Entscheidungsstichwort (Thema)
Volljähriger behinderter Bruder als Pflegekind: Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den leiblichen Eltern
Leitsatz (NV)
1. Das Fortbestehen des Kontakts zu einem leiblichen Elternteil steht der Begründung eines Pflegekindschaftsverhältnisses mit dem Bruder entgegen. Allein mit der Übernahme der Versorgung und Betreuung des Behinderten durch seinen Bruder entsteht kein Pflegekindschaftsverhältnis.
2. Derjenige, der das volljährige behinderte Kind betreut und ihm Unterhalt gewährt, kann Kindergeld erhalten, sofern der Kindergeldberechtigte seiner Unterhaltspflicht nicht nachkommt. In diesem Fall kann die Familienkasse das für den Kindergeldberechtigten festgesetzte Kindergeld an den tatsächlich Unterhalt Leistenden auszahlen (§ 74 Abs. 1 Sätze 1 und 4 EStG).
Normenkette
EStG § 32 Abs. 1 Nr. 2, § 74 Abs. 1 Sätze 1, 4; GG Art. 3 Abs. 1
Verfahrensgang
FG München (Urteil vom 01.03.2006; Aktenzeichen 10 K 3552/04) |
Tatbestand
I. Der im Mai 1966 geborene Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) hat einen im Januar 1969 geborenen, schwerbehinderten Bruder (S), der nach den Merkmalen seines Schwerbehindertenausweises blind, gehbehindert und hilfebedürftig ist. S ist zu 100 % in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert und auf ständige Begleitung angewiesen. Aufgrund seiner Behinderung ist er außer Stande, sich selbst zu unterhalten, erhält aber ein monatliches Pflege- und Blindengeld. Ferner arbeitet er in einer Werkstätte für Behinderte und bezieht hieraus ein geringes monatliches Entgelt.
Bis einschließlich März 2004 wurde das Kindergeld für S an die unter der gleichen Anschrift wie der Kläger lebende Mutter (Beigeladene) ausbezahlt.
Am 16. April 2004 beantragte der Kläger Kindergeld für S als Pflegekind, weil er S in seinen Haushalt aufgenommen habe.
Die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) lehnte den Antrag auf Festsetzung des Kindergeldes ab, weil S kein Pflegekind des Klägers i.S. von § 32 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sei. Der Einspruch des Klägers war erfolglos.
Für die Zeit ab September 2004 beantragte die Beigeladene das Kindergeld für S mit der Begründung, sie habe S wieder in ihren eigenen Haushalt aufgenommen.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage, mit welcher der Kläger Kindergeld für die Zeit von Januar 2004 bis August 2004 begehrte, ab. Es führte im Wesentlichen aus: Ein Pflegekindschaftsverhältnis zwischen dem Kläger und S sei schon deshalb nicht anzunehmen, weil das Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen S und der Beigeladenen trotz der Aufnahme in den Haushalt des Klägers fortbestanden habe.
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger sinngemäß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) geltend.
Die Ausführungen des FG seien rechtlich unzutreffend. Es sei zu berücksichtigen, dass sich das Obhuts- und Pflegeverhältnis bei einem volljährigen behinderten Kind gänzlich anders gestalte als bei einem sonstigen Eltern-Kind-Verhältnis. Nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 21. April 2005 III R 53/02 (BFH/NV 2005, 1547) sei ein familienähnliches Band mit einem bereits Volljährigen nur bei Hilflosigkeit oder Behinderung des Volljährigen oder bei Vorliegen sonstiger besonderer Umstände anzunehmen. Daraus sei zu folgern, dass ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen einem volljährigen behinderten Kind und den Pflegeeltern stets anzunehmen sei, wenn diese das behinderte Kind in ihren Haushalt aufgenommen hätten und sich zumindest überwiegend des behinderten Kindes annehmen würden. Entscheidend sei, wer tatsächlich diese Aufgaben für das Kind erfülle. Es sei hingegen nicht maßgeblich, dass S als Behinderter den Kontakt zu seiner Mutter nicht abgebrochen habe.
Die Ablehnung eines Pflegekindschaftsverhältnisses verletze im Streitfall darüber hinaus das Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Er, der Kläger, habe auf Anraten des Hausarztes für seinen volljährigen behinderten Bruder die Obhuts-, Betreuungs- und Pflegeaufgaben gemeinsam mit seiner Ehefrau übernommen, um die schwer erkrankte Mutter von der Pflege und Betreuung des S zu entlasten. Er, der Kläger, dürfe nicht schlechter gestellt werden als leibliche Eltern, die einen vergleichbaren Aufwand für ein leibliches behindertes Kind hätten.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet und wird zurückgewiesen (§ 132 FGO).
1. Die Rechtssache ist entgegen der Auffassung des Klägers nicht grundsätzlich bedeutsam i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.
Die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage, ob ein Pflegekindschaftsverhältnis mit einem behinderten Volljährigen begründet werden kann, obwohl der Kontakt zu einem Elternteil noch fortbesteht, ist nicht klärungsbedürftig.
a) Pflegekinder sind gemäß § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG Personen, mit denen der Steuerpflichtige durch ein familienähnliches auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie nicht zu Erwerbszwecken in seinen Haushalt aufgenommen hat und das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht.
Nach der Rechtsprechung des BFH kann zwischen den Pflegeeltern und dem Pflegekind ein auf längere Dauer berechnetes familienähnliches Band nicht angenommen werden, wenn der Kontakt des Kindes zu den leiblichen Eltern nur vorübergehend unterbrochen ist. Ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den leiblichen Eltern besteht nur dann nicht mehr, wenn diese zu nicht schulpflichtigen Kindern mindestens ein Jahr (Senatsurteil vom 20. Januar 1995 III R 14/94, BFHE 177, 359, BStBl II 1995, 582) und zu schulpflichtigen Kindern mehr als zwei Jahre (Senatsurteil vom 7. September 1995 III R 95/93, BFHE 179, 54, BStBl II 1996, 63) "keine für die Wahrung des Obhuts- und Pflegeverhältnisses ausreichenden Kontakte" mehr haben.
Bei einem volljährigen Kind kann ein familienähnliches auf längere Dauer berechnetes Band im Übrigen nur angenommen werden, wenn das Kind hilflos oder behindert ist oder wenn sonstige besondere Umstände vorliegen (BFH-Urteil in BFH/NV 2005, 1547).
Ein familienähnliches auf längere Dauer berechnetes Band zwischen den Pflegeeltern und dem Pflegekind entsteht nach der Rechtsprechung des BFH somit nicht, wenn der Kontakt zu einem leiblichen Elternteil fortbesteht. Auch wenn der leibliche Elternteil aufgrund seines Alters oder einer Krankheit sein behindertes Kind nicht mehr selbst versorgen kann und deshalb --wie im Streitfall-- ein Verwandter den Behinderten in seinen Haushalt aufnimmt, wird allein durch die Übernahme der Versorgung und Betreuung des Behinderten kein Pflegekindschaftsverhältnis begründet.
b) Es besteht auch keine Notwendigkeit, die bisherige Rechtsprechung fortzuentwickeln und ein Pflegekindschaftsverhältnis bei volljährigen, behinderten Kindern nach anderen Kriterien zu beurteilen. Denn bei Sachverhalten wie im Streitfall geht der Anspruch auf Kindergeld nicht verloren, wenn das Kind nicht mehr im Haushalt des Kindergeldberechtigten betreut wird oder betreut werden kann. Nur bei mehreren Kindergeldberechtigten hängt der Anspruch auf Kindergeld davon ab, in wessen Haushalt das Kind aufgenommen ist.
Auch kann derjenige, der das volljährige behinderte Kind betreut und ihm Unterhalt gewährt, Kindergeld erhalten, sofern der Kindergeldberechtigte seiner Unterhaltspflicht nicht nachkommt. In diesem Fall kann die Familienkasse das für den Kindergeldberechtigten festgesetzte Kindergeld an den tatsächlich Unterhalt Leistenden auszahlen (§ 74 Abs. 1 Sätze 1 und 4 EStG).
Die Beigeladene könnte daher für den Zeitraum Januar bis August 2004 noch Kindergeld beantragen. Falls sie in diesem Zeitraum ihrer Unterhaltspflicht für S nicht nachgekommen ist und nur der Kläger seinem Bruder Unterhalt gewährt hat, könnte der Kläger nach Festsetzung des Kindergeldes für die Beigeladene beantragen, dass das festgesetzte Kindergeld an ihn ausbezahlt wird.
c) Soweit der Kläger einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) rügt, ist die Beschwerde mangels ausreichender Darlegung des Zulassungsgrundes (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO) bereits unzulässig.
Wird die grundsätzliche Bedeutung auf die Verfassungswidrigkeit einer Norm oder Gesetzesauslegung gestützt, muss sich der Beschwerdeführer mit den Vorgaben des GG und der dazu ergangenen Rechtsprechung auseinandersetzen (BFH-Beschluss vom 18. Mai 2005 VIII B 141/04, BFH/NV 2005, 1783, m.w.N.). Der Kläger hat aber lediglich pauschal den Verfassungsverstoß gerügt, ohne sich mit der zum Gleichheitssatz ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu befassen.
2. Mit seinen Ausführungen wendet sich der Kläger im Kern gegen die materielle Rechtmäßigkeit des Urteils, wobei er seine Rechtsauffassung an die Stelle derjenigen des FG setzt. Seine Rügen betreffen auch keinen offensichtlichen Rechtsanwendungsfehler von erheblichem Gewicht im Sinne einer willkürlichen oder greifbar gesetzwidrigen Entscheidung, der ausnahmsweise zur Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO führt (vgl. BFH-Beschluss vom 17. März 2006 III B 135/05, BFH/NV 2006, 1285).
Fundstellen
Haufe-Index 1615015 |
BFH/NV 2007, 25 |