Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung, längere Abwesenheit von der Wohnung
Leitsatz (NV)
Hält sich ein Steuerpflichtiger längere Zeit nicht an seinem Wohnsitz auf, so entspricht es einem Gebot der prozessualen Sorgfaltspflicht, daß er Vorkehrungen trifft, um von Zustellungen, die Fristen in Lauf setzen, rechtzeitig Kenntnis zu erhalten. Zu diesen Vorkehrungen gehört die Stellung eines Nachsendeantrags (§ 58 Abs. 1 PostO) oder die Bestellung eines Zustellungsbevollmächtigten (§ 46 Abs. 1 PostO). Die Erteilung einer einfachen Postvollmacht, die u. U. nicht zur Inempfangnahme einer förmlichen Zustellung ausreicht, genügt dann nicht, wenn mit fristwahrenden Zustellungen gerechnet werden muß.
Normenkette
FGO § 56 Abs. 1
Tatbestand
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) erließ gegenüber der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) einen Duldungsbescheid, um die Zwangsvollstreckung in zwei Grundstücke betreiben zu können. Eigentümer der Grundstücke war der in Kanada lebende Sohn der Klägerin, für den beim FA Abgabenschulden bestanden. Für die Klägerin waren an den Grundstücken Nießbrauchsrechte bestellt.
Das FA ließ den Duldungsbescheid an die inländische Wohnsitzadresse der Klägerin versenden, wo er durch Niederlegung zugestellt wurde. Zu diesem Zeitpunkt hielt sich die Klägerin bereits seit längerem bei ihrem Sohn in Kanada auf. Unter dessen Anschrift legte sie nach Kenntniserlangung von der Niederlegung Einspruch ein, den das FA wegen Versäumung der Einspruchsfrist zurückwies. Den Einspruchsbescheid ließ das FA der Klägerin in Kanada durch das dortige Generalkonsulat zustellen. Die dagegen gerichtete Klage erhob die Klägerin von Kanada aus.
Zur Versäumung der Einspruchsfrist trug sie vor, sie habe einer Nachbarin Postvollmacht erteilt. Etwaige Post werde ihr stets nach Kanada nachgesandt. Allerdings habe das Postamt die Aushändigung des niedergelegten Duldungsbescheids an die Nachbarin verweigert mit der Begründung, das Postamt müsse schriftlich um Nachsendung des niedergelegten Schriftstücks ersucht werden. Dies habe sie umgehend getan.
Die Klageerwiderung des FA übersandte das Finanzgericht (FG) der Klägerin an ihre in der Klageschrift angegebene kanadische Adresse.
Das FG erließ sodann einen Beschluß, in dem der Klägerin aufgegeben wurde, für das weitere Verfahren einen Prozeßbevollmächtigten im Geltungsbereich der Finanzgerichtsordnung (FGO) zu bestellen. Es begründete diese Entscheidung mit der Besorgnis, der Sohn der Klägerin, der die Schriftsätze unterschriftsreif vorbereitet habe, verhindere einen sachgerechten Fortgang des Verfahrens. Dieser dürfe sich aufgrund eines Beschlusses des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 14. November 1988 IV B 77/88 in seinem eigenen Verfahren nicht mehr selbst vertreten, weshalb die Bestellung eines neutralen Bevollmächtigten angezeigt sei.
Das FG ließ diesen Beschluß an die inländische Wohnsitzadresse der Klägerin versenden. Dort wurde er am 6. Februar 1989 durch Niederlegung zugestellt. Mit Schreiben vom 31. März 1989, beim FG am 4. April 1989 eingegangen, legte die Klägerin - nunmehr durch einen Bevollmächtigten vertreten - Beschwerde ein, die sie wie folgt begründet:
Sie sei 87 Jahre alt und halte sich seit 1987 bei ihrem Sohn in Kanada auf, weil sie in Deutschland keine weiteren Angehörigen habe. Diese Umstände habe sie sowohl dem FA im Einspruchsverfahren als auch dem FG in ihrer Klageschrift mitgeteilt.
In Kenntnis dieses Sachverhalts habe das FG auf ausdrückliche Weisung des Vorsitzenden Richters den angefochtenen Beschluß an ihre inländische Adresse, unter der sie weiterhin gemeldet sei, zustellen lassen, ohne daß ihr vorher angekündigt worden sei, daß das FG nicht mehr - wie bisher geschehen - mit ihr unter der kanadischen Adresse korrespondieren wolle.
Der Entzug der Postulationsfähigkeit verstoße gegen Art. 3 Abs. 1, Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) sowie gegen Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention, denn die Tatsache, daß ihr Sohn die Schriftsätze ausarbeite, rechtfertige eine derartige Sanktion nicht.
Mit ihrer Beschwerde hat die Klägerin einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist gestellt.
Die Klägerin beantragt, den Beschluß über die Bestellung eines Prozeßbevollmächtigten aufzuheben.
Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist wegen Versäumung der Beschwerdefrist unzulässig.
Nach § 129 Abs. 1 FGO ist die Beschwerde (§ 128 Abs. 1 FGO) zwei Wochen nach Bekanntgabe der Entscheidung einzulegen. Diese Frist wurde durch die Ersatzzustellung (Niederlegung, § 11 Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes - VwZG - i. V. m. § 53 Abs. 2 FGO) in Lauf gesetzt und lief am 20. Februar 1989, einem Montag, ab. Die am 4. April 1989 beim FG eingegangene Beschwerde war deshalb verspätet.
Der Klägerin kann wegen Versäumung der Beschwerdefrist keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Eine Wiedereinsetzung findet nach § 56 Abs. 1 FGO nur statt, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Eine Fristversäumnis ist als entschuldigt anzusehen, wenn sie durch die äußerste, den Umständen des Falles angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhindert werden konnte (BFH-Urteile vom 8. Oktober 1981 IV R 108/81, BFHE 134, 388, BStBl II 1982, 165, und vom 14. April 1976 VI R 43-45/75, BFHE 119, 208, BStBl II 1976, 624). Diese Sorgfalt hat die Klägerin nicht angewendet.
Der Klägerin ist unter Beachtung der im Streitfall gebotenen Sorgfalt jedenfalls als Verschulden anzurechnen, daß sie insbesondere nach den Erfahrungen mit der Zustellung des angefochtenen Duldungsbescheids durch das FA vor oder mit Klageerhebung keinen inländischen Zustellungsbevollmächtigten bestellt hatte, was dazu geführt hat, daß sie durch die verspätete Kenntnisnahme von dem Beschluß des FG die Beschwerdefrist nicht einhalten konnte.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und die obersten Gerichtshöfe des Bundes vertreten in ihrer Rechtsprechung die Auffassung, daß es einem Gebot der prozessualen Sorgfaltspflicht entsprechen kann, bei längerer Abwesenheit Vorkehrungen zu treffen, daß man von Zustellungen, die Fristen in Lauf setzen, Kenntnis erhält und die Fristen wahrt. Das trifft insbesondere für Personen zu, die sich oft oder länger auf Geschäfts- oder Dienstreisen befinden und bei denen die Abwesenheit von der Wohnung zur Regel wird (BVerfG-Beschluß vom 11. Februar 1976 2 BvR 849/75, BVerfGE 41, 332, 336 f.; BFH-Urteil vom 17. November 1970 II R 121/70, BFHE 100, 490, BStBl II 1971, 143). Diesen Personen ist es zuzumuten, sich bei der Reisevorbereitung auch darauf einzustellen, daß sie von fristauslösenden Zustellungen während ihrer Abwesenheit von der Wohnung Kenntnis erhalten und das zur Fristwahrung Erforderliche veranlassen, ohne daß es darauf ankäme, ob sie im Einzelfall mit solchen Zustellungen rechnen mußten. Abgesehen hiervon können, wenn während einer mehrwöchigen Abwesenheit von der Wohnung im Einzelfall mit einer fristauslösenden Zustellung konkret zu rechnen ist, zumutbare Vorkehrungen erwartet werden, damit prozessuale Fristen, deren Ablauf in der Zwischenzeit zu befürchten ist, eingehalten werden können (Beschlüsse des Bundesgerichtshofs vom 1. Dezember 1978 I ZB 9/78, Versicherungsrecht - VersR - 1979, 231; vom 7. März 1979 IV ZB 162/78, VersR 1979, 573; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. April 1975 VI C 231.73, Monatsschrift für Deutsches Recht 1975, 868).
Bei der Klägerin war infolge ihres hohen Alters und der Tatsache, daß sie in der Bundesrepublik Deutschland keine weiteren Angehörigen hat, ihre Anwesenheit in ihrer inländischen Wohnung zur Ausnahme geworden. Sie hielt sich nach ihrem eigenen Vortrag bereits seit 1987 bei ihrem Sohn in Kanada auf und beabsichtigte erkennbar, sich zumindest noch über einen längeren Zeitraum bei ihrem Sohn aufzuhalten. Unter diesen Umständen reichte es nicht aus, daß die Klägerin einer Nachbarin Postvollmacht erteilte, die aber offensichtlich nicht zur Inempfangnahme von förmlichen Zustellungen berechtigte. Die Klägerin hätte vielmehr Vorsorge dafür treffen müssen, daß sie von amtlichen Zustellungen auch in Kanada rechtzeitig Kenntnis erhielt. Dazu bot sich grundsätzlich ein Antrag nach § 58 Abs. 1 der Postordnung - PostO - (BGBl I 1963, 341, 351) auf Nachsendung der für sie bestimmten Postsendungen oder die Bestellung eines Postbevollmächtigten nach § 46 Abs. 1 PostO an, der auch zur Inempfangnahme von förmlich zugestellten Sendungen berechtigt gewesen wäre (§ 46 Abs. 2 PostO). Aufgrund der besonders langen Postlaufzeiten von Briefsendungen nach Kanada hätte im Fall der Klägerin insbesondere die Bestellung eines inländischen Zustellungsbevollmächtigten nahegelegen.
Die Notwendigkeit der Benennung einer derart bevollmächtigten Person hätte sich der Klägerin schon aufgrund ihrer Erfahrung mit der Zustellung des angefochtenen Duldungsbescheids durch das FA aufdrängen müssen. Spätestens jedoch mit der Erhebung der Klage beim FG wäre es zur Erfüllung der prozessualen Sorgfaltspflicht geboten gewesen, einen inländischen Zustellungsbevollmächtigten zu bestellen, denn die Klägerin mußte nach Klageerhebung mit fristauslösenden förmlichen Zustellungen im Verlauf des Klageverfahrens rechnen. Auf die zeitlich später liegende Zustellungspraxis des FG kommt es daher für die Entscheidung über die Frage des Verschuldens der Klägerin nicht mehr an.
Fundstellen