Entscheidungsstichwort (Thema)
Prozesszinsen; Festsetzungsfrist; Verschulden des FA; Verfahrensautonomie; Äquivalenzgrundsatz; Effektivitätsgrundsatz; Aussetzung des Beschwerdeverfahrens
Leitsatz (NV)
1. Ein Verschulden der Finanzbehörde führt im Regelfall nicht dazu, einen Zinsbescheid nach Ablauf der Festsetzungsfrist zu ändern.
2. Die für Prozesszinsen geltende Festsetzungsfrist des § 239 Abs. 1 Nr. 4 AO verstößt weder gegen den Äquivalenz- noch gegen den Effektivitätsgrundsatz.
3. Eine Aussetzung des Beschwerdeverfahrens zur Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens kommt nicht in Betracht.
Normenkette
FGO §§ 74, 115 Abs. 2 Nr. 1; AO §§ 233, 236, 239; GG Art. 34; BGB § 839
Verfahrensgang
FG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 13.11.2014; Aktenzeichen 5 K 5137/12) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. November 2014 5 K 5137/12 wird als unbegründet zurückgewiesen. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Gründe
Rz. 1
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ist unbegründet.
Rz. 2
1. Die von der Klägerin aufgeworfene Rechtsfrage, „ob die kurze, einjährige Verjährungsfrist des § 239 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AO angewandt werden darf, wenn die Behörde falsch gehandelt hat”, hat keine grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–).
Rz. 3
a) Eine Rechtsfrage hat grundsätzliche Bedeutung i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO, wenn ihre Beantwortung durch den Bundesfinanzhof (BFH) aus Gründen der Rechtssicherheit, der Rechtsklarheit oder der Rechtsentwicklung im allgemeinen Interesse liegt. Dabei muss es sich um eine aus rechtssystematischen Gründen bedeutsame Frage handeln, die klärungsbedürftig und im zu erwartenden Revisionsverfahren klärungsfähig, d.h. entscheidungserheblich ist. Eine Rechtsfrage ist dann nicht klärungsbedürftig, wenn sie sich –wie hier– anhand des Gesetzes und der vorhandenen Rechtsprechung beantworten lässt und keine neuen Gesichtspunkte erkennbar sind, die eine erneute Prüfung und Entscheidung durch den BFH geboten erscheinen lassen (vgl. BFH-Beschluss vom 1. April 2011 XI B 75/10, BFH/NV 2011, 1372, m.w.N.).
Rz. 4
b) Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis werden nur verzinst, soweit dies gesetzlich vorgeschrieben ist (§ 233 Satz 1 der Abgabenordnung –AO–). Wird durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder auf Grund einer solchen Entscheidung eine festgesetzte Steuer herabgesetzt oder eine Steuervergütung gewährt, so ist der zu erstattende oder zu vergütende Betrag nach § 236 Abs. 1 AO vom Tag der Rechtshängigkeit an bis zum Auszahlungstag zu verzinsen. Absatz 1 ist entsprechend anzuwenden, wenn sich der Rechtsstreit –wie im Streitfall– durch Änderung des angefochtenen Verwaltungsaktes erledigt hat. Auf Zinsen und damit auch Prozesszinsen sind die für Steuern geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden, jedoch beträgt die Festsetzungsfrist ein Jahr (§ 239 Abs. 1 Satz 1 AO). Die Festsetzungsfrist beginnt in den Fällen des § 236 AO mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer erstattet worden ist (§ 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO). Im Streitfall ist daher, wie das FG in dem angefochtenen Urteil zu Recht festgestellt hat, der Anspruch auf Prozesszinsen im Kalenderjahr 2006 entstanden und mit Ablauf des 31. Dezember 2007 durch Verjährung erloschen (§ 47 AO).
Rz. 5
c) Durch die Rechtsprechung des BFH ist bereits geklärt, dass die Festsetzungsverjährung auch dann eintritt, wenn die Behörde „falsch” (im Sinne von verschuldet) gehandelt hat.
Rz. 6
aa) Ein Verschulden des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt –FA–) führt im Regelfall nicht dazu, dass ein Steuerbescheid nach Eintritt der Festsetzungsverjährung noch zugunsten des Steuerpflichtigen zu ändern ist (BFH-Urteil vom 19. August 1999 III R 57/98, BFHE 191, 198, BStBl II 2000, 330). Der Sinn und Zweck von Verjährungsvorschriften liegt gerade darin, Rechtsfrieden unabhängig davon eintreten zu lassen, ob die Behörde eine Entscheidung rechtsfehlerhaft getroffen oder unterlassen hat. Ob dies ausnahmsweise anders sein kann, wenn das FA durch eigenes aktives Tun einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat, konnte in dem BFH-Urteil in BFHE 191, 198, BStBl II 2000, 330, Rz 12 a.E. offen bleiben, da ein solcher Fall nicht vorlag.
Rz. 7
bb) Da auf Zinsen die für die Steuern geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden sind (§ 239 Abs. 1 Satz 1 AO), führt auch ein Verschulden des FA bei der Nichtfestsetzung von Zinsen grundsätzlich nicht dazu, dass zugunsten des Steuerpflichtigen nach Ablauf der Festsetzungsverjährung noch ein Zinsbescheid zu erlassen ist. Ein Ausnahmefall im Sinne der o.g. BFH-Rechtsprechung ist vorliegend ausgeschlossen, da die Finanzverwaltung nicht durch aktives Tun einen Vertrauenstatbestand beim Steuerpflichtigen geschaffen hat, dass rechtzeitig vor Ablauf der Festsetzungsfrist ein Zinsbescheid erlassen werde. Vielmehr ist die Festsetzungsfrist abgelaufen, weil das FA überhaupt nicht „aktiv” tätig geworden ist. Anhaltspunkte dafür, dass es vor Ablauf der Festsetzungsfrist Zinsen festsetzen werde, sind weder von der Klägerin dargelegt worden noch aus den Akten ersichtlich.
Rz. 8
d) Ob die unterlassene Festsetzung von Prozesszinsen im Hinblick auf die –eine Festsetzung von Amts wegen regelnde– Verwaltungsanweisung in § 236 Nr. 6 des Anwendungserlasses zur Abgabenordnung einen Anspruch der Klägerin aus Amtshaftung wegen schuldhafter Amtspflichtverletzung nach § 839 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) i.V.m. Art. 34 des Grundgesetzes (GG) begründet, wäre in einem Revisionsverfahren nicht klärbar. Abgesehen davon, dass für die Geltendmachung eines derartigen Anspruchs nicht die Finanzgerichtsbarkeit, sondern die ordentlichen Gerichte (Landgerichte) zuständig sind (Art. 34 Satz 3 GG i.V.m. § 71 Abs. 2 Nr. 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes), ist ein Amtshaftungsanspruch als eine auf den Staat übergeleitete Beamtenhaftung nur auf Geldersatz gerichtet und nicht auf Naturalrestitution durch Vornahme oder Unterlassen einer Amtshandlung (BFH-Beschluss vom 19. September 2008 IX B 108/08, juris unter Hinweis auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 22. Mai 2003 III ZR 32/02, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2003, 1285). Die Bejahung eines Amtshaftungsanspruchs hätte somit nicht zur Folge, dass die gesetzlichen Vorschriften zur Festsetzungsverjährung außer Kraft gesetzt werden und ein Zinsbescheid zu erlassen wäre. Im Übrigen wäre zu berücksichtigen, dass die Ersatzpflicht nicht eintritt, wenn der Verletzte vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, den Schaden durch Gebrauch eines „Rechtsmittels” abzuwenden (§ 839 Abs. 3 BGB). Rechtsmittel in diesem Sinne sind nicht nur die Rechtsmittel im technischen Sinne. Der Begriff der Rechtsmittel ist hier vielmehr weit zu fassen, es sind alle Rechtsbehelfe darunter zu verstehen, die sich unmittelbar gegen die schädigende Amtshandlung oder ihr Unterlassen richten und die ihre Beseitigung bezwecken und ermöglichen. Demgemäß ist auch schon die einfache Nachfrage bei der zuständigen Behörde oder bei Unterlassungen –ein Antrag auf Tätigwerden der Behörde– ein „Rechtsmittel” im Sinne der erläuterten Vorschrift (vgl. Oberlandesgericht Düsseldorf, Urteil vom 2. Dezember 1993 18 U 92/93, Neue Juristische Wochenschrift-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht 1995, 13). Für einen Antrag oder eine Nachfrage bei der zuständigen Finanzbehörde besteht jedenfalls dann Anlass, wenn diese auch mehrere Monate nach Erlass der Änderungsbescheide und Erstattung der Umsatzsteuer noch keine Festsetzung von Prozesszinsen vornimmt.
Rz. 9
2. Eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung kommt auch nicht insoweit in Betracht, als die Klägerin die Frage aufwirft, „ob diese Frist auf einen unionsrechtlichen Erstattungsanspruch angewendet werden darf”.
Rz. 10
a) Diese Frage ist nicht klärungsbedürftig, da sie offensichtlich so zu beantworten ist, wie es das FG getan hat, die Rechtslage also eindeutig ist und nicht (erst) in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Beschlüsse vom 22. Juli 2011 V B 88/10, BFH/NV 2011, 1919; vom 6. Mai 2004 V B 101/03, BFHE 205, 416, BStBl II 2004, 748, sowie vom 3. April 2012 V B 130/11, BFH/NV 2012, 1136).
Rz. 11
b) Der Vorschrift über die Festsetzung der Zinsen in § 239 AO kommt rein verfahrensrechtliche Bedeutung zu (vgl. Rüsken in Klein, Kommentar zur AO, § 239 Rz 1; Kögel in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 239 Rz 6.1.). Auf dem Gebiet des Verfahrensrechts fehlen unionsrechtliche Vorschriften, sodass die Ausgestaltung des Verfahrensrechts grundsätzlich Sache der einzelnen Mitgliedstaaten ist (Grundsatz der Verfahrensautonomie). Diese haben dabei allerdings den Effektivitätsgrundsatz sowie das Äquivalenzprinzip zu beachten (vgl. zuletzt Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union –EuGH– vom 12. Februar 2015 C-662/13, Surgicare/Unidades de Saúde SA, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2015, 422, Rz 26, m.w.N.). Das FG hat zu Recht entschieden, dass die Ausgestaltung der Festsetzungsfrist für Prozesszinsen in § 239 AO nicht gegen diese unionsrechtlichen Grundsätze verstößt:
Rz. 12
aa) Ein Verstoß der nationalen Verjährungsvorschrift gegen den Äquivalenzgrundsatz (vgl. hierzu EuGH-Urteil vom 19. Juli 2012, C-591/10, Littlewoods Retail, EU:C:2012:478, Umsatzsteuer-Rundschau –UR– 2012, 772, Rz 31) liegt schon deshalb nicht vor, weil § 239 AO in gleicher Weise für Erstattungsansprüche gilt, die sich aus nationalem Recht ergeben wie auch für Erstattungsansprüche, die sich –wie im Streitfall– unter Berufung auf das Unionsrecht ergeben.
Rz. 13
bb) Zum Effektivitätsgrundsatz hat der EuGH entschieden, dass die Festlegung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit, die zugleich den Abgabepflichtigen und die Behörde schützt, mit dem Unionsrecht vereinbar ist, und dass solche Fristen nicht geeignet sind, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren (EuGH-Urteil vom 15. Dezember 2011 C-427/10, Banca Antoniana Popolare Veneta, EU:C:2011:844, UR 2012, 184, Rz 24). Dem entsprechend hat der Senat im Urteil vom 28. August 2014 V R 8/14 (BFHE 247, 21, BStBl II 2015, 3) erkannt, dass die für Steueransprüche geltende Verjährungsfrist des § 169 Abs. 2 Nr. 1 AO vorgesehene Festsetzungsfrist nicht gegen das Effektivitätsprinzip verstößt.
Rz. 14
cc) Der Streitfall betrifft nicht die Verjährung von Steueransprüchen, da es sich bei den Prozesszinsen lediglich um steuerliche Nebenleistungen (§ 3 Abs. 4 AO) handelt. Es ist daher bereits fraglich, ob es sich bei diesen um „durch die Unionsordnung verliehene Rechte” handelt. Jedenfalls ist weder von der Klägerin dargelegt worden noch für den Senat ersichtlich, dass die Geltendmachung von Prozesszinsen durch eine Verjährungsfrist von einem Jahr, die zudem erst mit Ablauf des Kalenderjahres beginnt, in dem die Steuer erstattet oder ausgezahlt worden ist (§ 239 Abs. 1 Nr. 4 AO), praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert würde.
Rz. 15
3. Der Senat ist nicht durch den –vorsorglich gestellten– Antrag auf Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO an einer Entscheidung über die Beschwerde gehindert. Eine Aussetzung des Beschwerdeverfahrens entsprechend § 74 FGO zur Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH kommt nach ständiger Rechtsprechung des BFH nicht in Betracht (BFH-Beschlüsse vom 6. Juni 2003 III B 98/02, BFH/NV 2003, 1214; vom 14. Mai 2002 VII B 76/01, nicht veröffentlicht, sowie vom 29. Oktober 1998 V B 87/98, BFH/NV 1999, 681). Im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ist nur über den Zugang zum BFH zu entscheiden, erst in einem anschließenden Revisionsverfahren wird dann über die Vorlagepflicht nach den dafür maßgebenden Kriterien entschieden.
Rz. 16
4. Von der Darstellung des Sachverhalts und einer weiteren Begründung wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO abgesehen.
Rz. 17
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
Fundstellen
Haufe-Index 8674727 |
BFH/NV 2016, 7 |