Leitsatz (amtlich)
1. Die Grundsätze der FGO über Fristversäumnisse und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gelten für das FA in gleicher Weise wie für den Steuerpflichtigen.
2. Beruht die Fristversäumnis auf einem Versehen des Angestellten in der Poststelle des FA, so ist dem FA nach den gleichen Grundsätzen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren wie beim Versehen eines Boten des Steuerpflichtigen oder eines Prozeßbevollmächtigten.
2. Der Vorsteher, Sachgebietsleiter oder Sachbearbeiter des FA ist ebensowenig wie ein Rechtsanwalt oder ein Angehöriger der steuerberatenden Berufe verpflichtet, die Durchführung der Anordnung über die Absendung des Briefes persönlich zu überwachen oder sich am nächsten Tag durch Nachfrage beim Boten oder beim Gericht von der Einhaltung der Anweisung zu überzeugen.
Normenkette
FGO § 56
Tatbestand
Die GmbH (Klägerin) hat ein voll eingezahltes Stammkapital von 50 000 DM. Geschäftsführer sind die beiden alleinigen Gesellschafter.
Das FA - Beklagter - stellte durch Bescheid vom 30. Oktober 1964 den gemeinen Wert der GmbH-Anteile zum 31. Dezember 1962 nach dem sogenannten Stuttgarter Verfahren (Abschn. 76 ff. VStR 1963) auf 492 DM je 100 DM Stammkapital fest. Es legte der Ermittlung des Vermögenswerts den Einheitswert des Betriebsvermögens zum 1. Januar 1963 zugrunde. Im Einheitswert waren die Pensionsanwartschaften der beiden Gesellschafter nach § 62a Abs. 2 des Bewertungsgesetzes in der zum 1. Januar 1963 gültigen Fassung - anschließend BewG genannt - mit 21 000 DM bewertet.
Die GmbH legte gegen den Bescheid Berufung ein, die nach Inkrafttreten der FGO als Klage zu behandeln war. Sie meinte, die Pensionsanwartschaften seien bei der Anteilsbewertung mit ihrem versicherungsmathematischen Barwert von 58 677 DM anzusetzen.
Das FG gab der Sprungklage statt und setzte den gemeinen Wert der Anteile auf 435 DM je 100 DM Stammkapital herab. Es führte in dem in EFG 1967, 112 veröffentlichten Urteil aus: Die Anteilsbewertung müsse sich danach richten, wie ein Erwerber der Anteile das Vermögen der GmbH bewerten würde. Ein Erwerber der Anteile werde den Wert der Pensionsanwartschaften nicht nach § 62a BewG ermitteln. Für ihn sei nur der versicherungsmathematische Barwert maßgebend, da er dem Betrag entspreche, der zur Deckung der Verpflichtung am Stichtag erforderlich sei. Der Vermögenswert der GmbH sei daher um den Unterschiedsbetrag des nach § 62a BewG ermittelten Werts von 21 000 DM zum versicherungsmathematischen Barwert von 58 677 DM zu kürzen. Dies ergebe einen gemeinen Wert der Anteile zum 31. Dezember 1962 von 435 DM. Das Urteil wurde dem FA am 8. Dezember 1966 zugestellt.
Das FA legte gegen die Entscheidung mit Schriftsatz vom 3. Januar 1967 Revision ein. Der Vorsitzende des erkennenden Senats verlängerte auf Antrag des FA die Revisionsbegründungsfrist bis zum 31. Mai 1967. Die Begründungsschrift vom 30. Mai 1967 ging beim BFH erst am 5. Juni 1967 ein. Auf Hinweis des Senatsvorsitzenden beantragte das FA mit Schriftsatz vom 19. Juni 1967 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Begründungsfrist. Es trug vor, der Vorsteher habe die Begründungsschrift am 30. Mai 1967 unterschrieben. Der Sachbearbeiter habe das Schreiben am Vormittag desselben Tages zur Poststelle des FA gegeben und den Angestellten in der Poststelle auf die Dringlichkeit der Weiterbeförderung hingewiesen. Durch ein Versehen habe der Angestellte den Brief erst am 31. Mai 1967 bei der Bundespost aufgegeben. Der Vorsteher des Postamts habe auf Anfrage bestätigt, daß die bis 20.30 Uhr eingehende und für München bestimmte Post am nächsten Tag dem BFH in München zugestellt werde.
Das FA begehrt mit der Revision die Aufhebung des angefochtenen Urteils und Abweisung der Klage.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
I
Die Revision ist zulässig.
Nach § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO ist die Revision beim FG innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich einzulegen und spätestens innerhalb eines weiteren Monats zu begründen. Die Frist für die Revisionsbegründung kann nach § 120 Abs. 1 Satz 2 FGO auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag durch den Vorsitzenden des erkennenden Senats verlängert werden. Das Urteil wurde dem FA am 8. Dezember 1966 zugestellt. Die Revision ging am 3. Januar 1967 rechtzeitig beim FG ein. Die Begründungsfrist wurde auf Antrag des FA vom 2. Februar 1967, beim BFH eingegangen am 3. Februar 1967, durch den Vorsitzenden des erkennenden Senats bis zum 31. Mai 1967 verlängert. Diese Frist hat das FA nicht eingehalten; denn die Revisionsbegründungsschrift vom 30. Mai 1967 erreichte den BFH erst am 5. Juni 1967.
Der Senat gewährt dem FA wegen Versäumung der Frist jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, da das FA die Frist ohne Verschulden nicht eingehalten hat. Nach der Rechtsprechung des BFH gelten die Grundsätze der FGO über Fristversäumnisse und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für das FA in gleicher Weise wie für die Steuerpflichtigen (BFH-Beschlüsse VI R 250/66 vom 27. Januar 1967, BFH 88, 75, BStBl III 1967, 291, und I R 55/67 vom 23. August 1967, BFH 90, 93, BStBl III 1967, 785). Das Verschulden eines gesetzlichen Vertreters oder Bevollmächtigten steht dem eigenen Verschulden des FA oder des Steuerpflichtigen gleich (BFH-Beschluß VI R 155/66 vom 27. Januar 1967, BFH 88, 106, BStBl III 1967, 290). Der Rechtsmittelführer braucht sich jedoch das Verschulden eines Boten, den er mit der Beförderung eines Schriftsatzes beauftragt hat, grundsätzlich nicht als eigenes Verschulden zurechnen zu lassen. Wartet er allerdings mit der Abfassung und Übersendung der Schrift bis zum Ende der Frist, so hat er in besonderem Maße dafür zu sorgen, daß die Schrift rechtzeitig das Gericht erreicht. Es muß den Boten dann ausdrücklich auf die Wichtigkeit und Eilbedürftigkeit der Bestellung hinweisen. Der BFH hat diese Grundsätze in den Urteilen IV 58/57 U vom 27. Juni 1957 (BFH 65, 124, BStBl III 1957, 280) und V 199/60 vom 15. Dezember 1960 StRK, Reichsabgabenordnung, § 86, Rechtsspruch 50) auf Fristversäumnisse durch Boten der Steuerpflichtigen angewandt. Dasselbe gilt jedoch auch für Fristversäumnisse durch Boten des FA.
Das FA hat im Streitfall die Revisionsbegründungsfrist versäumt, weil der Angestellte in der Poststelle des FA den Brief, den er am 30. Mai 1967 erhielt, nicht bis zum Abend des gleichen Tages bei der Bundespost aufgegeben hat. Der Angestellte ist im Sinne des § 56 FGO ein Bote, ebenso wie z. B. eine mit der Beförderung von Briefen beauftragte Hilfskraft eines Rechtsanwalts oder eines Angehörigen der steuerberatenden Berufe. Hätte er den Brief ordnungsgemäß besorgt, so wäre die Revisionsbegründungsschrift nach der Auskunft des Postamtsvorstehers rechtzeitig am 31. Mai 1967, dem letzten Tag der Begründungsfrist, beim BFH eingegangen. Dem steht nicht entgegen, daß die Revisionsbegründungsschrift tatsächlich erst am 5. Juni 1967 beim BFH einging. Denn es ist nicht auszuschließen, daß der Angestellte den Brief nicht - wie vorgetragen - am 31. Mai 1967, sondern einige Tage später bei der Bundespost aufgegeben hat. Der Vorsteher des FA hat den Schriftsatz erst am vorletzten Tag der Frist unterzeichnet. Das FA hat aber dadurch seiner erhöhten Sorgfaltspflicht genügt, daß der Sachbearbeiter des FA den Angestellten in der Poststelle ausdrücklich auf die Dringlichkeit der Weiterbeförderung des Briefes hingewiesen hat.
Die Frist wäre allerdings nicht versäumt worden, wenn der Vorsteher, Sachgebietsleiter oder Sachbearbeiter des FA den Angestellten am nächsten Tag gefragt hätte, ob er den Brief am 30. Mai 1967 befördert habe. Das FA hätte dann telegraphisch noch rechtzeitig um eine weitere Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist beim BFH nachsuchen können. Zu einer solchen Rückfrage war aber der Vorsteher, Sachgebietsleiter oder Sachbearbeiter nicht verpflichtet. Nach der Rechtsprechung des BGH zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 233 ZPO braucht ein Rechtsanwalt die Durchführung seiner Anordnung über die Absendung des Briefes weder persönlich zu überwachen noch sich am nächsten Tage durch Nachfrage bei seinem Büropersonal oder beim Gericht von der Einhaltung seiner Anweisung zu überzeugen, wenn er im Rahmen der äußersten, den Umständen nach angemessenen und vernünftigerweise zu erwartenden Sorgfalt dafür gesorgt hat, daß der Schriftsatz rechtzeitig zur Post gegeben werden sollte (BGH-Urteil II ZR 182/52 vom 18. März 1953, NJW 1953, 824, und Beschluß II ZB 22/53 vom 11. Januar 1954, Lindenmaier-Möhring, Zivilprozeßordnung, § 233, Nr. 47 zu b) [Leitsatz]; Juristische Rundschau 1954 S. 304). Der Senat hat keine Bedenken, diese Grundsätze auch auf die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 56 FGO bei Fristversäumnissen durch den Boten des FA wie des Rechtsanwalts oder eines Angehörigen der steuerberatenden Berufe anzuwenden. Nach dem mit Zustimmung des erkennenden Senats ergangenen Beschluß des VII. Senats des BFH VII B 17/68 vom 11. Dezember 1968 (BFH 94, 433, BStBl II 1969, 190) handelt ein Prozeßbevollmächtigter selbst dann nicht schuldhaft, wenn er die Berechnung der einfachen und seinem Büro geläufigen Fristen gut ausgebildeten und sorgfältig überwachtem Personal überläßt. Dementsprechend kann erst recht kein Verschulden des Prozeßbevollmächtigten angenommen werden, wenn dieser sich unter Hinweis auf die Dringlichkeit und Eilbedürftigkeit des Briefes darauf verläßt, daß der Brief vom Büropersonal weisungsgemäß abgesandt wird. Die Grundsätze über das dem Rechtsanwalt oder einem Angehörigen der steuerberatenden Berufe nicht anzulastende Büroversehen gelten zwar grundsätzlich nicht für innerdienstliche Vorgänge des FA (BFH-Urteil I 63/60 U vom 10. Oktober 1961, BFH 73, 795, BStBl III 1961, 555, und Beschluß I R 55/67, a. a. O.). Hier handelt es sich jedoch nicht um ein Büroversehen, sondern um das Versehen eines Boten. In dieser Hinsicht kann das FA nicht anders behandelt werden als ein Prozeßbevollmächtigter der Steuerpflichtigen.
II.
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
Der Senat hat in dem Urteil III R 100/66 vom 21. März 1969 (BStBl II 1969, 493) entschieden, daß bei der Klage einer GmbH gegen einen einheitlichen und gesonderten Bescheid über die Feststellung des gemeinen Werts von GmbH-Anteilen grundsätzlich alle Gesellschafter, gegen die der Bescheid sich richtet, von Amts wegen nach § 60 Abs. 3 FGO dem Verfahren beizuladen sind, auch wenn sie zur Vertretung der Gesellschaft befugt sind. Auf die Entscheidung wird Bezug genommen.
Der Senat hebt die Vorentscheidung auf und weist die Sache an das FG zurück, weil das FG die beiden vertretungsbefugten Gesellschafter nicht dem Verfahren beigeladen hat. Der von der GmbH angefochtene einheitliche und gesonderte Bescheid vom 30. Oktober 1964 über die Feststellung des gemeinen Werts der GmbH-Anteile zum 31. Dezember 1962 richtete sich gegen die GmbH und gegen die zwei dem FA namhaft gemachten Gesellschafter. Er wurde der GmbH und den Gesellschaftern auch zugestellt. Einspruch und Klage hat jedoch nur die GmbH erhoben. Der von der GmbH erstrebte höhere Abzug der Pensionsanwartschaften würde den nach § 13 Abs. 2 BewG in der vor dem 31. Dezember 1964 gültigen Fassung festzustellenden gemeinen Wert der Anteile der beiden Gesellschafter beeinflussen. Über diese Frage kann das Gericht nur einheitlich gegenüber der GmbH und ihren zwei Gesellschaftern entscheiden. Werden die Gesellschafter nicht dem Verfahren beigeladen, so wirkt nach Inkrafttreten der FGO die gerichtliche Entscheidung nicht ihnen gegenüber. Das FG muß daher die Beiladung der Gesellschafter nachholen.
Fundstellen
Haufe-Index 68598 |
BStBl II 1969, 548 |
BFHE 1969, 85 |