Leitsatz
1. Ab dem Veranlagungszeitraum 2004 ist bei der Prüfung der Frage, ob der Abzug der Kinderfreibeträge für den Steuerpflichtigen vorteilhafter ist als das Kindergeld, nicht auf das (tatsächlich) gezahlte Kindergeld, sondern auf den Anspruch auf Kindergeld abzustellen. Das gilt auch dann, wenn ein Kindergeldantrag trotz des materiell-rechtlichen Bestehens des Anspruchs bestandskräftig abgelehnt worden ist.
2. Ein Kindergeld-Ablehnungsbescheid entfaltet für das Besteuerungsverfahren keine Tatbestandswirkung.
Normenkette
§ 31, § 32 EStG 2004, § 36 Abs. 2 Satz 1 EStG 2003, § 21 Abs. 4 FVG
Sachverhalt
Die Kläger sind Eheleute, die für das Jahr 2004 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Die Klägerin beantragte im September 2004 für die drei gemeinsamen Kinder Kindergeld. Der Kläger hat außerdem aus erster Ehe zwei weitere Kinder, die in Finnland bei ihrer Mutter leben, die für sie Kindergeld nach finnischem Recht bezog. Die Familienkasse lehnte den Kindergeldantrag im April 2005 bestandskräftig ab, weil die Klägerin ihr gestellte Fragen nicht beantwortete.
Im Einkommensteuerbescheid 2004 vom 12.12.2007 gewährte das FA keine Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG, da sich bei der Vergleichsrechnung nach § 31 EStG ergeben habe, dass das Kindergeld, auf das Anspruch bestanden habe, den Steuervorteil übersteige, der bei Ansatz der Freibeträge einträte. Der Bescheid stand unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Die Kläger beantragten 2008, den Einkommensteuerbescheid 2004 zu ändern und die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG anzusetzen, und zwar ohne Hinzurechnung des nicht ausgezahlten Kindergeldes. Das FA lehnte dies ab.
Im Verlauf des finanzgerichtlichen Verfahrens erließ das FA einen Änderungsbescheid und berücksichtigte für den älteren der beiden in Finnland lebenden Söhne des Klägers die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG.
Das FG Baden-Württemberg (Urteil vom 5.11.2009, 4 K 4733/08, Haufe-Index 2277554, EFG 2010, 501) wies die Klage ab, die sich nunmehr gegen den Änderungsbescheid richtete und mit welcher die Kläger die Berücksichtigung von Freibeträgen für fünf Kinder begehrten.
Entscheidung
Der BFH wies die Revision der Kläger als unbegründet zurück, weil die Ansprüche auf Kindergeld nach deutschem und finnischem Recht für die jüngeren Kinder günstiger als die Freibeträge waren.
Hinweis
1. Wenn die gebotene steuerliche Freistellung des Existenzminimums des Kindes durch das Kindergeld nicht in vollem Umfang bewirkt wird, sind die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG abzuziehen. In diesem Fall war bis 2003 das gezahlte Kindergeld der tariflichen Einkommensteuer hinzuzurechnen. Ab 2004 ist die tarifliche Einkommensteuer stattdessen um den Anspruch auf Kindergeld zu erhöhen. Der Gesetzgeber wollte damit Änderungen der Steuerfestsetzung aufgrund einer nachträglichen Gewährung von Kindergeld vermeiden.
2. Da es sich bei der Einkommensteuerveranlagung und der Kindergeldfestsetzung um selbstständige Verfahren handelt, kann die Frage, ob ein Kindergeldanspruch besteht, von FA und Familienkasse unterschiedlich entschieden werden. Eine Bindungswirkung zwischen beiden Entscheidungen besteht nicht.
3. Die Verfahrensvereinfachung für die Verwaltung wird durch Nachteile für die Eltern erkauft:
- Gut verdienende Eltern, bei denen der Abzug der Freibeträge günstiger ist als das Kindergeld, müssen gegen ablehnende Kindergeldbescheide vorgehen, damit das nicht ausgezahlte Kindergeld nicht der Einkommensteuer hinzugerechnet wird.
- Bei der Kindergeldfestsetzung nicht berücksichtigte Gesetzes- oder Rechtsprechungsänderungen zugunsten der Eltern (in der Vergangenheit z.B. der Abzug der Sozialversicherungsbeiträge bei der Grenzbetragsberechnung, die Kindergeldberechtigung nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer oder die Berücksichtigung vollzeitbeschäftigter Kinder mit Einkünften unter dem Grenzbetrag) wirken sich auch bei einer späteren (oder z.B. wegen § 164 AO änderbaren) Einkommensteuerveranlagung nicht aus, weil bei der Günstigerprüfung der nicht realisierte Kindergeldanspruch angesetzt und im Falle der Freibetragsgewährung die tarifliche Einkommensteuer um nicht festgesetztes Kindergeld erhöht wird.
- Im Veranlagungsverfahren kann das FA den Standpunkt vertreten, das Kindergeld sei zu Unrecht versagt worden. Die Eltern könnten demgegenüber vortragen, die Einkommensteuer dürfe nicht um das ihnen gewährte Kindergeld erhöht werden, weil die Gewährung rechtswidrig gewesen sei. Dabei ist zu bedenken, dass es im Kindergeldrecht zahlreiche tatsächliche oder rechtliche "Grauzonen" gibt, in denen verschiedene Rechtsanwender unterschiedlich entscheiden können (z.B. hinsichtlich des Ausbildungscharakters bestimmter Zeiträume – Zeitaufwand für den Sprachunterricht eines Au-pairs – oder des inländischen Wohnsitzes – Beibehaltung während einer Ausbildung im Ausland –).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 15.3.2012, III R 82/09