Entscheidungsstichwort (Thema)
Zum Begriff des Pflegekindes
Leitsatz (NV)
Lebt ein Kind mit seiner Mutter im Haushalt der Großeltern, die den Unterhalt des Kindes sowie der Mutter vollständig bestreiten, so besteht zwischen den Großeltern und ihrem Enkelkind kein Pflegekindschaftsverhältnis. Dies gilt jedenfalls so lange, wie der Mutter die Pflege und Obhut des Kindes nicht völlig unmöglich ist (Anschluß an BFH-Urteil vom 9. März 1989 VI R 94/88, BFHE 157, 66, BStBl II 1989, 680).
Normenkette
EStG 1987 § 32 Abs. 1 Nr. 2
Tatbestand
Streitig ist, ob der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) wegen seines Enkelkindes die Eintragung eines Kinderfreibetrages auf der Lohnsteuerkarte beanspruchen kann.
Die 1966 geborene Tochter (T) des Klägers und seiner Ehefrau, der während des Revisionsverfahrens verstorbenen Klägerin, ist verheiratet. Aus der Ehe ist ein 1984 geborenes Kind (E) hervorgegangen. Der Ehemann lebt im Ausland, hat keinen Kontakt zu T und E und leistet keinen Unterhalt. Seit ihrer Rückkehr nach Deutschland im Jahre 1984 besuchte T wieder das Gymnasium und bereitete sich im Streitjahr 1987 auf das Abitur vor. Sie wohnte mit ihrem Kind im Haushalt der Kläger, die den Unterhalt von T und E bestritten. Eigene Einkünfte oder Vermögen hatte T nicht.
Im Lohnsteuer-Ermäßigungsverfahren beantragten die Kläger, für E als Pflegekind einen zusätzlichen Kinderfreibetrag auf den Lohnsteuerkarten 1987 einzutragen. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) lehnte dies - auch im Einspruchsverfahren - ab.
Mit ihrer Klage machten die Kläger geltend, T sei - wegen ihrer derzeitigen schulischen Ausbildung und eines auf mehrere Jahre angelegten Studiums - weder in der Lage, die Unterhaltskosten von E zu tragen, noch sei es ihr aus tatsächlichen Gründen möglich, die Personensorge auszuüben. In rechtlicher Hinsicht sei das Personensorgerecht der T dadurch behindert, daß es den Eltern nur gemeinsam zustehe, der Vater aber sich der Mitwirkung vollständig entziehe. Außerdem besäßen der Vater wie auch E die . . . Staatsangehörigkeit. Nach dortigem Recht stehe die elterliche Gewalt allein dem Vater zu. Entsprechendes gelte für das Aufenthaltsbestimmungsrecht. E werde von den Klägern, die nicht mehr berufstätig seien, wie ein Pflegekind betreut und es bestehe zwischen ihnen ein dem Eltern-Kind-Verhältnis ähnliches Band. Der Kläger nehme die Stelle des Vaters ein; die Klägerin kümmere sich weitgehend um das Kind, da T wegen ihrer Ausbildung tagsüber in der Schule sei.
Das Finanzgericht (FG) sah die Klage entsprechend dem Feststellungsantrag der Kläger als zulässig an (Fortsetzungsfeststellungsklage). Auch in der Sache gab es den Klägern recht und führte zur Begründung im wesentlichen aus:
Nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1986 seien Pflegekinder Personen, mit denen der oder die Steuerpflichtigen durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden seien und die sie in ihren Haushalt aufgenommen hätten. Diese Voraussetzung treffe hier zu. Denn E lebe seit ihrer Geburt im Haushalt ihrer Großeltern und werde von diesen weit überwiegend betreut und allein unterhalten. Dieser Zustand werde während des sich an das Abitur im Mai 1988 anschließenden fünf- bis sechsjährigen Studiums der T andauern, da an eine Erwerbstätigkeit während des Studiums nicht gedacht sei.
Auch das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern bestehe nicht mehr (§ 32 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStG). Bei der Auslegung des Begriffs ,,Obhuts- und Pflegeverhältnis" sei entscheidend auf das soziale Umfeld (Kost und Logis, Kleidung und sonstiger Unterhalt einschließlich der sozialen Kontakte) abzustellen, das ein oder beide Elternteile für ihr Kind herzustellen vermöchten. Nicht entscheidend sei, daß die leibliche Mutter (oder der Vater) die Möglichkeit habe und wahrnehme, das Kind in zeitlich beschränktem Umfang psychisch zu betreuen, insbesondere mit ihm zu spielen. Nichts anderes gelte, wenn die leiblichen Eltern von vornherein nicht in der Lage seien, das erforderliche soziale Umfeld für die Existenz und Entwicklung ihres Kindes herzustellen. So liege der Fall hier. Denn seit der Geburt der E könne die vermögens- und einkunftslose Mutter sich wegen ihrer intensiven schulischen Verpflichtungen nur in sehr beschränktem Umfang um ihre Tochter kümmern. Dies gelte wegen ihrer vielen Studienreisen auch für die unterrichtsfreien Tage und die Ferien. Der Vater kümmere sich um E weder persönlich noch finanziell. E sei in einem eigenen Zimmer im Hause der Kläger untergebracht und werde von diesen weit überwiegend betreut und voll unterhalten; die sozialen Kontakte zu E würden somit fast ausschließlich von den Klägern bestimmt. Das soziale Umfeld werde daher von diesen und nicht von T hergestellt.
Auch die weitere Voraussetzung des § 32 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStG, daß der Steuerpflichtige das Kind mindestens zu einem nicht unwesentlichen Teil auf seine Kosten unterhalte, sei unstreitig gegeben.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung des § 32 Abs. 1 Nr. 2 Satz 3 EStG. Es meint, Abschn. 177 Abs. 2 Satz 2 der Einkommensteuer-Richtlinien (EStR) ab 1987 interpretiere den Willen des Gesetzgebers richtig, der mit der Regelung in § 32 Abs. 1 Nr. 2 Satz 3 EStG die Doppelberücksichtigung eines Kindes sowohl bei den Pflegeeltern als auch bei den leiblichen Eltern weitgehend habe ausschließen wollen (Hinweis auf BTDrucks. 10/2884 S. 102). Ein Elternteil, der mit seinem Kind im Haushalt der Großeltern lebe, stehe dem Kind immer so nahe, daß er auch tatsächlich auf das Kind einwirken könne. Daß dennoch im Einzelfall ein Obhuts- oder Pflegeverhältnis nicht mehr bestehen könnte, können für den Normalfall ausgeschlossen werden; nur dieser aber könne Grundlage einer notwendigerweise verallgemeinernden Richtlinie sein. Ein Vorgehen der Finanzbehörde nach der Richtlinie sei auch zweckmäßig; es erspare dem Betroffenen eine Überprüfung der tatsächlichen Verhältnisse, die auch ein Eindringen in den sensiblen Bereich der Familie zur Folge hätte, und trage zum anderen den Erfordernissen eines Massenverfahrens Rechnung.
Auch ohne Berücksichtigung der Richtlinie ergäbe sich im Streitfall nichts anderes. Denn das FG habe nicht nur den Begriff ,,Obhuts- und Pflegeverhältnis" unrichtig ausgelegt, sondern auch vernachlässigt, daß nach dem Gesetz ein solches Verhältnis ,,nicht mehr bestehen" dürfe.
Die Klägerin ist während des Revisionsverfahrens verstorben. Sie ist vom Kläger allein beerbt worden. Dieser hat erklärt, daß der Rechtsstreit, den er insoweit als Rechtsnachfolger der Klägerin aufnehme, fortgesetzt werden solle.
Der Kläger wendet sich gegen den Vortrag des FA, die Kindesmutter habe ,,uneingeschränkt" das Recht der elterlichen Sorge innegehabt. Das Sorgerecht hätten die Eltern vielmehr gemeinsam gehabt, bis das Familiengericht nach dem Streitjahr die elterliche Sorge der Mutter übertragen habe. Da die Mutter, seine Tochter, damals durch die Abiturvorbereitung - für sie besonders schwer nach dreijähriger Schulunterbrechung - voll ausgelastet gewesen sei, hätten die ganztägige Sorge für das Enkelkind voll seine Ehefrau und er selbst übernommen. Nunmehr, nach Ablegung des Abiturs und Studienaufnahme seiner Tochter mit Abwesenheit während der Vorlesungszeiten obliege ihm, dem Kläger, ganztägig die Wartung des Enkelkindes. Von einem Obhutsverhältnis zu den leiblichen Eltern könne daher nicht gesprochen werden; ein Pflegeverhältnis habe zum Vater nie und zur Mutter nur in zeitlich äußerst eingeschränktem Maße bestanden.
Zu beanstanden seien auch die Ausführungen des FA zur Bedeutung der einschlägigen EStR. Auch ein angebliches ,,Motiv des Gesetzgebers" könne keine Richtschnur für die Auslegung sein. Dabei handele es sich nur um eine Gesetzesmaterialie, die nicht Inhalt des Gesetzes geworden sein müsse. Von einer Doppelberücksichtigung seines Enkelkindes für das Streitjahr und das folgende Jahr könne jedenfalls keine Rede sein. Dies sei allein entscheidend, da es auf die tatsächlichen und nicht auf die ,,normalen Umstände" ankomme.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Entgegen der Auffassung des FG war kein zusätzlicher Kinderfreibetrag auf den Lohnsteuerkarten der Kläger einzutragen.
Gemäß § 39 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 EStG 1987 bescheinigt die Gemeinde auf der Lohnsteuerkarte die Zahl der Kinderfreibeträge für die dem Arbeitnehmer zuzurechnenden Kinder mit Ausnahme u. a. der Pflegekinder. Hat der Arbeitnehmer Pflegekinder, so ist die Zahl der Kinderfreibeträge vom FA auf Antrag entsprechend zu ändern (§ 39 Abs. 3 Satz 4 EStG). Zwischen den Klägern und ihrem Enkelkind bestand jedoch kein Pflegekindschaftsverhältnis.
Der für das Einkommensteuerrecht erstmals mit Wirkung ab 1986 gesetzlich definierte Begriff des Pflegekindes (§ 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG) setzt voraus, daß ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band zwischen Pflegeeltern und Pflegekind besteht, das Kind in den Haushalt der Pflegeeltern aufgenommen ist und von diesen mindestens zu einem nicht unwesentlichen Teil auf ihre Kosten unterhalten wird. Weitere Voraussetzung ist, daß das Kind aus dem Obhuts- und Pflegeverhältnis zu seinen leiblichen Eltern ausgeschieden ist. Dem liegt die Erwägung zugrunde, daß ohne die Lösung der Verbindung zu den natürlichen Bezugspersonen (leibliche Eltern) nicht gleichzeitig ein dem Eltern-Kind-Verhältnis ähnliches Band zwischen dem Kind und anderen Personen entstehen kann. Insofern enthält § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG eine Änderung gegenüber der bis einschließlich 1985 geltenden, auf § 15 Abs. 1 Nr. 8 der Abgabenordnung (AO 1977) beruhenden Rechtslage, nach der ein Pflegekind - auch einkommensteuerrechtlich - nicht außerhalb der Obhut und Pflege seiner leiblichen Eltern stehen mußte.
Im Streitfall befand sich das Kind E weiterhin in einem natürlichen Pflege- und Obhutsverhältnis zu seiner Mutter, auch wenn es im Haushalt der Großeltern lebte und von diesen betreut und voll unterhalten wurde. Maßgebend ist, daß die Kindesmutter T sich der Sorge um das Kind nicht vollständig entledigt hatte, wie es etwa der Fall wäre, wenn ein allein bei den Pflegeeltern lebendes Kind nur gelegentlich von seiner Mutter besucht wird. Vielmehr war auch T in den Haushalt ihrer Eltern aufgenommen und hatte demgemäß die Möglichkeit, sich um ihr Kind zu kümmern. Ihr stand das elterliche Sorgerecht zu, das sie infolge der Dauerabwesenheit des Kindesvaters allein auszuüben berechtigt war (§ 1678 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches). Hierzu war sie aufgrund der räumlichen Nähe grundsätzlich auch jederzeit in der Lage. Dem steht nicht entgegen, daß die tatsächlichen Einwirkungsmöglichkeiten der T wegen häufiger Abwesenheit von zu Hause und starker Inanspruchnahme durch die Abiturvorbereitung eingeschränkt waren. Insoweit unterscheidet sich die hier vorliegende Mutter-Kind-Beziehung nicht grundsätzlich von den Fällen, in denen eine alleinstehende, berufstätige oder in Ausbildung befindliche Mutter ihr Kind tagsüber anderen Menschen zur Betreuung überlassen muß. Deshalb kommt es auch nicht darauf an, in welchem Umfang der - z. B. durch Ausbildung oder Berufstätigkeit - anderweitig in Anspruch genommenen Mutter die Möglichkeit verbleibt, sich um ihr Kind zu kümmern. Dies gilt jedenfalls so lange, wie der Mutter die Pflege und Obhut des Kindes nicht - z. B. durch eigene Pflegebedürftigkeit - völlig unmöglich ist. Hierfür bestehen im Streitfall jedoch keine Anhaltspunkte.
Aus diesen Erwägungen heraus hat der Senat mit Urteil vom 9. März 1989 VI R 94/88 (BFHE 157, 66, BStBl II 1989, 680) entschieden, daß ein Pflegekindschaftsverhältnis seit der Neuregelung des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG (mit Wirkung ab 1986) in aller Regel nicht mehr angenommen werden kann, wenn die Kindesmutter zusammen mit ihrem Kind im Haushalt ihrer Eltern lebt. Für dieses Ergebnis sprechen im übrigen Gründe der Praktikabilität. Denn es würde zu einem unangemessenen Eindringen in die Privatsphäre der Steuerpflichtigen führen, wenn die Finanzbehörde oder die gerichtliche Tatsacheninstanz ins einzelne gehende Ermittlungen darüber anzustellen hätten, wie eng die persönliche Beziehung zwischen Mutter und Kind sich gestaltet, um danach das Bestehen eines Obhuts- und Pflegeverhältnisses beurteilen zu können.
Nach den vorstehenden Ausführungen hat das FG den Inhalt des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals des Obhuts- und Pflegeverhältnisses verkannt, indem es auf das Herstellen des sozialen Umfelds statt auf die natürliche Eltern-Kind-Beziehung abgestellt hat. Da, wie dargelegt, das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu einem Elternteil noch bestand, hat das FA das Vorliegen eines Pflegekindschaftsverhältnisses zu Recht verneint.
Fundstellen
Haufe-Index 417640 |
BFH/NV 1992, 90 |