Entscheidungsstichwort (Thema)
Änderung gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 nur bei nachträglichem Eintreten eines rückwirkenden Ereignisses; Kostenentscheidung bei aufgenommenen Prozessen im Insolvenzverfahren
Leitsatz (NV)
- Voraussetzung für die Änderung eines Steuerbescheides gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 ist, dass ein rückwirkendes Ereignis nachträglich ‐ nach Ergehen des Steuerbescheides ‐ eintritt und nicht bereits bei dessen Erlass berücksichtigt werden konnte.
- Es ist im Kostenerhebungsverfahren und nicht in der vom Gericht zu treffenden Kostengrundentscheidung darüber zu entscheiden, ob die Kosten nach Aufnahme des Rechtsstreits durch den Insolvenzverwalter im Revisionsverfahren im Hinblick auf ein vor Insolvenzeröffnung abgeschlossenes erstinstanzliches Verfahren aufzuteilen und in jenem Umfang, in dem sie auf das erstinstanzliche Verfahren entfallen, nach Maßgabe des Kostenverursachungsprinzips als Insolvenzforderungen zu behandeln sind.
Normenkette
AO 1977 § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; InsO §§ 38, 55 Abs. 1 Nr. 1, § 105; ZPO § 240; FGO § 143 Abs. 1
Verfahrensgang
FG München (EFG 2000, 1144) |
Tatbestand
I. Über das Vermögen der Gemeinschuldnerin, einer GmbH, wurde am 1. Februar 2001 ―nach Abschluss des Klageverfahrens vor dem Finanzgericht (FG)― das Insolvenzverfahren eröffnet. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) wurde durch amtsrichterlichen Beschluss vom 1. Februar 2001 zum Insolvenzverwalter bestellt. Er hat das gemäß § 155 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 240 der Zivilprozeßordnung (ZPO) unterbrochene Revisionsverfahren aufgenommen.
Die GmbH hat ein abweichendes Wirtschaftsjahr vom 1. Juli bis zum 30. Juni. Ihr Stammkapital betrug im Streitjahr 60 000 DM. Ihre Bilanz zum 30. Juni 1993, aufgestellt im Oktober 1993, wies Gewinnrücklagen von 840 036 DM, einen Gewinnvortrag von 304 327 DM und einen Jahresfehlbetrag von 617 253 DM aus.
In der Gesellschafterversammlung am 15. Juni 1994 beschlossen die Gesellschafter der GmbH, den gesamten "unter der Bezeichnung EK 56 in der Bilanz eingestellte(n) Gewinn in Höhe von 1 321 979 DM in vollem Umfang an die Gesellschafter zu ihren satzungsmäßigen Anteilen" auszuschütten. Gleichzeitig verpflichteten sich die Gesellschafter, den Gewinn nach Abzug der persönlichen Steuern der GmbH als Darlehen wieder zur Verfügung zu stellen (Schütt aus-Hol zurück-Verfahren). In einer weiteren Gesellschafterversammlung am 22. Juni 1994 formulierten die Gesellschafter in Form eines Nachtrags zur Klarstellung des Protokolls vom 15. Juni 1994, dass "der gesamte unter der Bezeichnung EK 56 in der Bilanz eingestellte Gewinn mit dem verwendbaren Eigenkapital zum 30. Juni 1993 verrechnet" werden solle. Die Ausschüttung wurde noch im Juni 1994 an die Gesellschafter vorgenommen.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ―FA―) behandelte diese Ausschüttung als verunglückte offene Gewinnausschüttung und damit als andere Ausschüttung i.S. des § 27 Abs. 3 Satz 2 des Körperschaftsteuergesetzes 1991 (KStG 1991), weil sie entgegen § 29 Abs. 1, § 30 Abs. 1 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHG) zur Aufzehrung des Stammkapitals führe, und minderte die Körperschaftsteuer im Jahre 1994 als dem Jahr, in dem das Wirtschaftsjahr der GmbH endete, in dem die Ausschüttung erfolgt war.
Die zunächst gegen den Steuerbescheid 1994 vom 7. August 1995 gerichtete Klage wurde zurückgenommen. Stattdessen beantragte die GmbH beim FA die Änderung des ebenfalls unter dem 7. August 1995 datierenden Körperschaftsteuerbescheides 1993. Das FA lehnte dies ab.
Die dagegen gerichtete Klage war teilweise erfolgreich. Das FG gab ihr insoweit statt, als der Gewinnverteilungsbeschluss sich nur auf die Verwendung des Saldos zwischen der Gewinnrücklage zuzüglich des Gewinnvortrages und dem Jahresfehlbetrag beziehe. Soweit er diesen Saldo übersteige, verstoße er gegen § 30 GmbHG und sei daher teilweise (vgl. § 139 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ―BGB―) nichtig. Folglich sei er in einen Beschluss über die Gewinnverteilung gemäß § 27 Abs. 3 Satz 1 KStG 1991 und in einen solchen über eine andere Ausschüttung gemäß § 27 Abs. 3 Satz 2 KStG 1991 aufzuteilen. Nur im Umfang der rechtmäßigen Gewinnverteilung sei die Körperschaftsteuer zu mindern und der bestandskräftige Körperschaftsteuerbescheid vom 7. August 1995 gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zu ändern. Das Urteil des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2000, 1144 abgedruckt.
Mit seiner Revision rügt das FA Verletzung materiellen Rechts.
Es beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise festzustellen, dass die Kosten des Verfahrens, die für den Zeitraum bis zum 1. Februar 2001 angefallen sind, lediglich durch Anmeldung zur Insolvenztabelle angemeldet werden können.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Klageabweisung.
1. Der bestandskräftige Körperschaftsteuerbescheid 1993 vom 7. August 1995 kann nicht mehr gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 geändert werden. Zwar ist es richtig, dass sowohl der Gewinnverteilungsbeschluss als auch die Gewinnausschüttung rückwirkende Ereignisse im Sinne dieser Vorschrift darstellen (vgl. Senatsurteile vom 2. Juli 1997 I R 25/96, BFHE 183, 33, BStBl II 1997, 714; vom 18. Mai 1999 I R 60/98, BFHE 188, 542, BStBl II 1999, 634). Als Voraussetzung für eine Änderung gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 müssen diese Ereignisse aber nachträglich eintreten, weil nur in diesem Fall die Notwendigkeit besteht, die Bestandskraft zu durchbrechen. Konnten die Ereignisse bei Erlass des betreffenden Bescheides ―wie im Streitfall am 7. August 1995― bereits berücksichtigt werden, greift § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 nicht (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 26. Juli 1984 IV R 10/83, BFHE 141, 488, BStBl II 1984, 786; Beschlüsse vom 19. Juli 1993 GrS 2/92, BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897, 900 f.; vom 12. August 1997 IV B 98/96, BFH/NV 1998, 147; Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 175 AO Tz. 23).
Andere Änderungsmöglichkeiten sind nicht ersichtlich. Insbesondere beruft sich der Kläger zu Unrecht auf § 130 und § 174 Abs. 3 AO 1977; beide Änderungsvorschriften sind nicht einschlägig: § 130 AO 1977 ist auf Steuerbescheide unanwendbar (§ 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d 2. Halbsatz AO 1977). § 174 Abs. 3 AO 1977 ist seinen tatbestandlichen Voraussetzungen nach nicht einschlägig. Denn danach ist erforderlich, dass ein bestimmter Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt worden ist, dass er in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei, und dass sich diese Annahme als unrichtig herausstellt. Über eine solche Konstellation ist im Streitfall nicht zu befinden; der in Rede stehende Sachverhalt ist tatsächlich in einem anderen Steuerbescheid ―dem Körperschaftsteuerbescheid 1994― berücksichtigt worden; ein sog. negativer Widerstreit fehlt deshalb.
2. Auf die streitigen materiellen Rechtsfragen war nach allem nicht mehr einzugehen. Das Urteil des FG war aufzuheben, die Klage war abzuweisen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Darüber, ob und ggf. in welchem Umfang die hiernach gegenüber dem Kläger festzusetzenden Kosten Insolvenzforderungen (§ 38 der Insolvenzordnung ―InsO―) oder aber Masseschulden (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO) darstellen, muss im Rahmen dieser Entscheidung als Kostengrundentscheidung (vgl. § 143 Abs. 1 FGO) nicht befunden werden. Diese Fragen betreffen nicht die eigentliche Kostentragungspflicht. Vielmehr geht es darum, in welcher Weise und gegen wen diese Pflicht im Rahmen des Insolvenzverfahrens zu verwirklichen ist. Insbesondere kann sich hierbei die Frage stellen, ob die Kosten nach Aufnahme des Rechtsstreits durch den Insolvenzverwalter im Revisionsverfahren im Hinblick auf ein vor Insolvenzeröffnung abgeschlossenes erstinstanzliches Verfahren aufzuteilen und in jenem Umfang, in dem sie auf das erstinstanzliche Verfahren entfallen, zum Zwecke der Gleichbehandlung aller Insolvenzgläubiger ―nach Maßgabe des Kostenverursachungsprinzips― als Insolvenzforderungen zu behandeln sind (vgl. dazu einerseits ―unter Hinweis auf den Grundsatz der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung― z.B. Kroth in Braun, Insolvenzordnung, § 85 Rz. 6; Gerhardt in Gottwald, Insolvenzrechts-Handbuch, 2. Aufl., § 32 Rz. 27 und 42; Kuhn/Uhlenbruck, Konkursordnung, 11. Aufl., § 10 Rz. 5; Kilger/K. Schmidt, Konkursordnung, 17. Aufl., § 10 Anm. 8; andererseits z.B. Oberlandesgericht ―OLG― Hamm, Beschluss vom 24. Mai 1994 21 W 26/93, Zeitschrift für Wirtschaftsrecht ―ZIP― 1994, 1547; OLG München, Beschluss vom 11. Oktober 1999 11 W 2206/99, ZIP 2000, 31; OLG Rostock, Urteil vom 5. November 2001 3 U 168/99, ZIP 2001, 2145; Uhlenbruck, Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2001, 1988; Binz, Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht ―EWiR― 2002, 77; Pape, EWiR 1994, 1115; Schumacher in Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band I, § 85 Rz. 20; Lüke in Kübler/Prütting, Insolvenzordnung, § 85 Rz. 57, jeweils m.w.N.). Über eine solche Aufteilung ist jedoch unabhängig davon zu entscheiden, ob die Kosten in der Grundentscheidung dem Insolvenzverwalter als unterliegendem Beteiligten insgesamt auferlegt werden. Die Aufteilung ist Sache der Kostenerhebung durch den Kostenbeamten im Kostenfestsetzungs- und Kostenansatzverfahren; die Grundentscheidung bindet diesen jedenfalls nach der im Streitfall maßgeblichen insolvenzrechtlichen Rechtslage (vgl. § 105 InsO) insoweit nicht (vgl. ebenso Binz, ebenda; Schumacher, ebenda; Uhlenbruck, ebenda; jeweils mit Angabe der entgegenstehenden, noch zur Konkursordnung ergangenen Rechtsprechung, vgl. z.B. OLG Schleswig, Beschluss vom 24. März 1981 9 W 33/81, ZIP 1981, 1359).
Fundstellen
Haufe-Index 846312 |
BFH/NV 2002, 1545 |
DStRE 2002, 1412 |