Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Protokollierungspflicht der für die Beweiswürdigung bedeutsamen Interaktionen; Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme
Leitsatz (NV)
1. Nach § 160 Abs. 3 Nr. 4 ZPO sind in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung “die Aussagen der Zeugen” festzustellen. Begleitumstände der Aussagen wie etwa die Körpersprache der Zeugen bei der Vernehmung oder Kommentare der Prozessbevollmächtigten hierzu sowie sonstige Formen der für die Beweiswürdigung bedeutsamen Interaktionen (z.B. gemeinsames Gelächter) müssen nicht auf der Grundlage dieser Vorschrift protokolliert werden.
2. Der Grundsatz der materiellen Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verbietet dem Gericht lediglich, anstelle des erreichbaren unmittelbaren Beweismittels ein bloß mittelbares heranzuziehen. Der Unmittelbarkeitsgrundsatz ist aber nicht verletzt, wenn das Gericht die für die Sachverhaltsaufklärung wichtigen Zeugen hört und ihnen aufgrund des Inhalts beigezogener Akten anderer Gerichte und Behörden Vorhaltungen macht. Auch zur Beurteilung der Glaubwürdigung der Zeugen ist die Berücksichtigung des Akteninhalts und der Ergebnisse früherer Zeugeneinvernahmen geboten.
Normenkette
FGO § 76 Abs. 1, §§ 81, 96, 115 Abs. 2; ZPO § 160 Abs. 2, 3 Nr. 4
Verfahrensgang
FG Köln (Urteil vom 15.03.2006; Aktenzeichen 12 K 6604/01) |
Gründe
Die Beschwerde ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Es kann dahinstehen, ob die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) alle von ihnen geltend gemachten Verfahrensrügen entsprechend den Vorgaben des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO dargelegt haben. Die gerügten Verfahrensmängel liegen jedenfalls nicht vor.
1. a) Dies gilt zum einen für die in der Beschwerdebegründung erhobene Rüge, das Finanzgericht (FG) habe seiner Entscheidung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 96 Abs. 1 FGO) zugrunde gelegt und nicht die für die Urteilsfindung maßgeblichen Tatsachen festgestellt (§ 76 Abs. 1 FGO). Vielmehr habe es im Rahmen der Beweiswürdigung auf Vorgänge Bezug genommen, die sich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung nicht entnehmen ließen. Aus dem Protokoll sei nicht zu ersehen, dass sich der Kläger gemeinsam mit dem Zeugen H bemüht habe, die Zeugen B und S zu diskreditieren. Auch sei der protokollierten Aussage des Zeugen B nicht zu entnehmen, dass er seine Aussage modifiziert habe, "nachdem der Kläger intervenierte", er seine Aussagen "auf den deutlich erkennbaren Unmut des Klägers hin" relativiert und seine Aussagen verwischt habe, "als der Kläger protestierte".
b) Diese Einwände zur Frage der tatsächlichen Feststellungen des FG verkennen, dass die für die Beweiswürdigung maßgeblichen Tatsachen nicht ausnahmslos in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung enthalten sein müssen.
Für die Niederschrift (Protokoll) über die mündliche Verhandlung gelten gemäß § 94 FGO die §§ 159 bis 165 der Zivilprozessordnung (ZPO) entsprechend. Gemäß § 160 Abs. 2 ZPO sind in das Protokoll "die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung aufzunehmen". Diese Vorschrift betrifft nur den äußeren Hergang der Verhandlung bzw. die für die Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 19. April 2005 XI B 243/03, BFH/NV 2005, 1586; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 94 Rz 7; s. auch Baumbach/ Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung; 65. Aufl., § 160 Rz 7). Die Sachverhaltsdarstellung der Prozessbeteiligten gehört nicht dazu (BFH-Beschluss vom 15. September 2005 V B 126/04, BFH/NV 2006, 557). Im Übrigen sind im Protokoll gemäß § 160 Abs. 3 Nr. 4 "die Aussagen der Zeugen" festzustellen. Begleitumstände der Aussagen wie etwa die Körpersprache der Zeugen bei der Vernehmung oder Kommentare der Prozessbeteiligten hierzu sowie sonstige Formen der für die Beweiswürdigung bedeutsamen Interaktionen (hier: "gemeinsames Gelächter") müssen nicht auf der Grundlage dieser Vorschrift protokolliert werden.
Tatsächliche Feststellungen können sich auch im Tatbestand des FG-Urteils, in den Entscheidungsgründen und in Schriftstücken finden, auf die das FG-Urteil ausdrücklich Bezug nimmt (BFH-Urteile vom 8. Juli 1982 IV R 20/78, BFHE 136, 252, BStBl II 1982, 700; vom 31. März 2004 I R 83/03, BFHE 206, 58; Gräber/ Ruban, a.a.O., § 118 Rz 37). Nur wenn --anders als im Streitfall-- das erkennende Gericht die Beweisaufnahme nicht selbst durchgeführt hat, gebieten es die Grundsätze der freien Beweiswürdigung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) und der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 81 Abs. 1 Satz 1 FGO), dass das Gericht bei seiner Entscheidung nur das berücksichtigen darf, was auf der Wahrnehmung aller an der Entscheidung beteiligten Richter beruht oder aktenkundig ist und wozu die Beteiligten sich zu erklären Gelegenheit hatten (vgl. Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 81 FGO Rz 23; Gräber/Koch, a.a.O., § 81 Rz 9). Bei einer von einem beauftragten oder ersuchten Richter durchgeführten Beweisaufnahme geschieht die Verwertung der Aussagen --wie auch im Falle des Richterwechsels (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs --BGH-- vom 4. Dezember 1990 XI ZR 310/89, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1991, 1180)-- im Wege des Urkundenbeweises durch Auswertung des Protokolls. Deshalb dürfen Eindrücke, die ausschließlich der vernehmende Richter bei der Beweisaufnahme gewonnen, aber nicht in der Niederschrift vermerkt hat, bei der Entscheidung keine Rolle spielen (BFH-Beschluss vom 30. April 2003 I B 120/02, BFH/NV 2003, 1587).
c) Im Streitfall finden sich in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung keine Feststellungen dazu, ob und von wem die Zeugen B und S diskreditiert bzw. eingeschüchtert wurden. Der von den Klägern angeführte Grundsatz, dass die Feststellungen des Sitzungsprotokolls denen in den Entscheidungsgründen des Urteils vorgehen (vgl. Gräber/Ruban, a.a.O., § 118 Rz 37; BFH-Urteil vom 18. Juni 1993 VI R 67/90, BFHE 171, 515, BStBl II 1994, 182, das sich allerdings insoweit nur auf die Förmlichkeiten des Verfahrens bezieht), kann schon deshalb nicht greifen.
2. Das FG hat auch nicht gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 81 Abs. 1 Satz 1 FGO) verstoßen.
a) Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme besagt, dass das Gericht den Beweis in der mündlichen Verhandlung erheben muss. Beweisergebnisse anderer Gerichtsverfahren dürfen zwar im Wege des Urkundenbeweises in den Prozess eingeführt werden. Die Beiziehung von Akten eines anderen Gerichts oder einer Behörde und die Verwertung der darin enthaltenen Beweiserhebungen sind gegen den Widerspruch eines Beteiligten nicht zulässig, solange die erneute Beweisaufnahme durch das Gericht selbst möglich ist (vgl. BFH-Urteil vom 12. Juni 1991 III R 106/87, BFHE 164, 396, BStBl II 1991, 806).
b) Der Grundsatz der materiellen Unmittelbarkeit bedeutet aber keineswegs, dass das Gericht gezwungen wäre, nur den unmittelbaren Beweis zu erheben. Er verbietet ihm lediglich, anstelle des erreichbaren unmittelbaren Beweismittels ein bloß mittelbares heranzuziehen (Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 81 FGO Rz 26). Das FG darf seine Tatsachenfeststellungen allerdings nicht allein auf beigezogene Akten und darin enthaltene Vernehmungsprotokolle stützen, als eine Zeugenvernehmung von einem Beteiligten ausdrücklich beantragt wird oder sich aus anderen Gründen dem Gericht aufdrängen muss (vgl. Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- vom 22. November 1991 1 B 142.91, NJW 1992, 1186, m.w.N. aus der Rechtsprechung). Der Unmittelbarkeitsgrundsatz ist deshalb nicht verletzt, wenn das FG die für die Sachverhaltsaufklärung wichtigen Zeugen hört und ihnen aufgrund des Inhalts beigezogener Akten anderer Gerichte oder Behörden Vorhaltungen macht (Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 81 FGO Rz 29). Zutreffend weist der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) in der Beschwerdeerwiderung darauf hin, dass die Berücksichtigung des Akteninhalts und der Ergebnisse früherer Zeugeneinvernahmen insbesondere im Rahmen der Urteilsfindung zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeugen geboten sind.
c) Das FG hat die Zeugen B und S gehört. Die Kläger und ihr Prozessvertreter hatten die Möglichkeit, die Zeugen zu befragen und das Gericht auf mögliche Widersprüche oder Ungereimtheiten ihrer Aussagen aufmerksam zu machen. Dem in § 81 Abs. 1 Satz 1 FGO festgelegten Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme wurde damit entsprochen. Im Rahmen seiner Beweiswürdigung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) konnte das FG die früheren Aussagen der Zeugen B und S sowie die des Vernehmungsbeamten einbeziehen. Anderes Datenmaterial lag dem Gericht --abgesehen vom Aussageverhalten in der Verhandlung-- zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeugenaussagen nicht vor. Zudem haben die Kläger die Protokolle über die Zeugenvernehmungen durch die Finanzbehörde selbst in das Verfahren eingeführt; sie hatten Gelegenheit, hierzu sachlich Stellung zu beziehen.
d) Aus dem von den Klägern zitierten BGH-Urteil vom 13. September 1995 VI ZR 233/94 (NJW 1995, 2856) folgt nicht, dass im Streitfall die Einbeziehung der von der Steuerfahndung gefertigten Vernehmungsprotokolle verfahrensfehlerhaft gewesen wäre. Der BGH hat das Berufungsurteil u.a. mit der Begründung aufgehoben, einer Urkunde über die Vernehmung eines Zeugen in einem anderen Verfahren komme im Allgemeinen ein geringerer Beweiswert zu als dem unmittelbaren Zeugenbeweis; das angefochtene Urteil lasse nicht erkennen, dass sich das Berufungsgericht hierüber im Klaren gewesen sei. Im Streitfall hat das FG hingegen --anders als das Berufungsgericht in dem vom BGH zu entscheidenden Fall-- die Zeugen gehört und nur die Glaubwürdigkeit ihrer Aussage vor Gericht unter Einbeziehung ihrer früheren Aussage beurteilt.
3. Ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten ist nur dann ein Zulassungsgrund, wenn er gleichzeitig einen Verfahrensfehler darstellt. Dies setzt eine Verletzung des § 96 Abs. 1 FGO dadurch voraus, dass das FG seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, der schriftlich festgehaltenem Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht oder eine nach den Akten eindeutig festgestellte Tatsache unberücksichtigt lässt (vgl. BFH-Beschluss vom 20. April 2006 VIII B 33/05, BFH/NV 2006, 1338). Dabei ist zu berücksichtigen, dass § 96 FGO nicht gebietet, alle im Einzelfall gegebenen Umstände im Urteil zu erörtern. Es ist vielmehr im Allgemeinen davon auszugehen, dass ein Gericht auch denjenigen Akteninhalt in Erwägung gezogen hat, mit dem es sich in den schriftlichen Entscheidungsgründen nicht ausdrücklich auseinandergesetzt hat (BFH-Beschluss vom 27. September 1999 I B 83/98, BFH/NV 2000, 673).
a) Zwar trifft es zu, dass das FG im Tatbestand seiner Entscheidung auf die gekürzten Vernehmungsprotokolle vom 30. Oktober 1998 (Zeugin S) und vom 26. November 1998 (Zeuge B) Bezug genommen hat, obwohl dem Gericht auch die ungekürzten Niederschriften vorlagen. Diese wurden im Übrigen auch dem BFH vorgelegt. Bei einem Vergleich der gekürzten mit den nicht gekürzten Protokollen ergeben sich jedoch keine eindeutigen, vom FG nicht gewürdigten Tatsachen, die das FG seiner Entscheidung zugunsten der Kläger hätte zugrunde legen müssen.
Laut Vernehmungsprotokoll vom 30. Oktober 1998 hat die Zeugin S den Vernehmungsbeamten zunächst den innerbetrieblichen Ablauf der Warenauslieferung geschildert. Sie hat erklärt, dass die Fahrer kleinere Kunden unmittelbar bei Auslieferung der Ware abkassiert hätten. Für bestimmte Kunden seien hingegen monatlich auf der Basis der Lieferscheine Rechnungen erstellt worden. In diesen Fällen seien nur 50 % der gelieferten Waren berechnet worden, der Zeuge H habe dann persönlich den in Rechnung gestellten Betrag einerseits und den übrigen Teil "schwarz" vereinnahmt. Laut Vernehmungsprotokoll hat die Zeugin S dann anhand der ihr vorgelegten Kundenliste die Kunden benannt, denen ihrer Meinung nach sicher nur ein Teil der gelieferten Ware in Rechnung gestellt worden ist. Insoweit unterscheidet sich das ungekürzte Vernehmungsprotokoll nicht von der gekürzten Niederschrift. In der anschließenden Auflistung der Einkäufer, denen nur ein Teil der Lieferung in Rechnung gestellt wurde, findet sich zudem in der gekürzten und in der ungekürzten Fassung des Vernehmungsprotokolls der Name des Klägers ohne jeglichen Zusatz.
In der gekürzten Niederschrift wurden --wohl aus Gründen des Steuergeheimnisses (§ 30 der Abgabenordnung --AO--) lediglich die Namen der weiteren Kunden unkenntlich gemacht. Zwar waren diese Namen teilweise mit handschriftlichen Zusätzen ("Tour", "nicht sicher") versehen, aus denen gefolgert werden könnte, dass sich die Zeugin S insoweit --entgegen ihren allgemeinen Ausführungen-- doch nicht ganz sicher war, ob diese Kunden teilweise ohne Rechnung beliefert worden waren. Handschriftliche Anmerkungen hinter dem Namen des Klägers fehlen aber auch in der ungekürzten Niederschrift und die Zusätze hinter den Namen anderer Kunden zwingen nicht zu Rückschlüssen auf den Kläger. Das Gericht hat nach alledem seiner Entscheidung nicht einen Sachverhalt zugrunde gelegt, der gegen den klaren Akteninhalt verstößt.
Die Kläger vermissen letztlich, dass das FG aus der möglichen Unsicherheit der Zeugin S hinsichtlich der Belieferung anderer Kunden nicht die Schlussfolgerung gezogen hat, die Aussage der Zeugin S sei auch hinsichtlich der Geschäftsbeziehung des Zeugen H zum Kläger angreifbar. Damit rügen die Kläger jedoch eine fehlerhafte Beweiswürdigung, mit der ein Verfahrensfehler regelmäßig nicht begründet werden kann (Senatsbeschluss vom 18. März 2003 X B 144/99, BFH/NV 2003, 1048).
b) Das Strafverfahren gegen die Zeugin S wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung wurde am 23. August 2000 nach § 153 der Strafprozessordnung eingestellt. Das FG konnte daher die Aussage der Zeugin vom 30. Oktober 1998 und somit nahezu zwei Jahre zuvor ohne Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten wegen der möglichen Gefahr eigener Strafverfolgung für besonders glaubhaft halten.
c) Entsprechend dem gekürzten Vernehmungsprotokoll der Zeugin S vom 30. Oktober 1998 wurde auch das vom FG im Tatbestand des Urteils genannte Vernehmungsprotokoll des Zeugen B vom 26. November 1998 um die Namen und Erkenntnisse zu weiteren Kunden des Zeugen H bereinigt. Soweit die Kläger insoweit rügen, das FG habe nicht berücksichtigt, dass der Zeuge B zu einer Vielzahl von Kunden konkret angegeben habe, diese hätten Lieferungen ohne Rechnung erhalten, den Kläger habe der Zeuge B jedoch nur als Rechnungskunden bezeichnet, machen sie keinen Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten geltend, sondern rügen wiederum lediglich eine fehlerhafte Beweiswürdigung durch das Gericht. Davon geht im Übrigen auch die Beschwerdebegründung unter III.8.i) aus. Einwände gegen die Beweiswürdigung und damit gegen die sachliche Richtigkeit des Urteils bilden jedoch keinen Zulassungsgrund nach § 115 Abs. 2 FGO.
4. a) Das angefochtene Urteil ist auch keine Überraschungsentscheidung. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH liegt eine Überraschungsentscheidung und damit ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste (BFH-Beschluss vom 7. Dezember 2005 I B 90/05, BFH/NV 2006, 601, m.w.N.). Der Anspruch auf rechtliches Gehör und die richterliche Hinweispflicht des § 76 Abs. 2 FGO verlangen jedoch nicht, dass das Gericht die maßgebenden Rechtsfragen mit den Beteiligten umfassend erörtert oder sogar die einzelnen für die Entscheidung erheblichen (rechtlichen oder tatsächlichen) Gesichtspunkte im Voraus andeutet (BFH-Beschluss in BFH/NV 2006, 601).
b) Im Streitfall war die einzig streitige Frage die Zulässigkeit und ggf. die Höhe einer Hinzuschätzung. Diese war Gegenstand der Beweisaufnahme. Nach Abschluss der Zeugeneinvernahme hatten die Beteiligten Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen. Zudem hat das Gericht in der mündlichen Verhandlung vom 15. März 2006 --was auch die Kläger in der Beschwerdebegründung einräumen-- darauf hingewiesen, eine Hinzuschätzung komme in Höhe eines Drittels des gebuchten Wareneinsatzes in Betracht. Entgegen der Ansicht der Kläger war das FG nicht verpflichtet, die Beteiligten vor Erlass des Urteils darüber zu unterrichten, welche Bedeutung es den Aussagen der Zeugen B und S in der mündlichen Verhandlung beimisst.
5. Hinsichtlich der behaupteten Divergenz müssen sich die Kläger entgegenhalten lassen, dass eine Abweichung nur vorliegen kann, wenn das angefochtene Urteil und die behauptete Divergenzentscheidung dieselbe Rechtsfrage unterschiedlich beantwortet haben. Daran fehlt es im Streitfall. Weder das BGH-Urteil in NJW 1995, 2856 noch die Entscheidung in NJW 1991, 1180 haben sich mit der Frage befasst, ob die Glaubwürdigkeit von Zeugen, die es selbst gehört hat, anhand früherer Vernehmungsprotokolle beurteilt werden kann. Im Urteil in NJW 1995, 2856 kam der BGH vielmehr zu dem Ergebnis, dass das Berufungsgericht frühere Vernehmungsniederschriften nicht wie Zeugenaussagen im anhängigen Verfahren behandeln und Zeugen ohne eigene Vernehmung für persönlich glaubwürdig halten dürfe. In dem der Entscheidung in NJW 1991, 1180 zugrunde liegenden Fall hatte ein am Urteil mitwirkender Richter nicht an der Zeugenvernehmung teilgenommen und das Berufungsgericht hatte dennoch den persönlichen Eindruck eines Zeugen, der im Verhandlungsprotokoll keinen Niederschlag gefunden hatte, seiner Entscheidung zugrunde gelegt.
6. Der Zulassungsgrund der Erforderlichkeit einer Entscheidung des BFH zur Fortbildung des Rechts verlangt, dass über bisher ungeklärte Rechtsfragen zu entscheiden ist. Davon ist auszugehen, wenn der Streitfall Veranlassung gibt, Grundsätze zur Auslegung des Gesetzes aufzustellen oder Gesetzeslücken rechtsschöpferisch auszufüllen (Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 115 FGO Rz 147). Die Rechtsfortbildung muss über den entschiedenen Einzelfall hinaus im allgemeinen Interesse liegen und die Frage nach dem Ob und Wie der Rechtsfortbildung muss klärungsbedürftig sein (BFH-Beschluss vom 12. Dezember 2001 III B 103/01, BFH/NV 2002, 652). Daran fehlt es u.a., wenn die Rechtsfrage eindeutig in einem bestimmten Sinn zu beantworten ist (Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rz 28, m.w.N.). Bezüglich der Anforderungen an die schlüssige Darlegung dieses Zulassungsgrundes gelten die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) entwickelten Grundsätze sinngemäß (Gräber/Ruban, a.a.O., § 116 Rz 38).
Die von den Klägern aufgeworfene Rechtsfrage, "ob das Gericht in seinem Urteil Äußerungen als festgestellt zugrunde legen darf, die aus dem gerichtlichen Protokoll der Vernehmung nicht hervorgehen", ist durch die Rechtsprechung bereits geklärt. Danach müssen die für die Beweiswürdigung maßgeblichen Tatsachen nicht ausnahmslos in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung enthalten sein. Tatsächliche Feststellungen können sich auch im Tatbestand des FG-Urteils, in den Entscheidungsgründen und in Schriftstücken finden, auf die das FG-Urteil ausdrücklich Bezug nimmt (vgl. z.B. BFH-Urteile in BFHE 136, 252, BStBl II 1982, 700, und in BFHE 206, 58). Anderes gilt nur, wenn das erkennende Gericht die Beweisaufnahme nicht selbst durchgeführt hat, sondern diese von einem beauftragten oder ersuchten Richter durchgeführt wurde, bzw. ein am Urteil mitwirkender Richter nicht an der Beweisaufnahme teilgenommen hat.
Fundstellen
Haufe-Index 1712797 |
BFH/NV 2007, 962 |