Entscheidungsstichwort (Thema)
Gestaltungsmissbrauch, gesamtschuldnerische Haftung
Leitsatz (amtlich)
1. Artikel 21 Absatz 3 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in ihrer durch die Richtlinien 2000/65/EG des Rates vom 17. Oktober 2000 und 2001/115/EG des Rates vom 20. Dezember 2001 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er einen Mitgliedstaat ermächtigt, eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende zu erlassen, wonach ein Steuerpflichtiger, an den eine Lieferung von Gegenständen oder eine Dienstleistung bewirkt worden ist und der wusste oder für den hinreichende Verdachtsgründe dafür bestanden, dass die aufgrund dieser oder einer früheren oder späteren Lieferung oder Dienstleistung fällige Mehrwertsteuer ganz oder teilweise unbezahlt bleiben würde, gesamtschuldnerisch mit dem Steuerschuldner auf Zahlung dieser Steuer in Anspruch genommen werden kann. Eine solche Regelung muss jedoch den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung sind und zu denen u. a. die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit gehören, genügen.
2. Artikel 22 Absatz 8 der Sechsten Richtlinie 77/388 in ihrer durch die Richtlinien 2000/65 und 2001/115 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er einem Mitgliedstaat nicht erlaubt, eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende zu erlassen, wonach ein Steuerpflichtiger, an den eine Lieferung von Gegenständen oder eine Dienstleistung bewirkt worden ist und der wusste oder für den hinreichende Verdachtsgründe dafür bestanden, dass die aufgrund dieser oder einer früheren oder späteren Lieferung oder Dienstleistung fällige Mehrwertsteuer ganz oder teilweise unbezahlt bleiben würde, gesamtschuldnerisch mit dem Steuerschuldner auf Zahlung der Steuer in Anspruch genommen werden kann, und/oder eine Regelung zu erlassen, wonach von einem Steuerpflichtigen eine Sicherheitsleistung für die Zahlung der Mehrwertsteuer verlangt werden kann, die von demjenigen Steuerpflichtigen, von dem oder an den die betreffenden Gegenstände oder Dienstleistungen geliefert oder erbracht werden, geschuldet wird.
Dagegen steht diese Bestimmung nicht einer nationalen Regelung entgegen, die jede Person, die gemäß einer auf der Grundlage von Artikel 21 Absatz 3 der Sechsten Richtlinie 77/388 erlassenen Maßnahme die Mehrwertsteuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat, dazu verpflichtet, eine Sicherheit für die Zahlung der geschuldeten Mehrwertsteuer zu leisten.
Normenkette
EWGRL 388/77 Art. 21 Abs. 3, Art. 22 Abs. 8
Beteiligte
Federation of Technological Industries u.a |
Commissioners of Customs & Excise |
Federation of Technological Industries u. a |
Verfahrensgang
Court of Appeal of England and Wales (Großbritannien) (Urteil vom 30.07.2004) |
Tatbestand
„Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie ‐ Artikel 21 Absatz 3 und Artikel 22 Absatz 8 ‐ Nationale Maßnahmen zur Bekämpfung von Steuerhinterziehungen ‐ Gesamtschuldnerische Haftung für die Zahlung der Mehrwertsteuer ‐ Sicherheitsleistung für die von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer geschuldete Mehrwertsteuer“
In der Rechtssache C-384/04
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht vom Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 30. Juli 2004, beim Gerichtshof eingegangen am 4. September 2004, in dem Verfahren
Commissioners of Customs & Excise und
Attorney General
gegen
Federation of Technological Industries u. a.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Rosas sowie der Richter J.-P. Puissochet, S. von Bahr (Berichterstatter), U. Lõhmus und A. Ó Caoimh,
Generalanwalt: M. Poiares Maduro,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Oktober 2005,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Federation of Technological Industries u. a., vertreten durch A. Young, Barrister, und D. Waelbroeck, avocat,
‐ der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch C. Jackson als Bevollmächtigte im Beistand von J. Peacock, QC, und T. Ward, Barrister,
‐ der deutschen Regierung, vertreten durch C. Schulze-Bahr als Bevollmächtigte,
‐ Irlands, vertreten durch D. J. O’Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von G. Clohessy, SC, und B. Conway, Barrister-at-law,
‐ der zypriotischen Regierung, vertreten durch N. Charalampidou als Bevollmächtigte,
‐ der niederländischen Regierung, vertreten durch H. G. Sevenster und C. A. H. M. ten Dam als Bevollmächtigte,
‐ der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. I. Fernandes als Bevollmächtigten,
‐ der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch R. Lyal als Bevollmächtigten,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. Dezember 2005
folgendes
Urteil
1
Da...