Leitsatz (amtlich)
Abfindungen wegen Ausscheidens aus einem Dienstverhältnis, die auf Grund eines Interessenausgleichs gem. § 72 BetrVG gezahlt werden, sind steuerfrei. Ob eine Kündigung des Arbeitgebers vorliegt, ist dabei ohne Bedeutung. Das Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Betrieb kann auch auf einer Vereinbarung beruhen. Steuerfreiheit ist aber nur insoweit gegeben, als es sich um Abfindungen und nicht um die Abgeltung vertraglicher Lohnansprüche handelt.
Normenkette
EStG 1965 § 3 Nr. 9; LStDV 1965 § 6 Nr. 7
Tatbestand
Die Klägerin, eine AG., mußte wegen konjunkturell bedingter Absatzschwierigkeiten im Jahre 1967 die Belegschaft verringern. Durch eine vom Betriebsrat und Vertretern der Klägerin unterzeichnete Bekanntmachung wurde den Angestellten und Arbeitern des Betriebs, die bis zum 31. Dezember 1967 das 60. Lebensjahr vollendet und bis dahin mindestens 25 Jahre in den Diensten der Klägerin gestanden hatten, die Möglichkeit gegeben, vorzeitig "im gegenseitigen Einvernehmen" aus dem Dienst auszuscheiden. Dafür wurden den Arbeitnehmern Abfindungen gewährt. Diese setzten sich zusammen aus einem Grundbetrag, der Abschlußgratifikation für 1967 nach den unternehmenseinheitlichen Richtlinien wie bei regulärer Pensionierung, Jubiläumsgaben in bestimmter Höhe, falls die Bedingungen im übrigen erfüllt waren, und 1/10 des Monatslohnes bzw. -Gehalts für die Anzahl der Monate, die bis zur Erreichung der Altersgrenze bei normaler Pensionierung noch zu arbeiten gewesen wären. Alle von dem Aushang betroffenen Arbeitnehmer - elf Angestellte und fünfzig Arbeiter - nahmen das Angebot an.
Die Klägerin führte für die Abfindungen keine Lohnsteuer ab, obwohl der Finanzminister des Landes Nordrhein-Westfalen auf die Anfrage der Klägerin vom 27. Dezember 1967 durch Erlaß vom 15. Februar 1968 die Steuerfreiheit mit der Begründung verneint hatte, daß die Arbeitnehmer auf Grund des Angebots der Klägerin freiwillig ausgeschieden seien. Mit der gleichen Begründung zog der Revisionsbeklagte (FA) die Klägerin nach einer Lohnsteueraußenprüfung gem. § 46 LStDV durch Haftungsbescheid zur Nachzahlung von Lohnsteuer und Kirchenlohnsteuer heran.
Die Sprungklage hatte keinen Erfolg.
Das FG begründete seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt: es fehle an der für die Steuerfreiheit der Abfindung wesentlichen Voraussetzung der Entlassung der Arbeitnehmer. Diese sei nämlich nur als Folge einer Kündigung durch den Arbeitgeber zu sehen, wie sich aus den einschlägigen Kommentarstellen zu § 60 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) ergäbe (Fitting-Kraegeloh, Betriebsverfassungsgesetz, 2. Aufl. Rdnr. 23; Dietz, Arbeitsrecht, 4. Aufl. Rdnr. 24 mit weiteren Nachweisen). Eine vom Betriebsverfassungsgesetz abweichende Beurteilung der Abfindung nach § 6 Nr. 7 LStDV sei weder nach dem Sinn und Zweck, noch nach dem Wortzusammenhang dieser Bestimmung geboten. Gemäß § 6 Nr. 7 LStDV seien Entschädigungen, die nach § 72 BetrVG geleistet werden, abgesehen von ihrer Begrenzung der Höhe nach, nur dann steuerfrei, wenn sie "unter Berücksichtigung der vorbezeichneten Vorschriften dem Grunde nach berechtigt" seien. Danach müßten neben dem Einigungsvorschlag des § 72 BetrVG zusätzlich die Voraussetzungen des sozialen Kündigungsschutzes vorliegen. Bei außergerichtlich festgesetzten Abfindungen - und dieser Fall läge auch hier vor - hätten die FÄ nach der Rechtsprechung des BFH zu prüfen, ob der Arbeitgeber in dem Bewußtsein oder in der Annahme der Möglichkeit gezahlt habe, daß er sonst zu einer Entschädigung verurteilt werden könne. Daran fehle es im vorliegenden Fall. Die Entlassung der älteren Arbeitnehmer wäre in jedem Fall sozialwidrig gewesen, selbst wenn Arbeitnehmer aus dringenden betrieblichen Erfordernissen hätten entlassen werden müssen. Das Arbeitsgericht hätte die Arbeitsverhältnisse auch nicht durch Urteil auflösen und den Arbeitnehmern eine Entschädigung zusprechen können, weil § 7 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) verlange, daß den Arbeitnehmern die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zugemutet werden könne und hier keine Spannungen zwischen den Vertragspartnern, sondern wirtschaftliche Gründe herangezogen werden müßten, die einer Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht entgegenständen. Diese Entscheidung verletze auch nicht die Artikel 3, 20, 28 GG.
Mit der Revision beantragt die Klägerin Aufhebung der Vorentscheidung und des Haftungsbescheids vom 15. November 1968.
Die Klägerin wendet sich im wesentlichen dagegen, daß das FG die Steuerfreiheit der gezahlten Entschädigungen davon abhängig mache, daß neben dem Interessenausgleich des § 72 Betr VG zusätzlich die Voraussetzungen des sozialen Kündigungsschutzes, insbesondere die §§ 7, 8 KSchG, gegeben sein müßten. Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift zeige, daß die Hereinnahme der Abfindungen aus einem Interessenausgleich, einer Einigung oder einem Einigungsvorschlag in § 3 Nr. 9 EStG bzw. § 6 Nr. 7 LStDV unabhängig von den bisherigen Voraussetzungen dieser Vorschriften gesehen werden müßten. Die Ergänzung, die man in die bereits vorliegenden Texte eingebaut habe, hätte man auch als selbständige Vorschriften formulieren können, allerdings ohne die Einschaltung "wenn die Abfindung unter Berücksichtigung der bezeichneten Vorschriften dem Grunde nach berechtigt ist". Diese könne auf Abfindungen, die nach §§ 72, 73 BetrVG zu zahlen seien, auch nicht angewandt werden. Das ergebe sich einmal aus der Vorgeschichte der Ergänzungen von § 3 Nr. 9 EStG, § 6 Nr. 7 LStDV, wie sie sich aus den Bundestagsdrucksachen und u. a. aus dem Protokoll der 108. Sitzung des Finanzausschusses vom 14. Januar 1965 abzeichne, und zum anderen daraus, daß eine Verknüpfung der §§ 72, 73 BetrVG mit den Kündigungsschutzvorschriften zu unhaltbaren Ergebnissen führe. Es sei nämlich kein Fall denkbar, in dem eine Betriebsveränderung im Sinn des § 72 BetrVG gleichzeitig zur Zahlung von Abfindungen nach §§ 7, 8 KSchG führe. Die Verbindung könne nur hinsichtlich der Höhe der steuerfreien Entschädigungen gesehen werden. Das FG habe den Begriff "Entlassung" auch falsch definiert. Abgesehen davon, daß selbst im Arbeitsrecht die einzelnen Kommentatoren verschiedene Meinungen vertreten, müsse im Zusammenhang mit §§ 72, 73 BetrVG jede Beendigung eines Arbeitsverhältnisses ausreichen, um eine Entlassung im Sinne des § 3 Nr. 9 EStG, § 6 Nr. 7 LStDV annehmen zu können.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
Zahlungen, die ein Arbeitnehmer auf Grund arbeitsrechtlicher Vorschriften bei Beendigung seines Dienstverhältnisses erhält, sind unter den in § 3 Nr. 9 EStG 1967 (§ 6 Nr. 7 LStDV) aufgeführten Voraussetzungen steuerfrei. Das gilt vor allem, wenn ein Arbeitsgericht nach einer sozialwidrigen und deshalb unwirksamen Kündigung eines Arbeitgebers auf die Anrufung durch den Arbeitnehmer das Dienstverhältnis auflöst und dem Arbeitnehmer eine Abfindung bis zu 12 Monatsverdiensten zuerkennt (§§ 7, 8 KSchG 1951, jetzt §§ 8-10 KSchG 1969, § 74 BetrVG). Das Gesetz zur Änderung steuerrechtlicher Vorschriften vom 18. Juli 1958 (BGBl I 1958, 473, BStBl I 1958, 412) hat die Steuerfreiheit auf Abfindungen ausgedehnt, die vor einem Arbeitsgericht bei sozialwidrigen Kündigungen in einem Vergleich vereinbart werden. Nach Abschn. 12 LStR 1962 sollen auch Abfindungen steuerfrei bleiben, die nach einer Kündigung in einem außergerichtlichen Vergleich vereinbart werden, wenn die Kündigung sozial ungerechtfertigt war und die Abfindung 12 Monatsverdienste des Arbeitnehmers nicht übersteigt. Daß diese Voraussetzungen vorliegen, ist dem zuständigen FA glaubhaft zu machen und von diesem dann in eigener Zuständigkeit zu entscheiden. Der BFH hat diese Verwaltungsregelung als zutreffende Auslegung des Gesetzes anerkannt (Urteil vom 14. April 1967 VI R 11/66, BFHE 88, 516, BStBl III 1967, 482). Voraussetzung der Steuerfreiheit ist in allen diesen Fällen, daß der Auflösung des Dienstverhältnisses eine Kündigung des Arbeitgebers vorausgegangen ist.
Durch das StÄndG 1965 vom 14. Mai 1965 (BGBl I 1965, 377, BStBl I 1965, 217) wurde die Steuerfreiheit nach § 3 Nr. 9 EStG ausgedehnt auf Abfindungen, die auf Grund eines Interessenausgleichs oder einer Einigung im Sinne der §§ 72, 73 BetrVG vom 11. Oktober 1962 gezahlt werden, wenn die Abfindung nach diesen Vorschriften dem Grunde nach berechtigt ist und wenn sie 12 Monatsverdienste nicht übersteigt. Anders als bei den Entlassungsentschädigungen nach dem Kündigungsschutzgesetz oder nach § 74 BetrVG dürfte es bei den Abfindungen auf Grund eines Interessenausgleichs nach dem Betriebsverfassungsgesetz regelmäßig an einer sozialwidrigen Kündigung durch den Arbeitgeber fehlen. Der Auffassung des FG, es entfalle aus diesem Grund die Steuerfreiheit der vom Arbeitgeber gezahlten Abfindung, kann nicht gefolgt werden. Wollte man bei den auf Grund eines Interessenausgleichs oder einer Einigung gezahlten Abfindungen eine Kündigung des Arbeitgebers als Voraussetzung der Steuerfreiheit fordern, so wäre die Erweiterung des § 3 Nr. 9 EStG auf die Fälle des Ausscheidens von Arbeitnehmern nach den §§ 72 und 73 BetrVG ohne steuerliche Bedeutung; denn dann könnte Steuerfreiheit - wie bereits vor der Änderung des § 3 Nr. 9 EStG durch das StÄndG 1965 - nur unter den Voraussetzungen der einschlägigen Vorschriften des Kündigungsschutzgesetzes oder nach § 74 BetrVG in Betracht kommen. Es sollt aber durch das StÄndG 1965 eindeutig eine Erweiterung der Steuerfreiheit nach § 3 Nr. 9 EStG herbeigeführt werden, und zwar insbesondere dann, wenn das Ausscheiden von Arbeitnehmern nicht als sozialwidrig anzusehen ist, weil betriebliche Gründe eine Verminderung der Zahl der Arbeitnehmer erfordern. Die Interessen der Arbeitnehmer werden in diesen Fällen vom Betriebsrat wahrgenommen, wie dies auch im Streitfall geschehen ist.
Bei Abfindungen, die auf Grund eines Interessenausgleichs nach § 72 BetrVG gezahlt werden, kann daher weder die Steuerfreiheit der Abfindung von einer Kündigung abhängig gemacht werden, noch die Frage der Sozialwidrigkeit einer etwaigen Kündigung untersucht werden.
Die Fälle der Entschädigungszahlungen auf Grund des § 72 BetrVG sind als selbständige, vom Kündigungsschutzgesetz unabhängige Tatbestände zu sehen (Herrmann-Heuer, Kommentar zum Einkommensteuergesetz und Körperschaftsteuergesetz I § 3 EStG Anm. 10 b; Nissen, DStZ A 1965, 144-146). Unter "Entlassung" aus dem Dienstverhältnis ist im Sinne von § 3 Nr. 9 Satz 2 EStG 1967 danach auch jedes Ausscheiden eines Arbeitnehmers zu verstehen, das unabhängig von einer Kündigung durch den Arbeitgeber auf einer Vereinbarung beruht. Bei Entschädigungsleistungen auf Grund von § 72 BetrVG ist daher auch nicht im Einzelfall die Sozialwidrigkeit einer Kündigung und die weitere Frage nach der Zumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses durch die Finanzverwaltung oder die FG zu untersuchen. Das ergibt sich aus der Fassung des § 3 Nr. 9 EStG (§ 6 Nr. 7 LStDV), nach der als Voraussetzung für die Steuerfreiheit der Abfindungen nur verlangt wird, daß diese "unter Berücksichtigung der bezeichneten Vorschriften dem Grunde nach berechtigt" sind, wobei die Bezugnahme die §§ 72, 73 BetrVG und nicht die Bestimmungen des Kündigungsschutzgesetzes betrifft.
Da die Kapazität eines Werks der Klägerin im Streitfall aus konjunkturellen Gründen gemindert werden sollte, war ein Mitbestimmungsfall des § 72 Abs. 1a BetrVG gegeben. Die vom Unternehmer und Betriebsrat unterzeichnete Bekanntmachung vom 17. April 1967 ist als Interessenausgleich (§ 72 BetrVG) anzusehen. Die Voraussetzungen des § 3 Nr. 9 Satz 2 EStG (§ 6 Nr. 7 LStDV) sind bei diesem Sachverhalt dem Grunde nach erfüllt.
Die Sache mußte aber zur weiteren Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO), weil noch zu prüfen ist, welche Positionen des insgesamt steuerfrei belassenen Endbetrags als Abfindung anzusehen sind (s. Nissen in DStZ A 1965, 144). Unabhängig davon, daß diese 12 Monatsgehälter nicht übersteigen darf, ist die Steuerfreiheit insoweit nicht gegeben, als der ausscheidende Arbeitnehmer einen vertraglichen Anspruch auf Gehaltszahlung hat (BFH-Urteil vom 14. April 1967 VI R 304/66, BFHE 88, 459, BStBl III 1967, 431). Dazu gehören auch Ansprüche auf Gratifikationen.
Dem FG wird auch die Entscheidung über die Kosten der Revision übertragen (§ 143 Abs. 2 FGO).
Fundstellen
Haufe-Index 70320 |
BStBl II 1973, 240 |
BFHE 1973, 429 |