Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Hat ein Steuerpflichtiger sich nach Abklingen einer Erkrankung nicht innerhalb angemessener Frist in geeigneter Weise persönlich davon überzeugt, ob wichtige Fristen zu wahren sind, so kann dies zur Versagung der Nachsicht führen, zumal wenn der Steuerpflichtige sich auch sonst selbst um seine Steuerangelegenheiten kümmert.
Normenkette
AO § 86
Tatbestand
Der Revisionskläger (Steuerpflichtige - Stpfl. -), ein Fabrikant, erwarb durch notariell beurkundeten Vertrag vom 3. Juli 1958 ein Grundstück. Die durch vorläufigen Steuerbescheid vom 2. Oktober 1958 angeforderte Grunderwerbsteuer entrichtete der Stpfl. Nachdem die Höhe der vertraglich übernommenen Wegebauverpflichtung feststand, setzte das Finanzamt (FA) durch einen am 6. April 1962 abgesandten Steuerbescheid die Grunderwerbsteuer endgültig fest.
Mit Schreiben vom 10. August 1962 legte der Stpfl. Einspruch ein und beantragte Steuerbefreiung, da das Grundstück inzwischen mit Wohnungen des sozialen Wohnungsbaus bebaut worden sei. Wegen Versäumung der Rechtsmittelfrist beantragte er Nachsichtgewährung, da ihm die Befreiungsmöglichkeit erst jetzt durch seinen Steuerbevollmächtigten bekanntgeworden sei. Außerdem habe er den endgültigen Steuerbescheid wegen einer Erkrankung nicht prüfen können. Möglicherweise sei ihm der Bescheid durch sein Geschäftspersonal verspätet vorgelegt worden. Bei Abschluß des Kaufvertrags habe er auch noch nicht gewußt, wie gebaut werden sollte.
Das FA lehnte den Antrag auf Nachsichtgewährung ab und verwarf den Einspruch als unzulässig.
Die Berufung begründete der Stpfl. in erster Linie wiederum mit seiner Erkrankung. Nach der dem Finanzgericht (FG) vorgelegten ärztlichen Bescheinigung stand der Stpfl. vom 1. April bis 10. Mai 1962 wegen akuter Stirnhöhlenentzündung mit Reizung der Hirnhäute in Behandlung und konnte deshalb auf ärztliche Anordnung seinen geschäftlichen Aufgaben nicht nachgehen. Außerdem habe das FA es unterlassen, ihm einen Antragsvordruck wegen der Möglichkeit der Befreiung nach dem nordrhein-westfälischen Gesetz über Grunderwerbsteuerbefreiung für den Wohnungsbau (LG) i. d. F. vom 19. Juni 1958 (GVBl für das Land Nordrhein-Westfalen, BStBl II S 105) zuzusenden. Schließlich dürfe bei einer so ausgefallenen Steuer wie der Grunderwerbsteuer hinsichtlich der Nachsichtgewährung nicht ein so strenger Maßstab wie bei anderen Steuern angelegt werden.
Auch die Berufung hatte keinen Erfolg. Nach Auffassung des FG ergab sich aus der Erkrankung des Stpfl. als Inhaber eines größeren gewerblichen Unternehmens keine entschuldbare Verhinderung im Sinne des § 86 AO. Jedenfalls bleibe es unentschuldbar, daß der Stpfl. erst drei Monate nach der ärztlichen Behandlung Einspruch eingelegt habe. Für eine an sich mögliche Nachsichtgewährung auch gegen die Versäumung der Zwei- Wochen-Frist (§§ 83 Abs. 2, 87 Abs. 2 AO) seien keine Gründe vorgetragen. Unkenntnis der Befreiungsvorschrift sei - wie der Stpfl. selbst einräume - kein Grund für Nachsichtgewährung.
Mit der Rb. rügt der Stpfl. Aktenverstoß und unrichtige Rechtsanwendung. Er beantragt im wesentlichen unter Wiederholung seines bisherigen Vorbringens Aufhebung der Vorentscheidungen. Entgegen der Ansicht des FG sei die Krankheit so plötzlich und heftig aufgetreten, daß der Stpfl. seinem Personal entsprechende Anweisungen nicht mehr habe geben können. Der Steuerbescheid sei von der Angestellten zu den Akten gelegt worden, da sich nach deren Ansicht keine Folgen daraus ergeben hätten. Der Bescheid sei ihm nach der Krankheit gar nicht zu Gesicht gekommen, so daß er - wiederum entgegen der Meinung des FG - sofort danach kein Rechtsmittel habe einlegen können. Das FA treffe ein Verschulden, weil es damals die durch die Herabsetzung der Wohnflächengrenze von 80 v. H. auf 66 2/3 v. H. ermöglichte Steuerbefreiung nicht geprüft habe.
Entscheidungsgründe
Auch der ab 1. Januar 1966 als Revision zu behandelnden Rb. (§§ 115, 184 Abs. 1 Nr. 1 und 2 FGO in Verbindung mit § 286 AO a. F.) muß der Erfolg versagt bleiben.
Nachsicht wegen Versäumung einer Rechtsmittelfrist - auch der Zwei-Wochenfrist des § 87 AO a. F. (§ 83 Abs. 2 AO a. F.; vgl. jetzt §§ 83, 86 AO i. d. F. der FGO vom 6. Oktober 1965, § 56 FGO) - kann nach § 86 AO nur gewährt werden, wenn die Frist ohne Verschulden versäumt worden ist. Zwar ist im Interesse der materiellen Rechtsverfolgung nach der Rechtsprechung des Senats bei der Prüfung der Verschuldensfrage kein zu strenger Maßstab anzulegen (vgl. Urteil des Senats II 92/59 vom 10. Februar 1960, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Reichsabgabenordnung. § 86, Rechtsspruch 56 mit weiteren Nachweisen auch der Rechtsprechung des VI. Senats; ferner Urteil des I. Senats I 72/63 vom 31. Juli 1963, StRK, Reichsabgabenordnung, § 86, Rechtsspruch 108). Andererseits muß aber die Frage, welches Maß an Sorgfalt dem Steuerpflichtigen zuzumuten ist, unter Würdigung der Gesamtumstände des Einzelfalls und insbesondere der persönlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen beantwortet werden. Allgemein muß, wie der BFH in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, von den Steuerpflichtigen gefordert werden, daß sie in ihren steuerlichen Angelegenheiten - gerade auch in der Behandlung von Rechtsmitteln - mindestens dieselbe Sorgfalt aufwenden wie in ihren beruflichen Angelegenheiten (vgl. Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, § 86 Anm, 4, Abs. 3, 4; Mattern-Messmer, Abgabenordnung, Tz. 355; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung, § 86 Tz. 6, alle mit weiteren Nachweisen auch der Rechtsprechung).
Krankheit ist nicht ohne weiteres und in jedem Falle ein Nachsichtsgrund; sie kann es aber vor allem dann sein, wenn es sich um eine so schwere oder plötzliche Erkrankung handelt, daß der Steuerpflichtige dadurch gehindert ist, seine steuerrechtlichen Angelegenheiten selbst zu besorgen und auch nicht in der Lage ist, sich einen Vertreter zu bestellen (vgl. insoweit BFH-Urteile III 246/58 U vom 19. Februar 1960, BStBl 1960 III S. 168, Slg. Bd. 70 S. 451; V 1/60 vom 25. Februar 1960, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1962 Nr. 136 S. 140). Das FG hat diese Rechtsgrundsätze nicht verkannt. Es konnte auch ohne Verstoß gegen Akteninhalt und Denkgesetze zu der den Senat insoweit bindenden Feststellung (§ 288 Ziff. 1, § 296 Abs. 1 AO a. F., vgl. § 118 Abs. 1, 2 FGO) gelangen, daß aus dem Vorbringen des Stpfl. - als in solchen Dingen erfahrenen Inhabers eines größeren Unternehmens - nicht zu entnehmen war, er habe auf irgendeine zumutbare Weise genügend Vorkehrungen für den Fall seiner Erkrankung getroffen, um keine Fristen zu versäumen. Sein Bevollmächtigter hatte zwar - auf entsprechende Ausführungen des FA und nur - allgemein bemerkt, er glaube, daß ein Mensch unter solchen Umständen nicht in der Lage sei, seine steuerlichen Angelegenheiten selbst zu besorgen oder selbst zu bestellen. Als eine ausreichende Glaubhaftmachung im Einzelfall (§ 87 Abs. 2 AO a. F., § 86 Abs. 2 AO n. F., § 56 Abs. 2 FGO) dafür, daß die Erkrankung entsprechend plötzlich und heftig aufgetreten sei und angehalten habe, mußte das FG diese Bemerkung aber auch nicht in Verbindung mit der ärztlichen Bescheinigung werten.
Es erübrigt sich jedoch auch schon deshalb, in dieser Richtung noch weitere Ermittlungen etwa durch erneute ärztliche Befragung anzustellen, da das FG ausdrücklich nicht diesen Gesichtspunkt zur tragenden Urteilsgrundlage gemacht, sondern es letztlich entscheidend darauf abgestellt hat, daß der Stpfl. erst drei Monate nach Entlassung aus der ärztlichen Behandlung Einspruch eingelegt und um Nachsicht gebeten hat, ohne hierfür Gründe geltend zu machen, außer denjenigen daß der Steuerbescheid vom Personal abgelegt wurde und nicht ihm, sondern erst seinem Bevollmächtigten zur Kenntnis kam, als dieser die Grundstücks- und Gebäudekosten zusammenstellte.
Der Stpfl. hat aber nichts dafür vorgetragen oder gar glaubhaft gemacht und muß es sich deshalb als sein eigenes Verschulden anrechnen lassen, daß er weder vorsorglich allgemein noch auch nach Abklingen der Erkrankung sein Personal angewiesen hatte, ihm wenigstens wichtige Schriftstücke zur nachträglichen überprüfung vorzulegen (vgl. Mattern-Messmer, a. a. O., Tz. 364; Tipke-Kruse, a. a. O., § 86 Tz. 22 vorletzter Absatz). Jedenfalls mußte der Stpfl. selbst und von sich aus, nachdem geschäftliche Dinge während seiner Erkrankung von ihm ferngehalten worden waren, in geeigneter Weise - etwa durch Befragen oder Durchsicht der Eingänge seit seiner Erkrankung - sich davon überzeugen, ob wichtige Fristen zu wahren seien, zumal er sich - wie sein Bevollmächtigter vorgetragen hat - um seine steuerlichen Angelegenheiten persönlich kümmerte. Dies mußte zwar nicht sofort unter Hintansetzung alles übrigen, aber doch in angemessener Frist seit Entlassung aus der ärztlichen Behandlung geschehen. Es ist unter diesen Umständen nicht zu beanstanden, wenn das FG das Verstreichenlassen von drei Monaten als unentschuldbar bezeichnet hat, abgesehen davon, daß auch dann nicht der Stpfl. selbst auf Grund eigener überprüfung möglicher Fristen, sondern sein Bevollmächtigter aus anderen Gründen von dem Steuerbescheid Kenntnis erhielt. Zu einer baldigen eigenen Vergewisserung hätte im Streitfall um so mehr Anlaß bestanden, als der Stpfl. noch Ende März 1962 dem FA auf erneute Anfrage die zur Ermittlung der endgültigen Höhe der Gegenleistung erforderlichen Angaben (Wegeausbaukosten) mitgeteilt hatte, also mit dem endgültigen Steuerbescheid in Kürze rechnen mußte, jedenfalls davon nicht überrascht wurde.
Schließlich kann sich der Senat der in dieser Instanz erneut geäußerten Meinung des Stpfl., das FA treffe insoweit ein Verschulden, als es seinerzeit eine mögliche Steuerbefreiung nicht geprüft habe, nicht anschließen. Abgesehen davon, daß der Stpfl. nach seiner eigenen Einlassung bei Abschluß des Kaufvertrags selbst noch nicht gewußt hat, wie er bauen wollte, trifft es zwar zu, daß das FA den Sachverhalt von Amts wegen auch zugunsten des Stpfl. zu erforschen (§ 204 AO) und auf mögliche Steuervergünstigung dann hinzuweisen hat, wenn der Sachverhalt hierzu einen hinreichenden Anlaß bietet. Da der Kaufvertrag einen Hinweis auf eine etwa in Betracht kommende Grunderwerbsteuerbefreiung nicht enthielt der Stpfl. andererseits ausdrücklich die aus dem Vertrag entstehenden Steuern übernahm, kann dem FA nicht vorgehalten werden, es habe praktisch die Fristversäumung (mit-) verursacht. Der Senat hält an der Rechtsprechung fest, daß es den Finanzämtern ohne besonderen Anlaß nicht zugemutet werden kann, in jedem Fall von sich aus zu prüfen, ob eine Grunderwerbsteuerbefreiung auch auf dem Gebiet des sozialen Wohnungsbaus in Betracht kommt. Im einzelnen wird auf das Urteil II 79/59 vom 1. März 1961 (HFR 1961 Nr. 154 S. 151) verwiesen. Im übrigen gereicht dem Stpfl. nicht die Tatsache, daß er eine Befreiungsvorschrift nicht gekannt hat, im Rahmen der Nachsichtgewährung zum Nachteil, sondern daß er es unterlassen hat, sich selbst rechtzeitig über eine etwaige Befreiungsvorschrift zu unterrichten. Hierzu aber hatte er, nachdem zunächst der vorläufige Steuerbescheid erteilt war, bis zum endgültigen Steuerbescheid eine Frist von fast vier Jahren, in der er sich auch über die Art und über die Finanzierung des Bauvorhabens klar werden mußte. Darauf, daß das LG erst kurz vor Vertragsabschluß hinsichtlich der Wohnflächengrenzen geändert worden war, kommt es also unter diesen Umständen nicht mehr an.
Fundstellen
Haufe-Index 412062 |
BStBl III 1966, 437 |
BFHE 1966, 517 |
BFHE 85, 517 |