Entscheidungsstichwort (Thema)
Aussetzung der Vollziehung - Zuständigkeit des BFH als ,,Gericht der Hauptsache"; vorangegangene Ablehnung des Aussetzungsbegehrens durch FA; Kosten einer Behandlung durch die Scientology Kirche; zur Aussetzung der Vollziehung bei festgestellter Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes
Leitsatz (NV)
1. Hat der Kläger Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision eingelegt, so entscheidet der BFH über einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung als ,,Gericht der Hauptsache".
2. Die besondere Zugangsvoraussetzung des Art. 3 § 7 Abs. 1 VGFGEntlG ist auch erfüllt, wenn das FA den Antrag nach § 69 Abs. 2 FGO mündlich ablehnt; einer Darlegung dieser Zugangsvoraussetzung durch den Kläger bedarf es nicht, wenn das FA die Antragsablehnung dem Gericht mitgeteilt hat.
3. Die Frage, ob Aufwendungen für eine Behandlung durch die Mitglieder der Scientology Kirche als außergewöhnliche Belastung abziehbar sind, ist nicht ernstlich zweifelhaft.
4. Einer Aussetzung der Vollziehung kann auch dann ein überwiegendes öffentliches Interesse entgegenstehen, wenn der Steuerbescheid auf einer vom BVerfG für verfassungswidrig erklärten Norm beruht und unklar ist, in welcher Weise der Gesetzgeber die festgestellte Verfassungswidrigkeit behebt.
Normenkette
FGO § 69 Abs. 3 S. 1; VGFGEntlG Art. 3 § 7 Abs. 1; EStG 1983 § 32 Abs. 8, § 33
Tatbestand
Die Antragsteller, Kläger und Beschwerdeführer (Antragsteller), zusammenveranlagte Ehegatten mit zwei 1970 und 1972 geborenen Kindern, machten in ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1983 Krankheitskosten von . . . DM als außergewöhnliche Belastung geltend. Dabei handelte es sich um Aufwendungen für eine Behandlung der Klägerin durch die Scientology Kirche und Zinsen für ein Darlehen zur Finanzierung dieser Kosten. Der Antragsgegner, Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) versagte den Abzug dieser Aufwendungen mit der Begründung, es fehle an einem amtsärztlichen Zeugnis über die Zwangsläufigkeit der Behandlungskosten.
Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Unter Berufung auf die ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) vertrat auch das Finanzgericht (FG) die Auffassung, daß die Aufwendungen zur Behandlung der Erkrankung der Antragstellerin ohne Vorlage eines amts- oder vertrauensärztlichen Zeugnisses nicht abziehbar seien (Hinweis auf die BFH-Urteile vom 13. Februar 1987 III R 208/81, BFHE 149, 222, BStBl II 1987, 427, und vom 11. Dezember 1987 III R 95/85, BFHE 152, 131, BStBl II 1988, 275).
Gegen die Nichtzulassung der Revision haben die Antragsteller Beschwerde erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Zugleich beantragten sie gemäß § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) beim BFH die Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheides in Höhe der auf die Aufwendungen entfallenden Einkommensteuer.
Das FA ist dem Antrag entgegengetreten und hat mitgeteilt, daß es nach Erhebung der Nichtzulassungsbeschwerde ein Aussetzungsbegehren der Antragsteller mündlich abgelehnt hat.
Entscheidungsgründe
Der Antrag ist zulässig, jedoch unbegründet.
1. Der Zulässigkeit des Antrags steht es nicht entgegen, daß die Antragsteller ihr Aussetzungsbegehren unmittelbar dem Senat vorgelegt haben. Die sachliche Zuständigkeit des BFH als Gericht der Hauptsache i. S. des § 69 Abs. 3 Satz 1 FGO ergibt sich bereits mit der Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde (vgl. BFH-Beschlüsse vom 30. Mai 1967 VI S 3/67, BFHE 89, 114, BStBl III 1967, 530; vom 23. April 1986 I S 2/86, BFH/NV 1987, 811, und vom 14. Dezember 1987 IV S 10/87, BFH/NV 1989, 641). Soweit der V. Senat des BFH hierzu eine abweichende Auffassung vertreten haben sollte (vgl. Beschluß vom 2. Februar 1988 V S 21/87, BFH/NV 1989, 29), könnte der erkennende Senat dem nicht folgen. Auch die besondere Zugangsvoraussetzung des Art. 3 § 7 Abs. 1 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFGEntlG) ist im Streitfall erfüllt. Das FA hat vor der Antragstellung bei Gericht und nach Erhebung der Nichtzulassungsbeschwerde einen Antrag nach § 69 Abs. 2 FGO abgelehnt. Diese Ablehnung konnte auch mündlich erfolgen, da das Gesetz eine bestimmte Form nicht vorschreibt (vgl. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, § 69 Anm. 75; Ziemer / Haarmann / Lohse /Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Anm. 12 729 und 12 740). Da das FA die vorangegangene Antragsablehnung dem Senat mitgeteilt hat, konnte der Senat auch von dem Erfordernis einer Darlegung der Zugangsvoraussetzung absehen (vgl. aber z. B. BFH-Beschlüsse vom 22. August 1985 IV S 15/84, BFH/NV 1987, 112, und in BFH/NV 1989, 641).
Der Antrag ist schließlich auch insoweit zulässig, als er nicht mit einer Begründung versehen ist. Nach der Rechtsprechung des BFH, der der erkennende Senat folgt, ist eine Bezugnahme auf die Begründung eines Rechtsmittels statthaft, soweit diese dem Senat bereits vorliegt (BFH-Beschluß vom 25. Juli 1967 II S 3/67, BFHE 89, 120, BStBl III 1967, 531).
2. In der Sache kann der Antrag jedoch keinen Erfolg haben.
a) Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 FGO soll das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts u. a. dann ganz oder teilweise aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel sind zu bejahen, wenn bei überschlägiger Prüfung des angefochtenen Verwaltungsakts im Aussetzungsverfahren neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Umstände zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen bewirken (BFH-Beschlüsse vom 6. November 1987 III B 101/86, BFHE 151, 428, BStBl II 1988, 134, und vom 2. August 1988 III B 12/88, BFHE 154, 123 jeweils m.w.N.).
Bei der gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung des angefochtenen Einkommensteuerbescheides hat der Senat keine ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Einkommensteuerbescheids.
Nach ständiger Rechtsprechung des Senats sind krankheitsbedingte Maßnahmen und die dadurch veranlaßten Aufwendungen regelmäßig aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig, soweit sie entweder der Heilung dienen oder den Zweck verfolgen, die Krankheit erträglicher zu machen (BFH-Urteile in BFHE 149, 222, BStBl II 1987, 427, und vom 20. November 1987 III R 296/84, BFHE 151, 443, BStBl II 1988, 137 jeweils m.w.N.). Keine außergewöhnliche Belastung wird allerdings durch Aufwendungen für solche Maßnahmen begründet, die nicht unter den Begriff der Heilbehandlung fallen, sondern der Gesundheit nur ganz allgemein dienen und die lediglich als Folge einer Krankheit getroffen werden (vgl. BFH-Urteile vom 20. März 1987 III R 150/86, BFHE 149, 539, BStBl II 1987, 596). Erforderlich wäre in diesem Zusammenhang nach der entsprechend anwendbaren, den kassenärztlichen Heilbehandlungsbegriff festlegenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - BGH - (Urteil vom 17. Dezember 1986 IVa ZR 78/85, Neue Juristische Wochenschrift 1987, 703) eine gezielte, medizinisch indizierte Behandlung zum Zwecke der Heilung oder Linderung einer Krankheit durch einen Arzt, einen Heilpraktiker oder andere gesetzlich zur Ausübung der Heilkunde zugelassene Personen.
In Anwendung dieser Grundsätze hat der Senat mit Urteil vom 18. April 1990 III R 38/86, BFH/NV 1991, 27 entschieden, daß die Aufwendungen für die Behandlung durch sog. Wunderheiler nicht als außergewöhnliche Belastung nach § 33 des Einkommensteuergesetzes (EStG) abziehbar sind. Dabei ist es nicht entscheidend, ob eine solche Therapie durch ein vor Behandlungsbeginn erstelltes amtsärztliches Zeugnis als sinnvoll und erfolgversprechend beurteilt werden könnte. Nichts anderes gilt für die Maßnahmen, die die Mitglieder der Scientology Kirche zur Behandlung der Antragstellerin getroffen haben.
b) Eine Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheides 1983 ist in dem begehrten Umfang aber auch nicht im Hinblick auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Familienlastenausgleich von Gerichts wegen geboten, weil die Antragsteller im Streitjahr zwei berücksichtigungsfähige Kinder hatten.
Das BVerfG hat insoweit ausgeführt, aus Art. 1 Abs. 1 des Grundsgesetzes (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsgrundsatz des Art. 20 Abs. 1 GG und aus Art. 6 Abs. 1 GG folge, daß bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder unabhängig davon steuerfrei bleiben muß, wie die Besteuerung im einzelnen ausgestaltet ist und welche Familienmitglieder dabei als Steuerpflichtige herangezogen werden (BVerfG-Beschluß vom 29. Mai 1990 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BStBl II 1990, 653). Mit Beschluß vom 12. Juni 1990 1 BvL 72/86 (BStBl II 1990, 664) hat das BVerfG deshalb § 32 Abs. 8 EStG i. d. F. des Art. 1 Nr. 7b des Haushaltsbegleitgesetzes 1982 (HBeglG 1983) vom 20. Dezember 1982 (BGBl I, 1857) mit Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 GG für unvereinbar erklärt.
Im Streitfall fehlt es an dem erforderlichen berechtigten Interesse der Antragsteller an der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes, das nach ständiger Rechtsprechung des BFH dann gefordert wird, wenn sich die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes aus der Verfassungswidrigkeit einer Norm ergeben (zuletzt Beschlüsse in BFHE 151, 428, BStBl II 1988, 134 m.w.N., und in BFHE 154, 123, 128). Im Ausnahmefall können überwiegende öffentliche Belange es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Bürgers einstweilen zurückzustellen. Eine solche Interessenabwägung verstößt auch nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht grundsätzlich gegen den aus Art. 19 Abs. 4 GG folgenden Anspruch auf einen umfassenden und effektiven gerichtlichen Schutz, solange die Aussetzung - bei Vorliegen ernstlicher Zweifel - die Regel, der sofortige Vollzug des Verwaltungsaktes hingegen die Ausnahme bleibt (BVerfG-Beschluß vom 6. April 1988 1 BvR 146/88, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Finanzgerichtsordnung, § 69, Rechtsspruch 283 m.w.N.).
Diese Grundsätze zur Aussetzung der Vollziehung bei behaupteter Verfassungswidrigkeit einer Norm finden nach Auffassung des Senats in gleicher Weise Anwendung auf den Fall einer bereits festgestellten Verfassungswidrigkeit, jedenfalls dann, wenn das BVerfG dem Gesetzgeber einen Gesetzgebungsauftrag erteilt hat und völlig ungewiß ist, in welcher Weise der Gesetzgeber die ihm eingeräumte Gestaltungsfreiheit ausüben wird (vgl. auch Abschn. II des Schreibens des Bundesministers der Finanzen - BMF - vom 24. September 1990, BStBl I 1990, 624).
Im Streitfall bejaht der Senat, ebenso wie in BFHE 151, 428, BStBl II 1988, 134 m.w.N., und in BFHE 154, 123, 128, eine solche Ausnahme. Das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung ist auch im Streitfall höher zu bewerten als das Interesse der Antragsteller, im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes eine teilweise Aussetzung der Vollziehung ihres Einkommensteuerbescheides zu erlangen, obwohl unklar ist, ob es wegen etwaiger Erhöhung des Kindergelds überhaupt zu einer geänderten Steuerfestsetzung für das Streitjahr kommt. Selbst wenn sich aber der Gesetzgeber zu einer steuerrechtlichen Änderung entscheiden sollte, ist das Ausmaß der Änderungen ungewiß, so daß jeglicher Maßstab für eine Aussetzung der Vollziehung fehlt (vgl. BMF-Schreiben vom 24. September 1990, a.a.O.). Den Interessen der Antragsteller kann durch eine vorläufige Steuerfestsetzung Rechnung getragen werden, die auf die Höhe der Kinderfreibeträge beschränkt wird und die auch während des Beschwerdeverfahrens über die Nichtzulassung der Revision durchgeführt werden kann (vgl. Abschn. III 1 des BMF-Schreibens vom 24. September 1990, a.a.O.). Hierzu hat der Senat das FA bereits aufgefordert.
Fundstellen
Haufe-Index 417455 |
BFH/NV 1991, 459 |