Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Frage der Ablaufhemmung von Steueransprüchen aufgrund einer Betriebsprüfung; Verwirkung von Steueransprüchen
Leitsatz (NV)
1. Die Anfechtung eines aufgrund einer Betriebsprüfung geänderten Steuerbescheids nach § 146 a Abs. 1 AO ist neben der Ablaufhemmung des § 146 a Abs. 3 AO ein weiteres den Ablauf der Verjährung hemmendes Ereignis.
2. Die Hemmung der Verjährung nach § 146 a AO ist zeitlich nicht begrenzt.
3. Etwaigen Unbilligkeiten bei längeren Zeiträumen kann durch die Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben begegnet werden.
Normenkette
AO § 146a Abs. 1, 3, § 147; UmwG 1969 §§ 5, 24
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine Kommanditgesellschaft, ist Gesamtrechtsnachfolgerin der früheren E-GmbH (im folgenden GmbH), die aufgrund des Umwandlungsbeschlusses vom 19. Juni 1970 auf die Klägerin umgewandelt wurde.
Bei der GmbH wurde in den Jahren 1969/70 eine Betriebsprüfung für die Streitjahre 1963, 1965 bis 1968 durchgeführt. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) erließ im Jahre 1971 aufgrund dieser Betriebsprüfung berichtigte Körperschaftsteuerbescheide für die Streitjahre. Diese Bescheide wurden an die nicht mehr existierende GmbH adressiert. Auf Hinweis des Berichterstatters im Klageverfahren hob das FA mit Verfügung vom 5. April 1977 diese Steuerbescheide auf, erließ am 13. Mai 1977 erneut Steuerbescheide für die Streitjahre und stellte sie der Klägerin als Rechtsnachfolgerin der GmbH am 18. Mai 1977 zu.
Einspruch und Klage blieben erfolglos.
Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung materiellen Rechts und beantragt, das Urteil des Finanzgerichts (FG) und die Körperschaftsteuerbescheide 1963 und 1965 bis 1968 sowie die Einspruchsentscheidung aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet, sie war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Das FG ist zu Recht davon ausgegangen, daß die Steueransprüche nicht verjährt sind.
1. Durch die Umwandlung der GmbH wurde die Klägerin zum Zeitpunkt der Eintragung des Umwandlungsbeschlusses in das Handelsregister vom 2. Juli 1970 Gesamtrechtsnachfolgerin der GmbH (§§ 5, 24 des Umwandlungsgesetzes - UmwG - vom 6. November 1969, BGBl I 1969, 2081). Damit gingen die Steuerschulden der GmbH auf die Klägerin über (§ 8 Abs. 1 des Steueranpassungsgesetzes - StAnpG -). Hierzu gehören auch die nach § 3 Abs. 5 Nr. 2 c StAnpG mit Ablauf der Streitjahre entstandenen Körperschaftsteuerschulden.
2. Bezüglich der Verjährung sind die Vorschriften des Gesetzes zur Änderung der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze (AOÄG) vom 15. September 1965 (BGBl I 1965, 1356, BStBl I 1965, 643) anzuwenden. Diese gelten für Abgabenansprüche, die mit Ablauf des Kalenderjahres 1965 oder später entstanden sind (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 AOÄG). Die Verjährung kann ab 1. Januar 1966 nur noch nach den neuen Vorschriften der §§ 146, 146 a und 147 der Reichsabgabenordnung (AO) n. F. gehemmt oder unterbrochen werden. Früher vorgenommene Unterbrechungshandlungen bleiben jedoch wirksam (Art. 5 Abs. 3 AOÄG).
a) Körperschaftsteuer 1963
aa) Der ursprüngliche Körperschaftsteuerbescheid 1963 erging an die damals noch bestehende GmbH. Dieser Bescheid unterbrach als Handlung des beklagten FA zur Feststellung des Anspruchs gegen den Verpflichteten (vgl. § 147 Abs. 1 AO a. F.) den Lauf der Verjährung im Jahre 1964 mit der Folge, daß ab 1. Januar 1965 für diesen Anspruch die fünfjährige Verjährungsfrist (§ 144 AO) zu laufen begann. Vom 1. Januar 1965 bis zum Ablauf der nach altem Recht in Gang gesetzten Verjährung zum 31. Dezember 1969 richten sich Hemmung und Unterbrechung der Verjährung nach den §§ 146, 146 a und 147 AO n. F. Die 1969 begonnene Betriebsprüfung hemmte die Verjährung gemäß § 146 a Abs. 3 AO n. F.
bb) Nach § 146 a Abs. 3 AO n. F. wird der Ablauf der Verjährung von Steueransprüchen gehemmt, solange die aufgrund einer Betriebsprüfung ergangenen Steuerbescheide angefochten sind. Gesetzliche Voraussetzung ist somit für das Eingreifen der Ablaufhemmung, daß vor Ablauf der Verjährungsfrist mit einer Betriebsprüfung begonnen oder deren Beginn auf Antrag des Steuerpflichtigen hinausgeschoben wird. Dem Umfang nach wird der Ablauf für die Ansprüche gehemmt, auf die sich die Betriebsprüfung tatsächlich erstreckt, soweit der Prüfer die anspruchsbegründenden Sachverhalte geprüft hat. Als Betriebsprüfung ist der tatsächliche Vorgang der Prüfung gemeint (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 31. März 1976 I R 123/74, BFHE 118, 459, BStBl II 1976, 510). Unerheblich sind schriftliche Vorgänge. Daher ist es unbeachtlich, wenn der Prüfungsbericht oder der Schlußbericht im Streitfall an die nicht mehr bestehende GmbH gerichtet worden sein sollte.
Die Betriebsprüfung erstreckte sich u. a. auf die Körperschaftsteuer 1963. Die Verjährung dieses Steueranspruchs wurde deshalb durch die im November 1969 begonnene Betriebsprüfung gehemmt.
Die Grundsätze des BFH-Urteils vom 22. Mai 1974 I R 259/72 (BFHE 113, 145, BStBl II 1974, 722) stehen der Ablaufhemmung nach § 146 a AO nicht entgegen. Zwar geht in persönlicher Hinsicht die Wirkung der Ablaufhemmung nicht über den steuerlichen Bereich des von der Betriebsprüfung betroffenen Adressaten hinaus. Eine Betriebsprüfung, die nicht beim Steuerpflichtigen, sondern bei einem Dritten durchgeführt wird, hemmt den Ablauf der Verjährung gegen den Steuerpflichtigen nicht (BFH-Urteile vom 6. Mai 1975 VII R 109/72, BFHE 116, 2, BStBl II 1975, 723; vom 18. Mai 1977 I R 36/75, BFHE 122, 248, BStBl II 1977, 652; vom 22. Oktober 1986 I R 107/82, BFHE 148, 507, BStBl II 1987, 293). Im Streitfall ist jedoch die Klägerin als Gesamtrechtsnachfolgerin der GmbH in die verfahrensrechtliche Stellung eingetreten, die durch den Rechtsvorgänger bereits begründet war. Die Verjährung des Körperschaftsteueranspruchs gegen die GmbH war durch die bei ihr begonnene Betriebsprüfung bereits gehemmt. Als die Klägerin durch die Umwandlung in die Rechtsstellung der GmbH eintrat, war die Verjährungshemmung somit bereits wirksam. Die Klägerin muß daher die Rechtsfolgen tragen, die sich aus den Handlungen gegenüber der GmbH ergeben haben (vgl. BFH-Urteil vom 24. März 1970 I R 141/69, BFHE 98, 531, BStBl II 1970, 501).
cc) Ob die hemmende Wirkung durch die Betriebsprüfung gemäß § 146 a Abs. 3 AO dadurch weggefallen ist, daß der aufgrund der Betriebsprüfung ergangene Bescheid aus formellen Gründen aufgehoben und damit der Bescheid ,,unanfechtbar" i. S. des § 146 a Abs. 3 AO geworden ist (so Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., Anm. 9 zu § 171 AO 1977; offenlassend Urteil des BFH vom 17. Februar 1982 II R 176/80, BFHE 135, 234, BStBl II 1982, 524), kann dahinstehen. Denn die Anfechtung des gegen die GmbH gerichteten Steuerbescheides ist ein weiteres den Ablauf der Verjährung hemmendes Ereignis gemäß § 146 a Abs. 1 AO (Urteil in BFHE 135, 234, BStBl II 1982, 524).
Gemäß § 146 a Abs. 1 AO verjähren Ansprüche aus dem Sachverhalt, der dem Verfahren über den Rechtsbehelf zugrundeliegt, nicht vor Ablauf von sechs Monaten, nachdem die Abgabenfestsetzung unanfechtbar geworden ist. Die Ablaufhemmung wird nicht dadurch rückwirkend beseitigt, daß die Abgabenfestsetzung aufgrund der Sprungklage durch Verfügung des FA vom 5. April 1977 aufgehoben worden ist (vgl. BFH-Urteil vom 26. November 1974 VII R 45/72, BFHE 114, 522, BStBl II 1975, 460; Tipke/Kruse, a. a. O., Anm. 2 zu § 146 a AO). Wie der BFH im Urteil in BFHE 114, 522, BStBl II 1975, 460 ausgesprochen hat, bietet § 146 a Abs. 1 AO keinen Anhaltspunkt dafür, daß die Rücknahme des angefochtenen Bescheides die verjährungshemmende Anfechtung aufheben könnte. Für einen Fortfall der Ablaufhemmung besteht auch schon deshalb keine Grundlage, weil die verjährungshemmende Wirkung nicht von dem Bescheid selbst, sondern von der Einlegung des Rechtsbehelfs ausgeht. Darüber hinaus würde auch die Annahme, daß durch die Aufhebung des angefochtenen Bescheides die verjährungshemmende Wirkung des Rechtsbehelfsverfahrens rückwirkend entfallen würde, dem Zweck der gesetzlichen Regelung des § 146 a Abs. 1 AO nicht entsprechen, der insbesondere sicherstellen will, daß Rechtsbehelfsverfahren durchgeführt werden können, ohne durch den Eintritt der Verjährung sinnlos zu werden. Dieser Zweck wird nur gewahrt, wenn die durch die Einlegung des Rechtsbehelfs bewirkte Ablaufhemmung bis zum Ablauf von sechs Monaten nach dem endgültigen Abschluß des Rechtsbehelfsverfahrens andauert, auch wenn die Abgabenfestsetzung im Verlaufe des Rechtsbehelfsverfahrens aufgehoben wird. Da die nunmehr angefochtenen Steuerbescheide innerhalb von sechs Monaten nach Aufhebung des ursprünglichen Bescheides ergingen, war die Verjährung noch nicht eingetreten. Die Steueransprüche gegen die Klägerin verjähren daher nicht, bevor das gegenwärtige Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist (vgl. Art. 97 § 10 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung - EGAO 1977 - vom 14. Dezember 1976, BGBl I 3341, I 1977, 667, BStBl I, 694).
dd) Die Hemmung der Verjährung nach § 146 a AO ist zeitlich nicht begrenzt. Zwar lag die Betriebsprüfung zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Bescheides über sechs Jahre zurück. Wie bereits im Urteil vom 3. Mai 1979 I R 49/78 (BFHE 128, 364, BStBl II 1979, 738) entschieden worden ist, läßt jedoch der klare Wortlaut des § 146 a AO die Auslegung nicht zu, daß die Ablaufhemmung durch einen anderen als einen der in dieser Vorschrift genannten Gründe beendet werden könnte. Etwaigen Unbilligkeiten kann durch die Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben, insbesondere der Verwirkung begegnet werden (BFH-Urteil vom 19. Dezember 1979 I R 23/79, BFHE 129, 462, BStBl II 1980, 368).
ee) Rechtsfehlerfrei hat das FG im Streitfall eine Verwirkung der Steueransprüche abgelehnt.
Als Anwendungsfall des Verbots widersprüchlichen Tuns (venire contra factum proprium) greift die Verwirkung nur ein, wenn ein Anspruchsberechtigter durch sein Verhalten beim Verpflichteten einen Vertrauenstatbestand dergestalt geschaffen hat, daß nach Ablauf einer gewissen Zeit die Geltendmachung des Anspruchs als illoyale Rechtsausübung empfunden wird. Das bloße Untätigbleiben der Finanzbehörden reicht hierfür nach ständiger Rechtsprechung des BFH jedoch nicht aus (vgl. die Urteile vom 22. Juni 1977 I R 171/74, BFHE 123, 321, 324, BStBl II 1978, 33, und vom 14. September 1977 II R 74/76, BFHE 123, 299, 305, BStBl II 1978, 168). Zwar ist es denkbar, in besonders gelagerten Ausnahmefällen Verwirkung aufgrund bloßen Zeitablaufs zu bejahen (vgl. BFHE 126, 130, 140, BStBl II 1979, 121). Ein solcher besonderer Fall liegt jedoch nicht vor. Die Finanzbehörden haben nach Übersendung der Betriebsprüfungsberichte im Jahre 1970 im darauffolgenden Jahr den geänderten Bescheid und im Jahre 1977 die angefochtenen Steuerbescheide erlassen. Bei dieser Rechts- und Sachlage hat das FG zutreffend dem Umstand Bedeutung beigemessen, daß die Klägerin aufgrund des Ergebnisses der Betriebsprüfung mit Steuernachforderungen rechnen mußte.
Tatsachen, aus denen sich sonst eine Verwirkung der Steueransprüche herleiten ließe, insbesondere ein Verhalten des FA, aus dem die Klägerin hätte entnehmen können, die Behörde werde die aufgrund der Betriebsprüfung anfallenden Steuern nicht mehr geltend machen, hat das FG nicht festgestellt und sind von der Klägerin auch nicht vorgetragen worden.
Das FA war somit nicht gehindert, den Körperschaftsteuerbescheid 1963 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu ändern.
b) Körperschaftsteuer 1965 bis 1968
Die Verjährung der Körperschaftsteueransprüche für die Streitjahre 1965 bis 1968 richtet sich gemäß Art. 5 Abs. 1 AOÄG nach den durch das AOÄG geänderten AO-Vorschriften. Die Verjährung endete nicht vor Beginn der Betriebsprüfung im Jahre 1969. Die Betriebsprüfung hemmte die Verjährung gemäß § 146 a Abs. 3 AO. Für den Körperschaftsteueranspruch 1968 konnte dies bereits vor Beginn der Verjährungsfrist geschehen. § 146 a Abs. 3 AO verlangt lediglich, daß spätestens vor Ablauf der Verjährungsfrist eine Betriebsprüfung begonnen wird, um eine Hemmung zu erreichen.
Die Verjährung der Körperschaftsteueransprüche 1965 bis 1968 ist im übrigen aus denselben Gründen, wie unter a) dargelegt, nicht eingetreten.
Fundstellen
Haufe-Index 415899 |
BFH/NV 1989, 78 |