Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung trotz Ablauf der Jahresfrist
Leitsatz (NV)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann ausnahmsweise trotz Ablauf der Jahresfrist des § 56 Abs. 3 FGO u. a. gewährt werden, wenn die Prüfung der Rechtzeitigkeit der Klageerhebung allein aus in der Sphäre des Gerichts liegenden Gründen nicht innerhalb der Jahresfrist erfolgt ist und beide Beteiligten aufgrund gerichtlicher Verfügungen, z. B. eine durch die Setzung einer Ausschlußfrist zusätzlich qualifizierten Aufforderung an die Kläger, die Klage (materiell) zu begründen, der Ansicht waren, daß demnächst eine materiell-recht liche Entscheidung ergehen würde. Die verspätete Prüfung der Rechtzeitigkeit der Klageerhebung darf nicht durch ein unsachgemäßes Verhalten oder ein unrichtiges Vorbringen der Partei mitverursacht worden, sondern muß ausschließlich der Sphäre des Gerichts zuzuordnen sein.
Normenkette
FGO § 56 Abs. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) erhoben durch Schriftsatz vom 27. Juli 1991, der am 28. Juli 1991 zur Post gegeben wurde und am 30. Juli 1991 beim Finanzgericht (FG) eingegangen ist, Klage gegen eine Feststellung des Einheitswerts und eine Festsetzung des Grundsteuermeßbetrags durch den Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt -- FA --). Die Einspruchsentscheidungen vom 20. Juni 1991 waren den Klägern am 29. Juni 1991 zugestellt worden.
Die Kläger wurden vom FG zunächst unter Mitteilung des Aktenzeichens zur Vorlage der Klagebegründung aufgefordert. Einen Hinweis auf den Zeitpunkt des Eingangs der Klageschrift bei Gericht enthielt dieses Schreiben nicht. Die Kläger wurden noch insgesamt dreimal aufgefordert, die Klagebegründung vorzulegen, zuletzt unter Setzung einer Ausschlußfrist. Die Kläger haben daraufhin ihre Klage durch Telebrief vom 14. April 1992 begründet.
Nachdem die Kläger bereits vom FG zur mündlichen Verhandlung geladen worden waren, wurden sie durch den Berichterstatter durch Schreiben vom 10. Mai 1995 auf Zweifel an der fristgerechten Klageerhebung und auf den Eingang der Klageschrift am 30. Juli 1991 (Dienstag) hingewiesen.
Die Kläger beantragten daraufhin am 24. Mai 1995, ihnen wegen der Versäumung der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Hierzu wiesen sie darauf hin, daß die Klageschrift vom 27. Juli 1991 am Sonntag, dem 28. Juli 1991, um 21.16 Uhr in den Richtungsbriefkasten des Postamtes ... in X durch Herrn G eingeworfen worden sei. Unter Beachtung postüblicher Laufzeiten von bundesweit einem Tag hätte der Schriftsatz fristgerecht am 29. Juli 1991 beim FG eingehen müssen. Verzögerungen gegenüber der üblichen Postlaufzeit dürften nicht zu Lasten des Steuerpflichtigen gehen.
Das FG hat die Klage wegen Versäumung der Klagefrist als unzulässig angesehen. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne "schon deswegen" nicht gewährt werden, weil seit Erhebung der Klage ein Zeitraum von mehr als einem Jahr verstrichen sei (§ 56 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Den Klägern sei es auch nicht infolge höherer Gewalt oder in Analogie zu diesem Rechtsgedanken unmöglich gewesen, innerhalb der Jahresfrist einen Wiedereinsetzungsantrag zu stellen. Ein unmittelbares äußeres Ereignis, das die Kläger an der Stellung ihres Wiedereinsetzungsantrags gehindert hätte, liege im Streitfall nicht vor. Die Kläger seien auch nicht aus Gründen, die allein in der Sphäre des Gerichts lägen, gehindert gewesen, einen Wiedereinsetzungsantrag binnen Jahresfrist zu stellen. Vielmehr hätten die Kläger "durch ihre überaus kurzfristige Klageübersendung und anschließend durch ihr prozeßverzögerndes Verhalten selbst wesentlich dazu beigetragen, daß das Gericht nicht innerhalb eines Jahres nach Klageeingang in der Lage gewesen sei, die Rechtzeitigkeit der Klageerhebung zu prüfen".
Die Kläger, die die Klageschrift einen Tag vor Fristablauf ohne Vereinbarung einer Eilzustellung zur Post gegeben hätten, hätten mit der Möglichkeit einer verspäteten Zustellung rechnen müssen. Denn es sei aus Pressemitteilungen gerichtsbekannt, daß zwischen 10 und 20 v. H. der in X aufgegebenen Postsendungen ihren inländischen und sogar ihren innerörtlichen Adressaten nicht am Folgetag erreichten. Die Kläger hätten sich nach Aufgabe des Briefes zur Post nicht mehr um die Einhaltung der Klagefrist gekümmert. Zusätzlich hätten sie den Gegenstand ihres Klagebegehrens erst nach Ablauf von fast neun Monaten nach Einreichung der Klage und offensichtlich nur deshalb mitgeteilt, weil der Berichterstatter ihnen hierfür eine Ausschlußfrist gesetzt habe. Die Klage sei deshalb bis zum Eingang der Klagebegründung am 16. April 1992 schon aus anderen Gründen unzulässig gewesen, so daß für das Gericht keine Veranlassung bestanden habe, sich mit der Prüfung der Rechtzeitigkeit der Klageerhebung zu befassen.
Zudem hätten die Kläger mit ihrer Klage begründung Akteneinsicht beantragt, diese aber nicht wahrgenommen. Bei der beantragten Einsichtnahme in die Steuerakten hätten die Kläger anhand des Anschreibens, mit dem das Gericht dem FA die Klage zu gestellt habe, den verspäteten Klageeingang feststellen können. Dagegen sei das Gericht nicht in der Lage gewesen, diese Prüfung selbst durchzuführen, weil ihm die FA-Akten innerhalb der Jahresfrist wegen der späten Klagebegründung und der anschließend begehrten Akteneinsicht nicht vorgelegen hätten.
Hiergegen richtet sich die -- vom Bundesfinanzhof (BFH) zugelassene -- Revision der Kläger. Diese machen geltend, das FG habe zu Unrecht ihren Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt.
Die Kläger beantragen, das Urteil des FG aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
1. Der Senat vermag der Rechtsauffassung des FG nicht zu folgen, im Streitfall stehe der von den Klägern beantragten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand der Ablauf der Antragsfrist von einem Jahr nach § 56 Abs. 3 FGO entgegen. Nach dieser Vorschrift kann nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt oder ohne Antrag bewilligt werden, außer wenn der Antrag vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war. Das FG hat zwar zutreffend angenommen, daß die Kläger nicht infolge höherer Gewalt gehindert waren, innerhalb der Jahresfrist einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu stellen. Es hat aber übersehen und deswegen auch nicht geprüft, ob den Klägern trotz Ablauf der Jahresfrist des § 56 Abs. 3 FGO ausnahmsweise Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist. Diese Möglichkeit wird von der Rechtsprechung zum einen in den Fällen bejaht, in denen Wiedereinsetzung auch ohne Antrag in Betracht kommt, soweit die maßgeblichen, für eine Wiedereinsetzung sprechenden Tatsachen vor Ablauf der Jahresfrist für das Gericht erkennbar sind (vgl. BFH-Urteile vom 28. Februar 1978 VII R 92/74, BFHE 124, 487, BStBl II 1978, 390, unter IV. 3., und vom 15. Mai 1996 X R 99/92, BFH/NV 1996, 891), und zum anderen, wenn die Prüfung der Rechtzeitigkeit der Klageerhebung allein aus in der Sphäre des Gerichts liegenden Gründen nicht innerhalb der Jahresfrist erfolgt ist und beide Beteiligten aufgrund gerichtlicher Verfügungen der Ansicht waren, daß demnächst eine materiell-rechtliche Entscheidung ergehen würde (vgl. Koch in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 56 Rdnr. 63, unter Hinweis auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 2. Juli 1981 2 AZR 324/79, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung -- HFR -- 1982, 240).
Im Streitfall kann offenbleiben, ob die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ohne Antrag nach § 56 Abs. 2 Satz 4 FGO vorlagen; insbesondere innerhalb der Jahresfrist eine die Wiedereinsetzung rechtfertigende Lage bestanden hat. Denn der Ablauf der Jahresfrist des § 56 Abs. 3 FGO steht hier bereits deshalb dem Wiedereinsetzungsbegehren der Kläger nicht entgegen, weil die Fristversäumnis ausschließlich auf der Sachbehandlung durch das Gericht, insbesondere auf der unterlassenen Prüfung der Rechtzeitigkeit der Klage, beruht und die Beteiligten aufgrund der durch die Setzung einer Ausschlußfrist zusätzlich qualifizierten Aufforderung an die Kläger, die Klage (materiell) zu begründen, davon ausgehen konnten, das Gericht habe keine Zweifel am fristgerechten Eingang der Klageschrift.
Es ist mit dem Sinn und Zweck des § 56 Abs. 3 FGO nicht vereinbar, auch solche Wiedereinsetzungsanträge auszuschließen, zu deren Verspätung es nur deshalb gekommen ist, weil das Gericht infolge Überlastung seiner Aufgabe, Recht zu gewähren, erst nach Ablauf der Jahresfrist nachkommen konnte. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die verspätete Prüfung der Rechtzeitigkeit der Klageerhebung nicht durch ein unsachgemäßes Verhalten oder ein unrichtiges Vorbringen der Partei mitverursacht wurde, sondern ausschließlich der Sphäre des Gerichts zuzuordnen ist.
Diese Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt. Das Gericht war in der Lage, rechtzeitig vor Ablauf der Jahresfrist die Zulässigkeit der Klage, insbesondere die Einhaltung der Klagefrist, zu prüfen. Das FG kann sich insoweit nicht darauf berufen, das FA habe die Steuerakten, in der sich die Postzustellungsurkunde befand, dem Gericht erst nach Ablauf der Jahresfrist übersandt. Nach § 71 Abs. 2 FGO ist die beteiligte Finanzbehörde gehalten, die den Streitfall betreffenden Akten nach Empfang der Klageschrift an das Gericht zu übersenden. Verzichtet das Gericht (z. B. wegen des Antrags auf Akteneinsicht) vorerst auf die Vorlage der Steuerakte, hat es die Möglichkeit, das FA zu bitten, eine Ablichtung der Urkunde über die Postzustellung der Einspruchsentscheidung zu übersenden. Bleibt das Gericht hinsichtlich der Prüfung der Rechtzeitigkeit der Klageerhebung insgesamt untätig und gibt es -- wie im Streitfall -- durch die Aufforderung, die Klage in materieller Hinsicht zu begründen, zu erkennen, daß Zweifel hinsichtlich der Rechtzeitigkeit der Klageerhebung nicht bestehen, steht der Ablauf der Jahresfrist des § 56 Abs. 3 FGO einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht entgegen.
2. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG wird im zweiten Rechtsgang zu prüfen haben, ob die Kläger ohne Verschulden verhindert waren, die Klagefrist einzuhalten (§ 56 Abs. 1 FGO). Hierbei wird es zu beachten haben, daß der Bürger nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Ausschöpfung von Rechtsmittelfristen auf die Einhaltung der üblichen Postlaufzeiten vertrauen kann (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Februar 1976 2 BvR 813/75, HFR 1976, 265). Er darf die Rechtsmittelfristen voll ausschöpfen. Verzögerungen der Briefbeförderung oder -zustellung, die er nicht zu vertreten hat, dürfen ihm nicht zugerechnet werden.
Das FG wird deshalb dem Vortrag der Kläger nachzugehen haben, der Brief mit der Klageerhebung sei am 28. Juli 1991 in einen bestimmten Richtungsbriefkasten in X eingeworfen worden und hätte -- bei normaler Postlaufzeit -- rechtzeitig noch am Montag, dem 29. Juli 1991, das FG in Y erreichen müssen.
Fundstellen
Haufe-Index 422208 |
BFH/NV 1997, 859 |
NVwZ 1998, 552 |