Leitsatz
1. Das Mitglied eines Opernchors ist "Künstler" i.S. von Art. 17 Abs. 1 Satz 1 DBA‐Schweiz 1971/2010.
2. Das Besteuerungsrecht des Tätigkeitsstaats nach Art. 17 Abs. 1 Satz 1 DBA‐Schweiz 1971/2010 umfasst auch die Vergütungsteile, welche dem Künstler für die Mitwirkung an Proben gezahlt werden, die der Vorbereitung der Auftritte vor Publikum dienen.
3. Für die Berechnung der "Nichtrückkehrtage" gemäß Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA‐Schweiz 1971/2010 spielt es auch für die Veranlagungszeiträume vor 2015 keine Rolle, ob der Arbeitnehmer in dem betreffenden Kalenderjahr für einen oder für mehrere Arbeitgeber tätig gewesen ist (entgegen BMF-Schreiben vom 19. September 1994, BStBl I 1994, 683, und vom 18. Dezember 2014, BStBl I 2015, 22).
4. Eine Übereinkunft zwischen den deutschen und den Schweizer Steuerbehörden (hier: Konsultationsvereinbarung mit der Eidgenössischen Steuerverwaltung zur einheitlichen Anwendung und Auslegung des Art. 15a DBA‐Schweiz 1971 i.d.F. des Änderungsprotokolls vom 21. Dezember 1992, BGBl II 1993, 1888, BStBl I 1993, 928) bindet die Gerichte nicht (Bestätigung der ständigen Rechtsprechung). § 2 Abs. 2 AO (i.d.F. des JStG 2010) i.V.m. § 9 Abs. 1 KonsVerCHEV vom 20. Dezember 2010 (BGBl I 2010, 2187, BStBl I 2010, 146) ändert daran nichts; § 2 Abs. 2 AO (i.d.F. des JStG 2010) genügt insoweit nicht den Bestimmtheitsanforderungen, die nach Art. 80 Abs. 1 GG an eine Verordnungsermächtigung zu stellen sind.
Normenkette
Art. 15a Abs. 2 Satz 2, Art. 17 Abs. 1 Satz 1 DBA‐Schweiz 1971/2010, § 2 Abs. 2 AO (i.d.F. des JStG 2010), § 9 Abs. 1 KonsVerCHEV, Art. 80 Abs. 1 GG
Sachverhalt
Der im Inland wohnende Kläger war im Streitjahr (2012) als Sänger im Chor des privatwirtschaftlich von einer AG betriebenen Opernhauses in A (Schweiz) beschäftigt. Der Chor setzte sich zusammen aus ca. 100 festangestellten Sängern, aus weiteren professionellen Sängern, die durch sog. Chorzuzügerverträge für konkrete Opernprojekte verpflichtet wurden (so auch der Kläger) und ferner aus semiprofessionellen Sängern des Zusatzchors; der Kläger wirkte in seiner Funktion an 16 verschiedenen Opern mit.
Vertraglich war ein Chorzuzüger u.a. auch zur Mitwirkung an den jeweiligen Proben (Generalproben, Klavierhauptproben, Hauptproben mit Orchester, musikalische Proben, Orchestersitzproben und Bühnenorchesterproben) verpflichtet. Die Proben, bei denen kein Publikum anwesend war, wurden im Opernhaus oder anderen Spielstätten in A abgehalten. Das Opernhaus rechnete die Entlohnung des Klägers entsprechend den in den Verträgen getroffenen Vereinbarungen zu unterschiedlichen Stundensätzen ab – getrennt nach der Mitwirkung an Vorstellungen (Aufführungen) und Teilnahmen an Proben.
Im Zeitraum vom ... bis ... 2012 wirkte der Kläger außerdem aufgrund eines Vertrags mit der B Akademie in der Schweiz als Mitglied des Chores B an einer Opernproduktion mit.
Von den dem Kläger zustehenden Vergütungen behielten das Opernhaus A und die B Akademie Schweizerische Quellensteuer ein und führten diese an die Eidgenössische Steuerverwaltung (EStV) ab. In der Schweiz unterhielt der Kläger im Streitjahr keine Wohnung. Soweit er in der Schweiz übernachtete, schlief er in seinem Wohnmobil und gelegentlich bei Kollegen. Er kehrte im Streitjahr aufgrund seiner Arbeitsausübung an insgesamt 85 Arbeitstagen nicht an seinen inländischen Wohnsitz zurück. Dieser liegt ca. 118 bzw. 95 km von den Spielstätten in der Schweiz entfernt.
Da der Kläger bis dahin keine Einkommensteuererklärung abgegeben hatte, erließ das FA im November 2013 unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO) einen Bescheid, mit dem er auf der Grundlage von geschätzten Einkünften aus selbstständiger Tätigkeit die Einkommensteuer für das Streitjahr festsetzte. Der dagegen erhobene Einspruch des Klägers ging erst nach Ablauf der Einspruchsfrist beim FA ein. Im Juni 2014 beantragte der Kläger die Änderung des Einkommensteuerbescheids gemäß § 164 Abs. 2 AO. Das FA lehnte den Änderungsantrag ab.
In dem anschließenden Einspruchsverfahren reichte der Kläger eine Einkommensteuererklärung ein, in der er die Einkünfte aus seiner Tätigkeit als Chorsänger beim Opernhaus A und beim Chor B als Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit qualifizierte und mit insgesamt ... EUR bezifferte. Er vertrat dazu die Auffassung, dass nur die Entlohnung der Mitwirkung bei den Chorauftritten der inländischen Besteuerung unter Anrechnung der Schweizer Quellensteuer unterliege. Der Arbeitslohn für die Probentätigkeit sei im Inland unter Progressionsvorbehalt steuerfrei.
In der Einspruchsentscheidung setzte das FA "verbösernd" die gesamten vom Kläger angegebenen Einnahmen aus seiner Tätigkeit beim Opernhaus A und beim Chor B als steuerpflichtige Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit an (unter Anrechnung der schweizerischen Quellensteuern auf die tarifliche Einkommensteuer).
Im Verlauf des anschließenden Klageverfahrens berichtigte der Kläger seine Angaben zu den zugeflossenen Einnahmen aus seiner Tätigkeit als Chorsänger....