Entscheidungsstichwort (Thema)
Zu den Voraussetzungen der Entscheidung nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO durch das Finanzgericht
Leitsatz (NV)
1. Die in das Ermessen des Finanzgerichts gestellte Entscheidung nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO, den Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf aufzuheben, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, setzt voraus, daß das Finanzgericht - in nachvollziehbarer Weise - im konkreten Fall eine einen erheblichen Aufwand an Kosten und Zeit erfordernde Aufklärung für notwendig hält. Die allgemeine ,,hohe und zunehmende Belastung" des Gerichts kann zwar bei der gebotenen Ermessensausübung eine Rolle spielen, vermag aber nicht die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß solches Ermessen ausgeübt werden darf.
2. Im Rahmen der für die Entscheidung nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO anzustellenden Ermessenserwägungen hat das Gericht auch zu berücksichtigen, welche Ermittlungsmaßnahmen voraussichtlich ergriffen werden müssen. Handelt es sich hierbei um die Erhebung von Zeugenbeweis, so wird die Kassation der Verwaltungsentscheidungen und die Übertragung der Beweiserhebung i. d. R. ermessensfehlerhaft sein, weil es sich um eine typisch richterliche Aufklärungsmaßnahme handelt.
3. Zum Vorliegen eines Verfahrensfehlers des Finanzamts.
4. Es verstößt gegen die Grundordnung des Verfahrens, wenn das Finanzgericht über einen unselbständigen Teil eines Steuerbescheides in der Sache entscheidet und den Steuerbescheid hinsichtlich eines weiteren - unselbständigen - Teils ohne Sachentscheidung aufhebt. Nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO ist das Finanzgericht darauf beschränkt, die Verwaltungsentscheidungen - insgesamt - aufzuheben.
5. Begehrt der Kläger Steuerbefreiung aus Rechtsgründen, obwohl nur eine Billigkeitsmaßnahme in Betracht kommt, kann das FG eine Verpflichtung nach § 101 Satz 2 FGO nicht aussprechen.
Normenkette
FGO § 100 Abs. 2 S. 2, § 101 S. 2
Tatbestand
Mit den Umsatzsteuererklärungen 1972 und 1973 machte die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) für vier Lieferungen von Schuhen italienischer Herkunft, die für Abnehmer im Währungsgebiet Mark der Deutschen Demokratischen Republik (WgM-DDR) bestimmt waren, Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 1, § 6 des Umsatzsteuergesetzes (UStG 1967) - Ausfuhrlieferung - geltend. Nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) waren Grundlage dieser Lieferungen zwei Verträge der Klägerin mit der Firma G in Italien sowie Importverträge zwischen der Firma Z in Leipzig und der Firma G. Die erste Lieferung im Juli 1972 gelangte vom Lager der Klägerin in Frankfurt / Main per Lkw der DDR-Spedition D zu den Abnehmern der Z in das WgM-DDR. Weitere Lieferungen im Dezember 1972 sowie im Juli und Dezember 1973 wurden zunächst von Frankfurt aus per Bahnfracht an die N Transport AG in Basel versendet. Die N Transport AG veranlaßte den Transport auf das Zollager der Spedition S in Frankfurt / Main, wiederum per Bahnfracht und mit denselben Waggons. Von Frankfurt aus erfolgte die Verteilung der Ware entsprechend den von der Z zur Verfügung gestellten Abnehmerverzeichnissen auf Lkw der Spedition D und der Transport in das WgM-DDR.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA - ) vertrat die Auffassung, die erste Lieferung vom Juli 1972 sei als sog. Dreiecksgeschäft gemäß Abschn. A Teil I Abs. 3 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift über die umsatzsteuerliche Behandlung des innerdeutschen Waren- und Dienstleistungsverkehrs zwischen den Währungsgebieten der Deutschen Mark und der Mark der Deutschen Demokratischen Republik (VwV zu § 26 Abs. 4 UStG 1967) vom 16. Mai 1973 (BStBl I 1973, 532) über eine Lieferung im Rahmen des Berliner Abkommens mit 6 v. H. zu besteuern, weil der Buch- und Belegnachweis durch Vorlage des Warenbegleitscheins und des Frachtbriefes erbracht worden sei. Die weiteren Lieferungen seien keine steuerfreien Ausfuhrlieferungen i. S. von § 4 Nr. 1 UStG 1967, weil die Liefergegenstände nicht ins Ausland, sondern in das WgM-DDR gelangt seien. Aus den vorliegenden schriftlichen Vereinbarungen ergebe sich, daß schon bei Abschluß des Kaufvertrages mit der Firma G sowohl die Endabnehmer im WgM-DDR als auch Versandart und Versandweg festgestanden hätten. Demgemäß seien die Lieferungen bereits mit der Übergabe der Schuhe an den ersten Frachtführer (Deutsche Bundesbahn) ausgeführt und die Verfügungsmacht unmittelbar den Abnehmern im WgM-DDR und gleichzeitig der Firma G verschafft worden (Reihengeschäft i. S. von § 3 Abs. 2 UStG 1967).
Mit dem - erfolglosen - Einspruch und der Klage hat die Klägerin bestritten, daß sie bereits bei Beginn der Versendung alles Erforderliche getan habe, um die Lieferungen an die Endabnehmer gelangen zu lassen und daß die N Transport AG und die Spedition S von ihr beauftragte Spediteure gewesen seien.
Das FG kam zu dem Ergebnis, daß die erste Lieferung der Klägerin vom Juli 1972 zwar nicht als steuerfreie Ausfuhrlieferung beurteilt werden könne, daß aber die Voraussetzungen eines sog. Dreiecksgeschäftes gemäß VwV vom FA zu Recht angenommen worden seien. Im Hinblick auf die drei weiteren Lieferungen kam das FG zu dem Ergebnis, daß das FA keine konkreten Ermittlungen tatsächlicher Art zu der Frage angestellt habe, ob die Klägerin ein steuerpflichtiges sog. Versendungsreihengeschäft im Inland oder eine steuerfreie Ausfuhrlieferung oder gar eine nichtsteuerbare Lieferung im Ausland ausgeführt habe. Hierin liege ein wesentlicher Verfahrensmangel (§ 88 Abs. 1 der Abgabenordnung - AO 1977 -). Die für die Aufklärung des streitigen Sachverhalts erforderliche eingehende Buchprüfung und Zeugenvernehmung könne das Gericht nicht ohne einen erheblichen Aufwand an Kosten und Zeit durchführen. Im Hinblick auf die derzeit hohe und zunehmende Belastung des entscheidenden Senats sei es daher geboten, von § 100 Abs. 2 Satz 2 und § 101 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) Gebrauch zu machen und den streitigen Sachverhalt nicht bis zur Entscheidungsreife zu ermitteln. Dementsprechend hat das FG die Umsatzsteuerbescheide 1972 und 1973 und die Einspruchsentscheidung insoweit aufgehoben, als das FA abweichend von den Steuererklärungen die Umsätze für die Lieferungen Dezember 1972 und Juli und Dezember 1973 der Umsatzsteuer unterworfen hat und das FA verpflichtet, die Klägerin insoweit neu zu bescheiden. Im übrigen hat das FG die Klage abgewiesen.
Mit der Revision macht das FA unter anderem fehlerhafte Anwendung des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO geltend und beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin hat sich zu der Revision des FA nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Streitsache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Das FG hat die Vorschrift des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO verletzt, hat den § 101 FGO zu Unrecht angewendet, hat gegen die Grundordnung des Verfahrens verstoßen und hat das angefochtene Urteil nicht widerspruchsfrei abgefaßt.
1. a) Der erkennende Senat kann der Auffassung der Vorinstanz nicht folgen, daß die für erforderlich gehaltene weitere Sachaufklärung (Zeugenvernehmung und Buchprüfung) mit einem erheblichen Aufwand an Kosten und Zeit verbunden sei.
Die Ausführungen des FG lassen nicht erkennen, daß die für erforderlich gehaltene Zeugenvernehmung nach Art und Umfang über eine übliche Beweisaufnahme hinausgeht (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 18. Dezember 1979 VIII R 27/77, BFHE 130, 7, BStBl II 1980, 330). Die von der Vorinstanz zur Begründung angeführte ,,hohe und zunehmende Belastung" des Gerichts kann zwar bei der gebotenen Ermessensausübung im Rahmen des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO eine Rolle spielen, vermag aber nicht die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß solches Ermessen ausgeübt werden darf. Zu den Voraussetzungen gehört u. a., daß das FG - in nachvollziehbarer Weise - gerade im konkreten Fall eine einen erheblichen Aufwand an Kosten und Zeit erfordernde Aufklärung für nötig hält.
Ergänzend weist der erkennende Senat noch auf folgendes hin:
Nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO ,,kann" das FG den Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf aufheben, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Im Rahmen der hier anzustellenden Ermessenserwägungen hat das Gericht auch zu berücksichtigen, welche Ermittlungsmaßnahmen voraussichtlich ergriffen werden müssen. Handelt es sich hierbei - wie im Streitfall - um die Erhebung von Zeugenbeweis, so wird die Kassation der Verwaltungsentscheidungen und die Übertragung der Beweiserhebung auf das FA in der Regel ermessensfehlerhaft sein, weil es sich um eine typisch richterliche Aufklärungsmaßnahme handelt (vgl. auch Ziemer / Haarmann / Lohse / Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Tz. 9558, 9559). Dazu kommt, daß bei dem vom FG eingeschlagenen Weg kaum davon ausgegangen werden kann, daß das Verfahren beim FA abgeschlossen werden wird (vgl. BFH-Urteil vom 22. September 1983 IV R 109/83, BFHE 140, 132, BStBl II 1984, 342 unter 2. c der Urteilsgründe), so daß das FG mit der Folge weiterer Verzögerung wiederum mit der Streitsache befaßt würde.
Entsprechendes gilt für die Ansicht des FG zur Einschaltung eines Buchsachverständigen. Es läßt sich nicht nachvollziehen, daß wirklich eine eingehende Buchprüfung durch das FA unumgänglich wäre und daß nicht eine Würdigung einzelner Schriftstücke durch das FG genügen könnte.
b) Der Senat kann danach offenlassen, ob das FG - wie das FA meint - zu Unrecht einen Verfahrensfehler angenommen hat. Nach dem BFH-Urteil vom 29. Mai 1984 VIII R 177/78 (BFHE 141, 272, BStBl II 1984, 661) wird ein Verfahrensmangel des FA nur dann angenommen, wenn das FG zu dem Ergebnis kommt, das FA habe von seinem Standpunkt aus eine weitere Sachaufklärung betreiben müssen. Im Hinblick hierauf hat das FA mit der Revision ausgeführt, das FG habe sich mit der Bemerkung begnügt, die Sache sei nicht hinreichend überprüft. Tatsächlich habe das FA alles getan, was nach Lage der Verhältnisse notwendig gewesen sei; Anlaß zu weiterer Sachaufklärung habe nicht bestanden. Der Sachverhalt sei auch zwischen den Beteiligten nicht umstritten gewesen. Meinungsverschiedenheiten hätten nur im Hinblick auf die Anwendung von gesetzlichen Befreiungsvorschriften und die Auslegung von Verwaltungsrichtlinien bestanden.
2. Die Vorentscheidung ist auch deshalb fehlerhaft und wegen eines Verstoßes gegen die Grundordnung des Verfahrens aufzuheben, weil durch sie die Steuerpflicht der Lieferung Juli 1972 bestätigt und im Tenor die Klage teilweise (,,im übrigen . . .") abgewiesen worden ist, wobei nicht einmal klar wird, ob sich die teilweise Klageabweisung nicht auch auf das Streitjahr 1973 beziehen soll.
Das FG hat damit über einen - unselbständigen - Teil des Steuerbescheides 1972 in der Sache entschieden und den Steuerbescheid hinsichtlich eines weiteren - unselbständigen - Teils, nämlich der Steuerpflicht der Lieferung Dezember 1972, ohne Sachentscheidung aufgehoben. Entsprechendes gilt für den Umsatzsteuerbescheid 1973, dessentwegen die Aufhebung ebenfalls ,,insoweit . . ." ausgesprochen worden ist und auf den sich möglicherweise die Klageabweisung ,,im übrigen" gleichfalls bezieht.
Dies ist mit § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO nicht vereinbar. Nach dieser Vorschrift ist das FG darauf beschränkt, den Steuerbescheid und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf aufzuheben. Zulässig ist nur die Aufhebung der Verwaltungsentscheidungen ,,ohne Entscheidung in der Sache selbst", d. h. ohne Überprüfung der materiellen Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung; die Aufhebung erfaßt notwendig den ganzen Steuerbescheid (vgl. BFH-Urteil vom 20. Oktober 1970 II 167/64, BFHE 100, 56, BStBl II 1970, 826, 830; Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 100 FGO Tz. 7 am Ende; anderer Ansicht FG-Berlin, Urteil vom 14. Januar 1975 V 129 /74, Entscheidungen der Finanzgerichte 1975, 483; Ziemer / Haarmann / Lohse / Beermann, a.a.O., Tz. 9573). Hieran ändert nichts, daß die Bemessung der Steuer für die Lieferung Juli 1972 mit 6 v. H. auf der Anwendung der zu § 26 Abs. 4 UStG 1967 ergangenen VwV beruht und sich damit als solche nicht als Steuerfestsetzung, sondern als Billigkeitsmaßnahme darstellt (BFH-Urteil vom 19. Juli 1984 V R 84 /80, Umsatzsteuer-Rundschau 1984, 284). Denn das Begehren der Klägerin war nicht auf eine Billigkeitsmaßnahme, sondern auf Steuerfreiheit aus Rechtsgründen gerichtet; die Versagung der Steuerfreiheit ist aber Teil der Steuerfestsetzung. Da, wovon das FG in den Entscheidungsgründen selbst ausgeht, Gegenstand der Klage die Rechtmäßigkeit des Umsatzsteuerbescheids und nicht ein Anspruch der Klägerin auf (teilweisen) Erlaß der Steuer ist, kommt auch die vom FG ausgesprochene Verpflichtung des FA gemäß § 101 Satz 2 FGO nicht in Betracht.
3. Schließlich besteht ein Widerspruch zwischen der Fassung des Tenors und dem diesbezüglichen Teil der Entscheidungsgründe (S. 7 zweiter und dritter Absatz der Vorentscheidung).
Fundstellen
Haufe-Index 416063 |
BFH/NV 1989, 788 |