Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahren nach § 94 a FGO; inhaltliche Überprüfung eines Steuerbescheids im Billigkeitsverfahren
Leitsatz (NV)
1. Übersendet das FG dem Klägervertreter den formularmäßigen Vordruck "Kurzmitteilung", ohne in diesem die Frage anzukreuzen, ob auf mündliche Verhandlung verzichtet wird, so kann in der Nichtäußerung des Klägervertreters zu dieser Frage keinesfalls eine konkludente Antragstellung auf mündliche Verhandlung gesehen werden.
2. Das FG überschreitet die Grenze billigen Ermessens nicht, wenn es knapp zwei Monate nach Abtrennung eines Klageverfahrens von weiteren Verfahren, deren Streitwert insgesamt den Betrag von 1 000 DM überschritt, ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet, ohne die Beteiligten zuvor auf diese Möglichkeit hingewiesen zu haben.
3. Verneint das FG die Voraussetzungen für einen Billigkeitserlaß u. a. bereits deswegen, weil -- entgegen der Auffassung des Klägers -- eine bestimmte allgemeine Verwaltungsanweisung keine Billigkeitsregelung enthalte, so weicht es damit nicht von der BFH-Rechtsprechung ab, nach der allgemeine Billigkeitsregelungen der Verwaltung im Anfechtungsverfahren gegen den Steuerbescheid nicht zu berücksichtigen sind.
Normenkette
AO 1977 §§ 163, 227; FGO §§ 94a, 115 Abs. 2 Nr. 2
Tatbestand
Durch notariell beurkundeten Vertrag vom 11. Dezember 1984 erwarb die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) zusammen mit ihrem Ehemann je zur Hälfte einen Miteigentumsanteil an einem Grundstück, verbunden mit dem Sondereigentum an einer bestimmten Wohnung. Der Erwerb erfolgte im Rahmen eines sog. Erwerbermodells.
Durch Bescheid vom 10. Juli 1985 setzte der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt -- FA --) gegen die Klägerin Grunderwerbsteuer in Höhe von 1 108 DM fest. Dabei bezog das FA in die Bemessungsgrundlage den Gesamtaufwand lt. dem Geschäftsbesorgungsvertrag sowie Beratungs- und Bearbeitungshonorar, Notar- und Grundbuchkosten und Grunderwerbsteuer ein. Hiergegen richtete sich der Einspruch. Im Hinblick auf den Beschluß des Senats vom 18. September 1985 (BStBl II 1985, 687) ließ der Beklagte das Einspruchsverfahren zunächst ruhen. Nach Veröffentlichung des Senatsurteils vom 19. Juli 1989 (BStBl II 1989, 685) und des an dieses Urteil angepaßten ländereinheitlichen Erlasses des Finanzministeriums Baden-Württemberg vom 30. November 1989 S 4521 A -- 10/83 wurde das Verfahren wieder aufgenommen. Nunmehr beantragte die Klägerin, aus der vom FA angenommenen Bemessungsgrundlage einige Gebührenpositionen auszuscheiden. Dieses Begehren wurde mit der Einspruchsentscheidung vom 14. Dezember 1990 als unbegründet abgelehnt. Die Einspruchsentscheidung wurde bestandskräftig.
Die Klägerin und andere Erwerber aus dem Erwerbermodell beantragten am 8. März/15. Juli 1991 eine teilweise abweichende Festsetzung der Grunderwerbsteuer aus sachlichen Billigkeitsgründen nach § 163 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977). Zur Begründung beriefen sie sich auf den angegebenen Erlaß des Finanzministeriums Baden-Württemberg.
Das FA lehnte diese Anträge durch Verwaltungsakt vom 19. Juli 1991 ab. Die hiergegen eingelegten Beschwerden wurden von der Oberfinanzdirektion (OFD) mit Entscheidung vom 19. November 1992 als unbegründet zurückgewiesen.
Hiergegen richteten sich gemeinsame Klagen der Klägerin und zahlreicher anderer Erwerber aus demselben Erwerbermodell. Der Streitwert aller dieser Klagen betrug 13 175 DM. Der auf die Klägerin entfallende Streitwert betrug 80 DM. Durch Schreiben vom 22. Juli 1993 erklärte sich der Prozeßbevollmächtigte der Kläger damit einverstanden, daß das Verfahren der Klägerin zur Entscheidung komme und das Verfahren der anderen Erwerber bis zu einer endgültigen Entscheidung ruhe. Durch Beschluß vom 20. Dezember 1993, zugestellt am 31. Dezember 1993, trennte das Finanzgericht (FG) das Verfahren der Klägerin ab.
Durch Urteil vom 23. Februar 1994 hat das FG die Klage abgewiesen. Bestandskräftig festgesetzte Steuern könnten nur dann im Billigkeitsverfahren sachlich überprüft werden, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig sei und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar gewesen sei, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren. Diese Voraussetzung sei im Streitfall nicht gegeben. Auch aus dem ländereinheitlichen Erlaß des Finanzministeriums Baden-Württemberg vom 30. November 1989 ergebe sich keine Verpflichtung des FA zur niedrigeren Festsetzung der Grunderwerbsteuer. Dieser Erlaß enthalte keine Übergangs- und Billigkeitsregelung. Vielmehr stelle der Erlaß eine zutreffende Wiedergabe der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) dar, ohne einen darüber hinausgehenden eigenständigen Regelungsgehalt zu entfalten. Das FG entschied ohne mündliche Verhandlung, da der Streitwert den Betrag von 1 000 DM nicht übersteige und Antrag auf mündliche Verhandlung nicht gestellt worden sei (§ 94 a der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Die Entscheidung des FG enthält keinen Ausspruch über die Zulassung der Revision.
Hiergegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin. Mit dieser macht sie einen Verfahrensmangel und zwei Abweichungen von Entscheidungen des BFH als Zulassungsgründe geltend.
Entscheidungsgründe
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unbegründet, da ein Grund zur Zulassung der Revision die i. S. von § 115 Abs. 2 FGO nicht gegeben ist.
1. Der geltend gemachte Verfahrensmangel liegt nicht vor. Das FG konnte nach § 94 a FGO ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.
Nach dieser Vorschrift kann das Gericht sein Verfahren nach billigem Ermessen bestimmen, wenn der Streitwert bei einer Klage, die eine Geldleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 1 000 DM nicht übersteigt. Auf Antrag eines Beteiligten muß mündlich verhandelt werden. Die Voraussetzungen nach dieser Vorschrift für eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung sind im Streitfall erfüllt. Der Streitwert liegt (deutlich) unter 1 000 DM. Die Tatsache, daß die Klage ursprünglich subjektiv mit anderen Klageverfahren verbunden war, die insgesamt einen höheren Streitwert als 1 000 DM besaßen, ist insoweit ohne Bedeutung. Nach der Abtrennung des Klageverfahrens durch Beschluß des FG ist nur noch der Streitwert des abgetrennten Verfahrens für die Beurteilung nach § 94 a FGO maßgeblich.
Einen Antrag auf mündliche Verhandlung hat die Klägerin nicht gestellt. Eine ausdrückliche Antragstellung wird von der Klägerin nicht behauptet. Sie hat auch nicht konkludent einen entsprechenden Antrag gestellt. Entgegen der Auffassung der Klägerin kann eine konkludente Antragstellung auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht bereits darin gesehen werden, daß sie sich im Laufe des Klageverfahrens zur Frage des Verzichts auf eine mündliche Verhandlung nicht geäußert hat. Ihre Nichtäußerung zu dieser Frage kann schon deswegen nicht als Antrag auf mündliche Verhandlung gewertet werden, da diese Frage der Klägerin vom FG gar nicht gestellt wurde. Die Klägerin trägt insoweit zwar vor, das Gericht habe ihr mehrfach den Vordruck "FGV5(S)" im Laufe des Klageverfahrens übersandt. Sie trägt aber nicht vor, daß die in diesem Vordruck "Kurzmitteilung" u. a. vorgesehene und enthaltene Bitte um Mitteilung, ob auf mündliche Verhandlung vor dem Senat verzichtet wird, in dem dafür bestimmten Feld vom FG auch angekreuzt war. Bei den von ihr in Bezug genommenen Mitteilungen vom 29. Oktober 1993 und vom 17. Februar 1993 war dies jedenfalls nicht der Fall. Damit war die Klägerin nicht um eine Mitteilung gebeten worden, ob sie auf mündliche Verhandlung verzichtet. Die fehlende Äußerung zu der gar nicht gestellten Frage kann keinesfalls als konkludente Antragstellung auf mündliche Verhandlung gewertet werden. Diese Sachverhaltsgestaltung ist auch nicht vergleichbar dem Fall, daß ein Beteiligter dem Gericht ausdrücklich mitteilt, auf eine mündliche Verhandlung nicht verzichten zu wollen (vgl. dazu BFH- Urteil vom 26. Juli 1991 VI R 100/90, BFH/NV 1992, 53 m. w. N.).
Die Entscheidung des FG, von der Möglichkeit nach § 94 a FGO Gebrauch zu machen und ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, überschreitet auch nicht die Grenzen billigen Ermessens. Das FG ist grundsätzlich nicht verpflichtet, die Beteiligten vor Erlaß des Urteils darauf hinzuweisen, daß es gemäß § 94 a FGO entscheiden wird (vgl. Koch in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 94 a Tz. 5 m. w. N.). Eine solche Verpflichtung des FG kann im Streitfall auch nicht daraus abgeleitet werden, daß das Klageverfahren offenbar nur deswegen von ursprünglich mit ihm verbundenen weiteren Verfahren abgetrennt wurde, um die Durchführung eines kostensparenden "Musterverfahrens" zu ermöglichen. Nach der erfolgten Abtrennung ist das Klageverfahren prozessual isoliert für sich zu betrachten. Der Klägerin stand ausreichende Zeit zur Verfügung, sich der prozessualen Lage nach der Abtrennung zu vergewissern und ggf. den Antrag auf mündliche Verhandlung zu stellen. Das Urteil ist erst knapp zwei Monate nach der Verfahrensabtrennung ergangen.
2. Das Urteil des FG weicht nicht ab i. S. von § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO von dem BFH- Beschluß vom 20. Dezember 1988 V B 11/87 (BFH/NV 1989, 607).
Diesem von der Klägerin angezogenen BFH-Beschluß läßt sich zwar der Rechtssatz entnehmen, daß eine von der Rechtsprechung (zugunsten des Steuerpflichtigen) abweichende Beurteilung durch die Verwaltung nur unter Billigkeitsgesichtspunkten bedeutsam sei und daß im Hinblick auf die Trennung von Verwaltungs- und Billigkeitsverfahren allgemeine Billigkeitsregelungen der Verwaltung im Anfechtungsverfahren gegen den Steuerbescheid nicht zu berücksichtigen sind. Entgegen der Auffassung der Klägerin hat das FG seiner Entscheidung jedoch keinen widersprechenden Rechtssatz zugrunde gelegt, ins besondere läßt sich dem FG-Urteil nicht entnehmen, daß -- wie die Klägerin meint -- das FG allgemein Billigkeitsverfahren nicht zulasse, wenn das Verwaltungsverfahren abgeschlossen sei. Nach Auffassung des FG können vielmehr Steuern, die bestandskräftig festgesetzt worden sind, dann im Billigkeitsverfahren sachlich überprüft werden, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren. Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen ist daher auch nach Auffassung des FG eine Überprüfung der sachlichen Richtigkeit eines Steuerbescheids im Billigkeitsverfahren zulässig. Ausschlaggebend ist, daß nach Auffassung des FG im Streitfall eine (gemeint ist: zugunsten der Klägerin von der Rechtsprechung) abweichende Billigkeitsregelung der Verwaltung nicht vorgelegen hat. Ob diese Beurteilung zutrifft, ist für die Frage des Vorliegens einer Divergenz unbeachtlich. Entscheidend ist, daß das FG damit keinen Rechtssatz aufgestellt hat, der zu einem Rechtssatz in der angezogenen BFH-Entscheidung in Widerspruch steht. Ein Anspruch auf eine Billigkeitsmaßnahme hätte auch nach dem angezogenen BFH-Beschluß allenfalls dann vorliegen können, wenn eine allgemeine Billigkeitsregelung der Verwaltung vorgelegen hätte, was im Streitfall nach Auffassung des FG jedoch gerade nicht der Fall war.
3. Das FG-Urteil weicht auch nicht ab i. S. von § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO von dem BFH- Urteil vom 2. März 1961 IV 126/60 U (BFHE 73, 53, BStBl III 1961, 288).
Das FG-Urteil geht vielmehr ausdrücklich und sinngemäß von der Rechtsauffassung dieses BFH-Urteils aus, daß die Überprüfung einer bestandskräftigen Steuerfestsetzung im Billigkeitsverfahren nur ausnahmsweise stattfinden könne, wenn hierfür besondere Gründe vorliegen. Dadurch, daß das FG im Streitfall das Vorliegen derartiger besonderer Gründe verneint hat, hat es keinen Rechtssatz aufgestellt, der im Widerspruch zu diesem BFH-Urteil steht. Insbesondere enthält das BFH-Urteil auch nicht -- wie die Klägerin meint -- den Rechtssatz, daß etwas Abweichendes dann gilt, wenn das Billigkeitsverfahren bereits vor Bestandskraft des Bescheids eingeleitet worden ist. Auch insoweit hat das FG daher keinen allgemeinen Rechtssatz im Widerspruch zu der BFH-Entscheidung aufgestellt.
Fundstellen