-)Fall wäre dann zu erwägen, die Regelung ggf. im Hinblick auf die Grundrechte des ordentlich kündbaren Mitarbeiters (Art. 12 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 9 Abs. 3 GG in Form der negativen Koalitionsfreiheit) verfassungskonform bzw. im Hinblick auf die Regelungen zur Altersdiskriminierung (vgl. RL 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf bzw. Verbot der Altersdiskriminierung als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts; siehe dazu EuGH 22. November 2005 – C-144/04 – Mangold EuGHE I 2005, 9981) gemeinschaftskonform einzuschränken (näher dazu vgl. APS/Kiel § 1 KSchG Rn. 705 f.; Bröhl aaO § 19) bzw. für den Einzelfall durch einen ungeschriebenen Ausnahmetatbestand innerhalb der Tarifnorm anzupassen (Bröhl aaO § 19; Bröhl BB 2006, 1050; Zwanziger DB 2000, 2166; aA APS/Kiel § 1 KSchG Rn. 705 f., der § 4.4 MTV insgesamt für unwirksam erachtet). Zwar sind Unkündbarkeitsvereinbarungen grundsätzlich als zulässig anzusehen (MünchKommBGB/Thüsing § 10 AGG Rn. 41; Bauer/Göpfert/Krieger § 10 Rn. 46 ff.; Eylert PersR 2007, 92; Wendeling-Schröder NZA 2007, 1399; speziell zu § 4.4 MTV vgl. LAG Baden-Württemberg 30. Juli 2007 – 15 Sa 29/07 – AuR 2007, 406 (nur Leitsatz) und LAG Baden-Württemberg 15. März 2007 – 21 Sa 97/06 –). Die gebotene Grenze kann aber, wie in der wieder gestrichenen Vorschrift des § 10 Ziff. 7 AGG aF, dort liegen, wo die Fehlgewichtung durch den durch die ordentliche Unkündbarkeit eingeschränkten Auswahlpool zu einer grob fehlerhaften Auswahl führen würde (Münch-KommBGB/Thüsing § 10 AGG Rn. 42 ff.; Bauer/Göpfert/Krieger § 10 Rn. 46 ff.).
II. Da die Kündigung vom 24. Februar 2005 schon wegen der fehlerhaften Sozialauswahl sozial ungerechtfertigt iSv. § 1 Abs. 3 KSchG ist, bedurfte es keiner weiteren Prüfung, ob der Betriebsrat ordnungsgemäß beteiligt und eine Massenentlassungsanzeige notwendig war und rechtzeitig erstattet wurde.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO.
Unterschriften
Rost, Schmitz-Scholemann, Eylert, Krichel, F. Löllgen
Fundstellen
Haufe-Index 2047920 |
BB 2009, 447 |
DB 2008, 2143 |