Entscheidungsstichwort (Thema)
Rücknahme einer Referenzmengenfeststellung nach § 48 VwVfG
Leitsatz (amtlich)
Die Rücknahme der rechtswidrigen Feststellung einer Milch- Referenzmenge richtet sich nach § 48 Abs.2 und 4 VwVfG. Diese Regelung ist anzuwenden, wenn die letzte Verwaltungsentscheidung über die Rücknahme nach dem Inkrafttreten des § 10 Abs.1 Satz 1 MOG 1986 (28.August 1986) ergangen ist.
Orientierungssatz
1. In der stillschweigenden Entgegennahme der Mitteilung des Käufers (Molkerei) nach § 4 Abs. 5 Satz 2 MGVO durch das HZA ist ein Feststellungsbescheid zu sehen, durch den die Referenzmenge des Erzeugers entsprechend der Berechnung der Käufers hoheitlich festgesetzt wird. Die Referenzmengenfestsetzung ist ein Grundlagenbescheid i.S. des § 171 Abs. 10 AO 1977 für die Festsetzung der Milchabgabe (vgl. BFH-Rechtsprechung).
2. Bei Anfechtungsklagen ist grundsätzlich auf die Sachlage und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung abzustellen. Das bedeutet, daß bei einer Änderung der Rechtslage nach Erlaß des Verwaltungsakts die Einspruchsbehörde den Sachverhalt nach den veränderten rechtlichen Verhältnissen zu beurteilen hat, falls ihr das nicht nach dem neuen Gesetz verwehrt ist (vgl. Rechtsprechung: BFH, BVerwG).
Normenkette
MOG 1986 §§ 8, 10 Abs. 1 S. 1, § 12 Abs. 1; VwVfG § 48 Abs. 2-4; AO 1977 § 171 Abs. 10, § 367
Verfahrensgang
FG Hamburg (Entscheidung vom 30.06.1989; Aktenzeichen IV 54/87 N) |
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) bewirtschaftete bis zum Jahr 1984 einen Hof in D, den er gepachtet hatte. Für diesen Hof hatte die Molkerei F, an die der Kläger die auf dem Hof produzierte Milch abgeliefert hatte, eine Anlieferungs-Referenzmenge i.S. des § 4 der Milch-Garantiemengen-Verordnung (MGVO) in Höhe von 351 900 kg errechnet. Bereits Jahre vorher hatte der Kläger einen landwirtschaftlichen Betrieb in J gekauft, dessen Bewirtschaftung er im April 1984 übernahm. Für diesen Betrieb hatte die Molkerei J dem Vorbesitzer eine Referenzmenge in Höhe von 32 800 kg errechnet. Mit Schreiben vom 3.Juli 1984 an den Beklagten und Revisionsbeklagten (das Hauptzollamt --HZA--) beantragte der Kläger, für den Hof in J eine Referenzmenge von 351 900 kg festzustellen. Das HZA verwies ihn mit Schreiben vom 27.Juli 1984 an die Molkerei J. Diese errechnete auf den Antrag des Klägers für den Betrieb in J eine Referenzmenge in Höhe von 351 900 kg und meldete dies dem HZA.
Mit Schreiben vom 20.November 1984 teilte das HZA dem Kläger mit, daß ihm lediglich eine Referenzmenge in Höhe von 32 800 kg für seinen neuen Hof in J zustehe, wenn diese Menge auf ihn übertragen werde. Mit Schreiben vom 27.März 1985 widerrief das HZA mit sofortiger Wirkung die Zuteilung der Referenzmenge von 351 900 kg. Eine Bescheinigung der Landwirtschaftskammer, daß ihm die genannte Referenzmenge für den Hof in J zustehe, hatte der Kläger nicht vorgelegt. Auf den Einspruch des Klägers änderte das HZA mit Einspruchsentscheidung vom 11.März 1987 seinen Bescheid vom 27.März 1985 dahin, daß bis 31.März 1987 bei der Abrechnung der Milchabgabe von einer Referenzmenge in Höhe von 351 900 kg ausgegangen, im übrigen aber der Einspruch als unbegründet zurückgewiesen werde.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit Urteil vom 30.Juni 1989 IV 54/87 N als unbegründet ab (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1990, 32).
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
1. Mit dem FG ist davon auszugehen, daß das HZA mit dem angefochtenen Bescheid vom 27.März 1985 einen Verwaltungsakt zurückgenommen hat. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist in der stillschweigenden Entgegennahme der Mitteilung des Käufers (Molkerei) nach § 4 Abs.5 Satz 2 MGVO durch das HZA ein Feststellungsbescheid zu sehen, durch den die Referenzmenge des Erzeugers entsprechend der Berechnung des Käufers hoheitlich festgesetzt wird (vgl. Senatsbeschluß vom 25.März 1986 VII B 164-165/85, BFHE 146, 188, 193). Die durch den Bescheid vom 27.März 1985 zurückgenommene Referenzmengenfeststellung für den Kläger in Höhe von 351 900 kg ist ein solcher Bescheid. Die festgestellte Referenzmenge ist die maßgebende Grundlage für die Festsetzung der Abgabe nach der MGVO (Milchabgabe). Die Referenzmengenfestsetzung stellt also die Besteuerungsgrundlagen dafür fest. Sie ist daher ein Grundlagenbescheid i.S. des § 171 Abs.10 der Abgabenordnung (AO 1977). Die Vorschriften der AO 1977 gelten nach § 8 Abs.2 MOG 1972 bzw. nach § 12 Abs.1 MOG 1986 grundsätzlich entsprechend (vgl. Beschluß des Senats vom 17.Dezember 1985 VII B 116/85, BFHE 145, 289, 291 f.).
2. Ob der angefochtene Rücknahmebescheid vom 27.März 1985 i.d.F. der Einspruchsentscheidung vom 11.März 1987 rechtmäßig ist, entscheidet sich entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht nach den Vorschriften der AO 1977. Diese sind nach § 12 Abs.1 MOG 1986 nur dann entsprechend anzuwenden, wenn nicht durch das MOG selbst eine von diesen Vorschriften abweichende Regelung getroffen worden ist. Eine solche abweichende Regelung enthält § 10 Abs.1 MOG 1986. Diese Regelung betrifft u.a. die Rücknahme von begünstigenden Bescheiden im Fall des § 8 MOG 1986 ("Mengenregelungen"). Ein solcher Fall ist hier gegeben, da es sich um die Feststellung einer Referenzmenge i.S. der MGVO handelt. Die Rücknahme eines solchen Bescheides richtet sich, falls er rechtswidrig ist, nach § 48 Abs.2 bis 4 des Verwaltungsverfahrensgesetzes --VwVfG-- (§ 10 Abs.1 Satz 1 MOG 1986).
Diese Regelung ist hier anzuwenden, obwohl sie erst am 28.August 1986 in Kraft getreten ist (Art.1 Nr.7 und 8, Art.4 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des MOG vom 27.August 1986, BGBl I 1986, 1389, und Bekanntmachung der Neufassung des MOG vom 27.August 1986, BGBl I 1986, 1397), also im Zeitraum zwischen dem Erlaß des Rücknahmebescheids (27.März 1985) und dem der Einspruchsentscheidung (11.März 1987). Der letztgenannte Zeitpunkt ist auch für das anwendbare Recht maßgebend.
Die Neufassung des MOG 1986 enthält keine Übergangsregelung. Folglich ist über ihre Anwendung nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen zu entscheiden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) ist bei Anfechtungsklagen grundsätzlich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung abzustellen (vgl. die Rechtsprechungsübersicht bei Kopp in Festschrift für Menger 1985, 693, 695, Fußnote 14). Das bedeutet, daß bei einer Änderung der Rechtslage nach Erlaß des Verwaltungsakts die Einspruchsbehörde den Sachverhalt nach den veränderten rechtlichen Verhältnissen zu beurteilen hat, falls ihr das nicht nach dem neuen Gesetz verwehrt ist (vgl. z.B. BVerwG-Urteil vom 6.April 1955 V C 76.54, BVerwGE 2, 55, 62; Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 8.Aufl., § 113 Anm.5; § 367 Abs.2 Satz 1 AO 1977). Das entspricht im Ergebnis auch der Rechtsprechung des BFH. Wie der Senat entschieden hat, ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Abrechnungsbescheids der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung maßgebend (Urteil vom 5.August 1986 VII R 167/82, BFHE 147, 398, 401, BStBl II 1987, 8). Und zu einer vergleichbaren Rechtsfrage hat der I.Senat des BFH zum Ausdruck gebracht, daß auf die Rechtslage im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung abzustellen ist, da das Einspruchsverfahren ein verlängertes Veranlagungsverfahren ist und Feststellungs- und Einspruchsverfahren als Einheit anzusehen sind (vgl. Urteil vom 10.Februar 1982 I R 190/78, BFHE 135, 396, 398, BStBl II 1982, 682).
3. Nach § 10 Abs.1 MOG 1986 war das HZA befugt (und verpflichtet), den ursprünglichen Feststellungsbescheid, falls er rechtswidrig war, unter den Voraussetzungen des § 48 Abs.2 bis 4 VwVfG aufzuheben.
a) Der ursprüngliche Bescheid war rechtswidrig. Der Kläger hatte keinen Rechtsanspruch darauf, daß die für seinen bis 1984 bewirtschafteten Pachtbetrieb in F festgestellte Referenzmenge auf seinen ab April 1984 übernommenen Betrieb in J übertragen wurde. Zur Begründung wird auf die Begründung der Einspruchsentscheidung und der Vorentscheidung verwiesen. Die Revision hat insoweit keine Einwendungen erhoben.
b) § 48 VwVfG unterscheidet Verwaltungsakte, die eine einmalige oder laufende Geldleistung oder teilbare Sachleistung gewähren oder hierfür Voraussetzung sind, einerseits (Abs.2) und andere Verwaltungsakte andererseits (Abs.3). Die Rücknahme der erstgenannten Verwaltungsakte setzt eine Abwägung der Interessen des Beteiligten mit jenen der Öffentlichkeit voraus, die Rücknahme der anderen Bescheide nicht. Der Referenzmengenfeststellungsbescheid gehört zu den erstgenannten Bescheiden. Zwar trifft der Wortlaut des § 48 Abs.2 Satz 1 VwVfG auf ihn nicht voll zu, da er keine Voraussetzung für eine Geldleistung oder teilbare Sachleistung bildet. Er ist aber Voraussetzung für eine --einer Geldleistung im Ergebnis entsprechenden-- Leistung der öffentlichen Hand, nämlich für deren Verzicht auf die Milchabgabe für die Milchproduktion im Rahmen der Referenzmenge. Nach Sinn und Zweck der Verweisungsvorschrift des § 10 Abs.1 Satz 1 MOG 1986 sollen Verwaltungsakte wie ein Referenzmengenfeststellungsbescheid nur zurückgenommen werden können, wenn nicht ein vorrangiges schützenswertes Vertrauen des Beteiligten entgegensteht. Das erfordert die Anwendung des § 48 Abs.2 und nicht Abs.3 VwVfG auf die Rücknahme von Referenzmengenfeststellungsbescheiden. Außerdem hat die Behörde die Jahresfrist des § 48 Abs.4 VwVfG einzuhalten.
4. Das FG hat diese Rechtslage verkannt. Die Vorentscheidung ist daher aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif, da es an ausreichenden Feststellungen des FG zu der Frage fehlt, ob die Voraussetzungen des § 48 Abs.2 VwVfG für die Rücknahme erfüllt sind. Zwar hat sich das FG zur Frage des Vertrauensschutzes des Klägers geäußert und sie verneint. Es ist aber nicht auszuschließen, daß diese Beurteilung von dem anderen rechtlichen Ausgangspunkt des FG beeinflußt worden ist. Die Sache ist daher an das FG zurückzuverweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 63058 |
BFHE 162, 156 |
BFHE 1991, 156 |
BB 1991, 336 (T) |
HFR 1991, 295 (LT) |
StE 1991, 62 (K) |