Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung bei Ablauf der Jahresfrist gem. § 56 Abs. 3 FGO
Leitsatz (amtlich)
1. Eine ohne Anschreiben vom Beklagten übersandte Postzustellungsurkunde einer Einspruchsentscheidung ist ein "Schriftsatz" i.S.d. § 77 Abs. 1 S. 4 FGO, der dem anderen Beteiligten von Amts wegen zu übermitteln ist.
2. Unterbleibt eine solche Übermittlung, wodurch der Klägerin die Möglichkeit genommen wird, den verspäteten Eingang ihrer Klage zu erkennen und Wiedereinsetzung in die Klagefrist zu beantragen, ist aus rechtsstaatlichen Gründen ein der höheren Gewalt vergleichbarer Fall gem. § 56 Abs. 3 FGO anzunehmen, sodass die dortige Jahresfrist einem verspäteten Wiedereinsetzungsantrag nicht im Wege steht.
3. Die Jahresfrist findet aber Anwendung, wenn die Klägerin die Wiedereinsetzung in die Klagefrist aus nicht ausschließlich in der Sphäre des Gerichts liegenden Gründen erst nach Ablauf der Jahresfrist beantragt hat. Dies ist der Fall, wenn der Prozessbevollmächtigte der Klägerin Einsicht in die Sachakte genommen hat und die dortige Postzustellungsurkunde über die Einspruchsentscheidung nicht zur Kenntnis genommen hat.
Normenkette
FGO § 56 Abs. 3, § 77 Abs. 1 S. 4
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die zolltarifliche Einreihung von sog. "Sonnen- oder Solarsimulatoren".
Die Klägerin beantragte am 7. August 2012 die Erteilung einer verbindlichen Zolltarifauskunft (vZTA) für ein "Testsystem für Solarzellen und -module". Mit vZTA vom 20. Juni 2013 (vZTA-Nummer: DE-xxx) reihte der Beklagte die Ware in die Unterposition 9030 3200 KN ein. Hiergegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 11. Juli 2013 Einspruch ein und begehrte vorrangig eine Einreihung in die Unterposition 9027 8013 KN. Mit Einspruchsentscheidung vom 15. Dezember 2015 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück und stellte die Entscheidung den früheren Prozessbevollmächtigten der Klägerin mittels Postzustellungsurkunde am Samstag, dem 19. Dezember 2015 zu. Das Büro der früheren Prozessbevollmächtigten vermerkte im Folgenden einen Eingang am 21. Dezember 2015 auf der zugegangenen Ausfertigung der Einspruchsentscheidung.
Mit am Donnerstag, dem 21. Januar 2016 bei Gericht eingegangenem Fax vom selben Tag hat die Klägerin durch ihre früheren Prozessbevollmächtigten Klage erhoben und verfolgt ihr Begehren weiter. Auf Seite 2 der Klageschrift wird vorgetragen, dass die Einspruchsentscheidung am 21. Dezember 2015 bei den früheren Klägerbevollmächtigten eingegangen sei. Die Klage werde mit gesondertem Schriftsatz weiter begründet werden. Am 25. Januar 2016 hat der stellvertretende Senatsvorsitzende verfügt, dem Beklagten die Klage zur Kenntnisnahme zuzustellen und die früheren Prozessbevollmächtigten der Klägerin gebeten, die Klage binnen eines Monats zu begründen.
Mit Fax vom 2. Februar 2016 sandte der Beklagte das Empfangsbekenntnis über die Zustellung der Klageschrift an das Gericht zurück. Dem Empfangsbekenntnis beigefügt war ohne ein Anschreiben oder eine Stellungnahme die Urkunde über die Zustellung der Einspruchsentscheidung, aus der sich die Zustellung am 19. Dezember 2015 ergibt. Das Empfangsbekenntnis und die beiliegende Zustellungsurkunde wurden von der Geschäftsstelle des Senats lediglich zur Akte genommen und dem Senatsvorsitzenden nicht vorgelegt. Es erfolgte auch keine Übersendung der Postzustellungsurkunde an die früheren Klägerbevollmächtigten. Die Akte wurde dem Senatsvorsitzenden erst anlässlich des Eingangs des Schriftsatzes vom 25. Februar 2016 wiedervorgelegt, in dem die früheren Prozessbevollmächtigten Akteneinsicht beantragten. Hierauf übersandte der Beklagte die Sachakten in Form eines Ordners, in den die früheren Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 23. März 2016 Einsicht nahmen. Auf Bl. 302 des Ordners befindet sich die Zustellungsurkunde über die Einspruchsentscheidung im Original.
Mit Schriftsatz vom 29. Juni 2016 begründeten die früheren Klägerbevollmächtigten die Klage. Die Klageerwiderung des Beklagten ging am 22. August 2016 bei Gericht ein. Darin begründete der Beklagte seine Einreihungsentscheidung und brachte - wie auch im Folgenden - keine Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Klage vor. Bis zum Ende des Jahres 2016 trugen die Beteiligten weiter zur Einreihung der streitgegenständlichen Ware vor. Im Frühjahr 2018 legitimierte sich der aktuelle Prozessbevollmächtigte der Klägerin zum Verfahren.
Der Senat förderte das Verfahren wieder ab Frühjahr 2020. Dabei wurde aufgrund Bl. 302 der Sachakte erstmalig das tatsächliche Zustellungsdatum der Einspruchsentscheidung bemerkt und auch, dass die Zustellungsurkunde bereits zusammen mit dem Empfangsbekenntnis 2016 vom Beklagten übersandt worden war.
Auf den Hinweis des Gerichts vom 24. November 2020, dass die Klagefrist nicht eingehalten sein dürfte, hat die Klägerin am 8. Dezember 2020 die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Aufgrund eines Büroversehens der bei den früheren Prozessbevollmächtigten mit der Bearbeitung des Posteingangs betr...